Jenseits von Europa

In der Geschichtsschreibung und auf den Gedenkfeiern des Westens werden die Opfer der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg unterschlagen. von jessica zeller

Im Gedenken an den 8. Mai wird regelmäßig vergessen, dass die Befreiung der Welt vom deutschen und italienischen Faschismus und dem japanischen Großmachtwahn nicht nur den alliierten Siegermächten zu verdanken ist. Denn auch die kolonialisierten Länder Afrikas, Asiens und Ozeaniens – seit der Zeit des Kalten Krieges unter dem Überbegriff »Dritte Welt« verallgemeinernd zusammengefasst – stellten Millionen von Soldaten sowie (Zwangs-)arbeiter für die alliierten Streitkräfte, und auch sie mussten ihre Ökonomie auf »Kriegswirtschaft« umstellen. Ihre Länder wurden ebenso zu Kriegsschauplätzen wie die Hauptstädte Europas, und ihre Bevölkerung wurde unter den deutschen, italienischen und japanischen Besatzungsregimen unterdrückt, versklavt und zum Opfer von Kriegsverbrechen. Die Verdienste dieser Länder bei der Befreiung von Nationalsozialismus und Faschismus wurden nicht gewürdigt, ihre Millionen Kriegstoten und die schweren Kriegsschäden, die zurückblieben, vergessen, verschwiegen und verdrängt.

Wie gegenwärtig ist die Diskussion darüber, dass der Krieg in Afrika bereits 1937 mit dem Überfall Italiens auf Äthopien begann und mit dem französischen Massaker in Algerien am 8. Mai 1945 keineswegs endete? Wie bekannt ist der japanische Feldzug gegen China und das Leid der ozeanischen Bevölkerung, deren Inseln nach dem Angriff auf Pearl Habour zum Schauplatz der militärischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Japan im Pazifik wurden? Wer erinnert heute an die Pläne der Nazis zur »Endlösung« des jüdischen Ghettos von Shanghai und an den antifaschistischen Widerstand der philippinischen Guerilla?

Während nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien seit den siebziger Jahren eine zaghafte Auseinandersetzung mit der Thematik durch Zeitzeugen stattgefunden hat und auch die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien sich nicht mehr in völlige Ignoranz flüchten, dominiert in Deutschland bislang ein Diskurs, der den Zweiten Weltkrieg nahezu ausschließlich in Europa verortet. Gerade zum 60. Jahrestag der Befreiung konzentrierte sich die Auseinandersetzung vor allem in den Medien auf die Beschäftigung mit einem angeblichen Tabuthema: den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die deutsche Bevölkerung. Dass zum selben Zeitpunkt hierzulande ein Buch erscheint, das unter dem Titel »Unsere Opfer zählen nicht – die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« ein bislang höchstens in Einzelaspekten gewürdigtes Thema aufarbeitet und sowohl wissenschaftlichen wie auch publizistischen Ansprüchen gerecht wird, lässt einen zumindest hoffen, dass noch nicht alle Kämpfe auf dem Feld kritischer Auseinandersetzung verloren sind.

Auf mehr als 400 Seiten werden detailliert Fotos, empirisches Material und Zusammenhänge der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in Afrika, Asien, Ozeanien, dem Nahen Osten und Lateinamerika zusammengestellt. Langjährige Recherchen und Fachkenntnis tragen dazu bei, dass die Problematik reflektiert und mit zahlreichen Hintergrundinformationen, die die Zeit vor und nach dem Krieg einschließen, behandelt wird. Eine besondere Qualität bekommt das Buch insbesondere dadurch, dass die AutorInnen ihren Schwerpunkt auf die Auswertung von Interviews und Zeugnissen von AugenzeugInnen und WissenschaftlerInnen aus den beteiligten Ländern legen und somit dem Anspruch einer Geschichtsschreibung »von unten« aus der Perspektive der Kolonialisierten selbst genügen.

»Wir wurden empfangen von Wilden, die aus Leibeskräften brüllten: ›Leesse‹ (Los!) ›Raousse, raousse!‹ (Raus! Raus!). Verdreckt und mit Blättern und Zweigen auf den Helmen krochen sie unter ihren Tarnnetzen hervor. Da wusste ich: Das müssen die Hitlerianer sein.« In seiner Beschreibung der deutschen Gefangenschaft spart der aus dem westafrikanischen Obervolta (heute Burkina Faso) stammende Edouard Kouka Ouédraogo nicht an Sarkasmus: Die Schwarzen, das wusste er bereits aus der Lektüre von »Mein Kampf«, waren für die Deutschen nichts Besseres als Affen. »Wir mussten arbeiten, Kanäle ausheben, und wenn wir danach erschöpft und hungrig ins Lager zurückkehrten, mussten wir für die Deutschen tanzen.« Als Ouédraogo 1942 aus der Gefangenschaft fliehen konnte, schloss er sich der Résistance an und gehörte 1945 zu den Befreiern von Paris. Einer von wenigen Schwarzen, denn General Charles de Gaulle hatte die »Tirailleurs«, die Soldaten der französischen Kolonien, zuvor durch weiße Militärs ersetzt. Nach dem Krieg erhielt Ouédraogo lediglich eine geringfügige Rente, viele seiner Kameraden bekamen gar nichts. »Aber im Krieg machten die Kugeln des Feindes keinen Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen. Alle starben denselben Tod. Nur zählt das alles heute nicht mehr«, meint der Kriegsveteran Issa Ougoiba aus Mali.

»Es wäre besser gewesen, unterwegs zu sterben, als hier anzukommen und hier arbeiten zu müssen.« Mit diesen Worten begrüßten koreanische Frauen, die schon länger in einem japanischen Lager lebten, die Neuankömmlinge, unter ihnen die 19jährige Kum-Ju Hwang. In Zukunft sollte sie das Schicksal von etwa 200 000 Mädchen und Frauen teilen, die die kaiserlich-japanische Armee zwischen 1932 und 1945 in ihre Militärbordelle verschleppte. Die »bereitwilligen Dienerinnen des Kaisers« wurden dort Tag für Tag von bis zu 40 Männern vergewaltigt. In den neunziger Jahren hat Hwang gemeinsam mit anderen Frauen ihr Schweigen gebrochen; sie demonstriert jeden Mittwoch vor der japanischen Botschaft in Seoul für eine Entschädigung oder zumindest eine offizielle Entschuldigung der japanischen Regierung. Bislang ohne Erfolg: »Sie warten einfach drauf, dass Frauen wie ich sterben.«

Es sind Beschreibungen, Äußerungen und Lebensgeschichten wie die von Ouédraogo, Ougoiba und Hwang, durch die das Buch einen seltenen Einblick in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht derjenigen Betroffenen ermöglicht, die bisher nicht gehört wurden, und die beteiligten Menschen werden nicht auf einen abstrakten Opferstatus reduziert. Dass das Buch eine Überfülle an Material aufbietet und die Lektüre über weite Strecken schwer erträglich ist, liegt in dem Geschehen selbst begründet. Dass Tatsachen und die Schicksale von Millionen von Menschen in den verschiedenen Ländern jener Zeit jedoch endlich Einzug in die globale Geschichtsschreibung halten, ist auch im Jahr 2005 keineswegs eine Selbstverständlichkeit: »Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs erweist sich, wie jede Geschichte, als die der Sieger, aber auch als die der Besitzenden und Wohlhabenden. Deutschland und Japan gehören trotz ihrer militärischen Niederlage in der Geschichtsschreibung zu den Siegern«, so der Wissenschaftler Kum’a Ndumbe III. aus Kamerun im Vorwort des Buches.