Die Insulanerin

Von Ivo Bozic

Mit Brigitte Mira stirbt auch ein Stück vom alten West-Berlin. Ein Nachruf von ivo bozic

Die gute Nachricht vorweg: Harald Juhnke lebt! Aber er ist nun auch so langsam der letzte. Tot sind hingegen: Günther Pfitzmann, Wolfgang Gruner, Evelyn Künneke, Helen Vita – und nun auch Brigitte Mira. Letztgenannte hatte schon befürchtet: »Jetzt sterben alle Freunde um mich herum, und ich alte Kuh bin immer noch da.« Beachtliche 94 Jahre alt war die Mira, als sie in der vergangenen Woche starb, und so langsam macht man sich ernsthafte Sorgen um Harald Juhnke. Denn wenn jetzt noch der olle Juhnke abtritt, dann ist das alte West-Berlin wohl endgültig Geschichte.

Das alte West-Berlin? Ja, genau. Jenes Berlin, welches Zille und Bolle in die Neuzeit herübergerettet hat. Wir sprechen hier von der B.Z., Kindl, vom Kranzler, vom Kudamm. Und davon: »Gar furchtbar schimpft der Opapa – Die Oma hat kein Paech-Brot da.« Oder besonders typisch: die Einfahrt mit dem Auto nach Berlin über die Avus. Wenn es am Ende in eine viel zu enge Kurve geht, nicht weit vom Funkturm, unter einer urtümlichen Schultheiss-Reklame. Darüber befindet sich das Internationale Kongresscenter ICC: futuristisch, sagen die Leute oft. In der Tat. So futuristisch wie eine alte Raumschiff-Enterprise-Folge. So modern, wie das Nachkriegsberlin sich gerne gesehen hat: der »Wasserklops« am »Breiti«, das Europa-Center, das Forum Steglitz, der Bierpinsel. Ja, vor allem der Bierpinsel! An diesem Bauwerk zeigt sich, wie dieser Berliner Nachkriegsstil funktionierte: modern, knatschbunt, aufdringlich – kompatibel gemacht mit Schultheiss-Bier, Currywurst und Laubenpieper-Piefigkeit.

Und da irrt sich der Jörg Schönbohm auch, wenn er der Mira nachruft, sie gehöre zu dieser Stadt »wie der Funkturm oder der Alexanderplatz«. Das stimmt eben nicht. Wie der Funkturm ja, wie der Alex nein. Denn der Alex hat sein heutiges Gesicht komplett dem Realsozialismus zu verdanken. Rund um den Alex weht ein anderer Wind: eher Belgrad oder vielleicht Warschau. Auch hübsch, aber eben nicht so ganz der Ort, wo der Berliner Taxifahrer mit seiner Stulle Mittagspause macht. Der Alex ist eben nicht Fassbrause am Wannsee und auch nicht Berliner Weiße mit Schuss. Aber die Mira! Die war das alles. Darum fand der Trauergottesdienst auch in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Kudamm statt. Wo sonst?

Westdeutsche Schwaben oder Rheinländer oder Friesen, die noch nie in Berlin waren, und vor allem nie vor dem Mauerfall, die verstehen jetzt vermutlich nur Bahnhof. Wie sollen sie etwas vom alten West-Berlin verstehen, wenn sie nicht einmal Berlin an sich kapieren? Vielleicht so: Am Niederrhein sagt man zu einem Butterbrot »Bütterchen«. In Berlin »Stulle«. Das sagt eigentlich alles. Alles über das tuntig-katholische Rheinland und alles über das preußisch-protestantische Berlin. Können Sie sich Juhnke mit einem »Bütterchen« vorstellen? Eben.

Dabei war die Mira gar keine gebürtige Berlinerin. Sie wurde 1910 in Hamburg geboren. 1910! Und sie wuchs in Düsseldorf auf. Düsseldorf! Wohl nur deshalb hat sie sich neben dem dummderben Berliner »Herz mit Schnauze« (also vom Herz ohne Umwege über die Hirnwindungen direkt auf die Zunge) immer einen gewissen rheinischen Fatalismus bewahrt, oder sagen wir: eine selbstironische Gelassenheit.

Die Mira, oder, wie der Berliner sagt – und das klingt furchtbar obszön und anbiedernd –, »unsere Biggi«, das war nicht nur die »Dame vom Grill«. Die Mira, die doch scheinbar so fest in dieser Westberliner Schublade steckte, war trotz allem eine gute, vielseitige und unberechenbare Schauspielerin. Mit 19 begann ihre Karriere in Köln als Esmeralda in »Die verkaufte Braut«. In den nächsten Jahren bespielte und betanzte sie Bühnen im ganzen Land. 1941 landete sie in Berlin, im Theater am Schiffbauerdamm. Alle ihre Rollen aufzuzählen, die sie seitdem spielte, wäre vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit, doch dass sie auch als Kabarettistin glänzte, muss erwähnt werden. In Günter Neumanns Kabarett-Truppe »Die Insulaner« hatte sie ihren Anteil an der Identitätsbildung des alten, eingemauerten, am Tropf der BRD hängenden, kleinen, des alten West-Berlin eben. Der Rias, der Rundfunk im Amerikanischen Sektor, auf dessen Welle die Sendung lief, auch er gehörte zu diesem Ensemble. 1997 startete Brigitte Mira mit Evelyn Künneke und Helen Vita zusammen noch einmal ein Kabarett-Bühnenprogramm: »Drei alte Schachteln«.

»Volksschauspielerin«, diesen grausamen Stempel will man der Mira auch posthum noch aufdrücken. Sie hat ihn ebenso wenig verdient wie Inge Meysel, Gott hab’ sie selig. Volksschauspieler? Willy Millowitsch vielleicht, oder Heidi Kabel. Aber keinesfalls die Mira. Am Bochumer Schauspielhaus wirkte sie unter Peter Zadek. 1974 spielte sie die Hauptrolle in Rainer Werner Fassbinders »Angst essen Seele auf«. Mit ihm arbeitete sie bis zu seinem Tod zusammen, vor der Kamera ebenso wie auf der Bühne.

Das hielt sie nicht davon ab, in trashigen Fernsehserien wie »Drei Damen vom Grill« mitzuwirken oder seit 1990 jährlich vor dem Berliner Dom beim jämmerlichen »Jedermann«-Spektakel die Mutter zu geben. In den meisten Nachrufen wird Brigitte Mira als »Soubrette« gefeiert. Wer wie der Autor nicht weiß, was das ist, soll nicht danach googeln! Den Sexspam wird man so schnell nicht wieder los. Es ist wohl so etwas wie eine Operettensängerin, oder sagen wir: Easylistening für die feine Gesellschaft. Aber das musste der Mira nicht peinlich sein. Wenn man 75 Jahre lang Erfolge auf der Bühne feiert, dann darf man alles. An einem solch mächtigen Baum braucht kein Kritikerhündchen sein Bein heben. Es wäre vergebens. Wer fünf Ehemänner überlebt hat, einen Kaiser abdanken, die russische Revolution siegen und scheitern, ein tausendjähriges Reich kommen und gehen sah, wer sich in West-Berlin hat einmauern lassen und die Mauern wieder hat fallen sehen, was soll den noch jucken?

Einmal allerdings, einmal wäre Brigitte Mira doch fast eine Volksschauspielerin geworden. Das war 1943. Ihr Filmdebüt war die Rolle der »Miese« in der NS-Propaganda-Serie »Liese und Miese«. Vier Minuten kurz waren die Einspieler, die vor oder nach der Wochenschau im Kino gezeigt wurden. Mira in der Rolle der Miese meckerte darin über den Krieg, die Luftschutzwarte und so weiter, um damit der Liese Gelegenheit zu geben, das alles in schönstem Propagandasprech gerade zu biegen. Angeblich soll jedoch die Mira ihre Rolle der Miesmacherin so überzeugend gespielt haben, dass bei ihren Auftritten Applaus im Kino aufkam, so dass die Serie schnell wieder abgesetzt wurde.

Man kann der Mira Blauäugigkeit oder Naivität vorwerfen, zumal sie auch später noch das Engagement als subversiven Akt rechtfertigte. Aber das tat auch Erich Kästner, als er das Drehbuch für den von Goebbels initiierten Münchhausen-Film schrieb. Ebenso wenig wie Kästner ist der Mira aber Kollaboration vorzuwerfen. Dazu kommt, dass sie ihren mit falschen Papieren in Berlin lebenden jüdischen Vater schützen musste. »Das Leben ist kein Film, den man später im Schneideraum neu montieren, verbessern und damit retten kann«, schrieb sie in ihren Memoiren. Und da ist verdammt viel Wahrheit dran.

Das alte »Ick-koof-bei-Lehmann«-West-Berlin hat jedenfalls jetzt nur noch den ollen Juhnke. Irgendwo abgestellt in einem Berliner Irrenhaus. Juhnke sang einst: »Was ich im Leben tat, das war bestimmt nicht immer richtig. Ich nahm, was ich bekam, und nahm manches nicht so wichtig. Wenn ich auch ganz gewiss mich nicht von Schuld und Schwächen frei seh’, verzeihen Sie, wenn ich sag’: I did it my Way!« Dies könnte man auch der Mira auf den Grabstein schreiben. Und dem Architekten des Bierpinsels auch.