Angriff des Ayatollahs

Zum zweiten Mal versucht Jürgen Rüttgers (CDU), die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen. Ein Porträt von thomas blum

Es gibt ein kleines, hässliches, bevölkerungsreiches Land, in dem kein Mensch freiwillig leben will. Über eine Million Arbeitslose hat es, eine hohe Analphabetenrate, knüppeldickes Elend und schlechtes Wetter. Ganze Gegenden dort können als verwahrlost gelten. Seit beinahe 40 Jahren wird die »tiefrote« (FAZ) Armutsregion unnachgiebig von derselben bizarren Partei regiert, einer ebenso strukturkonservativen wie überwiegend heidnischen Politsekte.

Nein, nicht von Nordkorea ist hier die Rede, sondern einem anderen, jedoch nicht weniger sonderbaren Kleinstaat: von Nordrhein-Westfalen, wo am 22. Mai so genannte Landtagswahlen veranstaltet werden, ein alle vier Jahre abgehaltenes sinnloses Ritual, bei dem die Bevölkerung dazu aufgerufen ist, bei Versammlungen dem »Landesvater« Peer Steinbrück (SPD) zu huldigen und ihn hernach per Stimmabgabe im Amt zu bestätigen.

Wie in anderen obskuren Kleinstaaten auch ist zwar das Angebot der anderen zur Wahl stehenden Parteien beinahe unüberschaubar (CDU, FDP, PDS, WASG, Die Partei). Doch eine wirkliche Chance, das traditionelle Regime der SPD (Motto: »Menschlich bleiben«) zu beenden, die sich dort unter Beihilfe einer abgehalfterten Clique mit dem Namen »Die Grünen« wie Stahlbeton auf der Regierungsbank hat festzementieren lassen, hat nur die CDU, die Partei der Religiösen, die sich dort seit nunmehr 39 Jahren im Widerstand befindet.

Ihr Kandidat für das Amt des Herrschers heißt Jürgen Rüttgers, und neulich blies er schon mal zum »Heiligen Krieg«, wie es die Grünen bezeichneten. Zum Katholizismus, dem Aberglauben, dem er anhängt, und dessen Menschenbild, das nach seiner Überzeugung »das richtige ist und nicht vergleichbar mit anderen«, sagte er: »Ich glaube, dass es das Richtige ist, wenn Sie wollen, auch ›überlegen‹.«

Schon im vergangenen Herbst fragte die Religionsillustrierte Stern bezüglich der nun bevorstehenden Landtagswahl, ob er, Jürgen Rüttgers, bald »auf ins Paradies der Macht« fahre, »in diesen grell gleißenden Himmel der CDU-Gottheiten? Oder steigt er ab in die verschwefelte Verdammnis der ewigen Versager?« Man weiß es nicht, sein Schicksal liegt in Gottes Hand.

Einige Dinge jedoch weiß man über den tapferen Glaubenskrieger. Im Jahr 1980 wurde er Vorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalens. 1987 wurde er Mitglied des Bundestages, Schützling des Stahlhelmchristen Alfred Dregger, »politischer Einpeitscher« (Der Spiegel) und Gefolgsmann Helmut Kohls. Von 1994 bis 1998, in den letzten Jahren des Regimes des großen Vorsitzenden Kohl, bekleidete er unauffällig das illustre Amt des »Zukunftsministers«, von dem kein Mensch wusste, wozu es da war.

Nachdem Helmut Kohl die Regierungsmacht von den bolschewistischen Horden entrissen worden war, wurde der »ewige Lückenfüller« (Freitag) Jürgen Rüttgers 1999 Landesvorsitzender seiner Partei in Nordrhein-Westfalen, wo er nun zum zweiten Mal den Versuch unternimmt, »endlich Kalif anstelle des Kalifen zu werden«, wie unter der Bevölkerung geraunt wird.

Seinen Tagesablauf als künftiger Regent probt er schon heute. Um 8 Uhr morgens sitzt er bereits in seinem Büro im Landtag und fühlt sich ratzewohl: »Man hat einen tollen Ausblick auf den Rhein und die vorbeifahrenden Schiffe.« Um 8 Uhr 30 weiß er: »Die SPD kann eben nicht mit Geld umgehen.« Am späten Vormittag macht es ihm schon gewaltig »Spaß, so eine große Fraktion zu leiten. Die Fraktion ist sehr fleißig.« Am Nachmittag kommt er dann obligatorisch »Bitten nach einem Autogramm« nach, woraufhin »bei Kaffee und Tee« schließlich das »Gruppenfoto für die örtliche Presse« ansteht. Auch der Abend wird anstrengend: »600 Menschen kommen zusammen«, um »mich zu befragen. Die Zuschauer sind sehr aufmerksam und freuen sich, mich – und vor allem meine Frau – einmal privat kennen zu lernen.« Nachts steht fest: »Ich bin mit dem Ergebnis zufrieden. Ich habe viel Zustimmung für unsere Politik bekommen« usw. usf.

Der eher traditionschristlich orientierten, fremdenkritischen Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft (»Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?«) seines Glaubensbruders Roland Koch (CDU), deren Text er mitformulierte, setzte er vor vier Jahren, als er zum ersten Mal für das Amt des Ministerpräsidenten kandidierte und Einlass ins grell gleißende Paradies der Macht begehrte, einen rundum gelungenen hindukritischen Patriotismus entgegen (»Kinder statt Inder«). Später bewies er seine sprachliche Feinfühligkeit, als er die vermeintliche Entstellung seiner Äußerungen durch die Medien beklagte und so richtig stellte: »Wörtlich weiß ich das nicht mehr, aber sinngemäß habe ich gesagt: Wir sollten lieber Kinder an die Computer holen, statt Inder an die Computer zu holen.« Das ist natürlich etwas anderes.

Wie weit die Kultur in Deutschland reicht, weiß der knochenharte Christ auch ganz genau: »Wenn ein Ausländer seine Zweitfrau auch noch kostenlos krankenversichern will, da sagen wir nein, so weit geht Kultur nicht.« Für Zweit- bzw. Drittfrauen wird es also künftig neue Regelungen geben.

In den eigenen Reihen galt er bisher als Intrigant und »auch bei manchen, die nun für ihn kämpfen«, lange Zeit als wankelmütig, »wachsweich« (FAZ), »profillos«, »langweilig«, »geistig stillgelegt« (Freitag), als jemand, der »für heute hier, morgen da« (FAZ) steht. Ein eigener Charakter sei an dem Mann mit dem »langsamen Denken« und der »tiefen Hierarchiegläubigkeit« nur schwer auszumachen. »Seine Stärke liegt nicht im Charisma, eher darin, dass er keines hat.« (Freitag) Der Vorsitzende der SPD, Franz Müntefering, der als unnachgiebiger Mann der harten Hand bekannt ist, nennt ihn ein »Weichei«.

Doch zur radikalreformerischen Politik, die der bartlose »Ayatollah vom Rhein«, wie Jürgen Rüttgers bisweilen hinter vorgehaltener Hand liebevoll genannt wird, nach einem Regime Change in Nordrhein-Westfalen zu machen gedenkt, bekennt sich der promovierte Rechtsgelehrte aufrichtig, in der Tradition aller religiösen Führer. Dass er ein Märchenland verspräche, kann man ihm nicht vorwerfen. Überträgt man ihm die Macht, muss damit gerechnet werden, dass, wie im Nachbarland Hessen, eine Ära des Fleißes, des Verzichts und der Demut vor Gott anbricht.

So kündigt er etwa im Falle seines Wahlsiegs »einen rigideren Reformkurs als Rot-Grün« (Generalanzeiger Bonn) und »den Gewerkschaften schwere Zeiten« an (Welt am Sonntag). Alle sollen künftig mehr arbeiten, und zwar »für dasselbe Geld. Noch nie hat das Volk seine Probleme dadurch gelöst, dass es weniger gearbeitet hat.« Anders gesagt: »Das wird Opfer kosten, jeder wird es merken.« Außerdem verlangt er »mehr Polizeibeamte auf der Straße statt hinter dem Schreibtisch«, »Null-Toleranz-Politik« und alles, was da noch so dazugehört. Ja, zweifelsohne kann Jürgen Rüttgers »ganz wunderbar Rasen mähen« (Die Welt).

Dass er nicht nur Gott und die Welt hinter sich hat, sondern auch die Gunst anderer, gibt ihm zusätzlich Kraft: »62 Prozent der Manager wollen mich als Ministerpräsident.« Und alle, die sich nicht sicher sind, was das zu bedeuten hat, müssen sich im Zweifelsfall gedulden bis nach der Wahl: »Warten Sie mal ab. Wir sagen schon noch rechtzeitig, wie es weitergeht.«