Wovon träumt der Pandabär?

Die Welt in Farbe und Schwarzweiß auf den Kurzfilmtagen in Oberhausen. von julian weber

Nicht-Orte, Städte, Stätten. Und das Dazwischen: Überfahrten. Abschiede, Ankünfte. Transporte. Rites du Passage. Szenen aus dem Alltag oder doch nicht. Oberhausen hat ja so eine ganz spezielle Qualität: Die Bushaltestelle »Neue Mitte« zum Beispiel ist in der Mitte von Nirgendwo, hier steht ein Einkaufstempel. Grauen, so weit das Auge reicht. Ungewöhnlichere Ansichten aus dem Internationalen Wettbewerb. Quasi zur Einstimmung ist für wenige Minuten einmal alles im Blick. The Big Picture. Das wünscht man sich nicht erst seit den Was-ist-was-Büchern.

»Powers of Ten« arbeitet mit drastischen Maßstabsvergrößerungen und -verkleinerungen. So wird aus einem weltumspannenden Experimentalfilm ein Blick zurück von unendlich. Die Gebrüder Eames (Erfinder, was sonst?) begannen ihr Filmexperiment in den Siebzigern mit dem subatomaren Bilddetail einer Hautoberfläche auf einer Hand. Picknick in Chicago, ein Mann liegt auf einer Decke im Gras am Lake Shore Drive. In Zehner-Schritten zoomt sich die Kamera hoch in die Gestade der Milchstraße (10 hoch 9) und wieder zurück auf das Pigment und rein in den Körper. Eine Retinalmassage, die unter die Haut geht.

Während Chicago nur für Zehntelsekunden aus der Vogelperspektive zu sehen ist, geht es an anderer Stelle ebenerdig rein in die Stadt, und die Filmemacher heften sich sprichwörtlich an die Fersen ihrer Bewohner: »Benhil«, Teil einer größer angelegten Dokumentation der Studiengruppe »Forum Lenteng« über gesellschaftliche Phänomene in Indonesien. Eines ihrer Studienobjekte sind Ojeks. So nennen sich die illegalen Moped-Taxis in Jakarta: weit verbreitet in der indonesischen Hauptstadt, nicht gern gesehen von den Behörden, beliebt in der Bevölkerung. Und die Fahrer stellen ihr Ethos zur Schau, selbstredend. »Die mögen nicht gern, wenn wir nach Schweiß riechen«, sagt ein besonders verschmitzter Chauffeur über seine Fahrgäste. Die Zigarette hängt ihm aus dem Mundwinkel wie einst Brandos Tschik in »The Wild One«. »Am Bauch festhalten gehört sich nicht«, sagt ein anderer. »Und wenn doch?« »Den Moment behält man für sich.« Die Körpersprache der Fahrgäste sagt alles: Sie nehmen seitlich auf dem Sozius Platz, die Füße verschränkt. Hände am Gepäckträger oder auf den Oberschenkeln. Eine komplizierte Skulptur. Auch beim holprigen Anfahren stimmt die Körperhaltung, immer. Und ab geht es ins musikalisch knatternde Verkehrsgewusel.

Wie leergefegt dagegen Kuala Lumpur, nachts. Die Stadt schläft, und die Luft steht. Ein Mann schiebt fluchend sein Mofa und trifft auf ein spindeldürres Mädchen an einer Bushaltestelle. »A Tree in Tanjung Malim« ist ein Märchen aus der Großstadt, erzählt von der jungen malaysischen Regisseurin Tan Chui Mui. Ihre beiden Protagonisten necken sich ein bisschen, flirten, erzählen sich Witze (»Wovon träumt der Panda? Dass er wenigstens einmal eine Farbfotografie von sich sieht«), singen sich in aller Ausführlichkeit Lieder vor, spielen »wann geht das letzte Licht aus, im Mietshaus gegenüber«. Zeit ist hier ein relativer Begriff. Die Bilder hängen der Story ohnehin träge hinterher. »Ich bin zu faul für Close-Ups«, gesteht die Regisseurin hinterher in der Diskussion. »A Tree in Tanjung Malim« ist genießerische Faulheit. Er müsse noch kurz nach oben, ein Buch holen, erklärt der Mann. Die Kamera wartet derweil mit dem Mädchen im Treppenhaus. Sie guckt sich die Aushänge im Treppenhaus halt mal so an. Steht auf, setzt sich wieder hin. Beim Mietshaus-Spiel zieht sie den kürzeren, weil dem Heini natürlich die Wohnung im achten Stockwerk gehört, wo noch Licht brennt. Sauerei!

Dass sich Mythen einer Stadt ins Gegenteil verkehren können, davon berichtet zumindest »O Nome dele (O clóvis)« von Marina Meliande. Eine »kritische Hommage« an ihre Heimatstadt Rio de Janeiro, so leitet die Regisseurin ihren Film ein. Ein Polizist gerät in eine Schießerei. Während sein Kollege im Kugelhagel stirbt, streift ihn »nur« ein Schuss an der Schläfe. Als Clown verkleidet, nimmt er am Karnevalsumzug teil. Nichts mehr in seinem Leben ist am richtigen Platz. Die Fratze hängt schief über dem bandagierten Kopf. Das Kostüm kann die bösen Geister nicht verjagen. Er bleibt traumatisiert. Während sich die Musik um ihn herum ins Delirium steigert, nimmt seine eigene Stimmung bedrohliche Ausmaße an.

Fremd in einer neuen Stadt. Für die Japanerin Tomoko kein Problem. Als sie nach London kommt, kennt sie die Metropole bereits aus Werbebildern und Klischeevorstellungen. In »City Paradise« sind diese ins Groteske verkehrt: riesige Doppeldeckerbusse, der Trafalgar Square als graue und eintönige Masse aus Strichen. Die Stadt als auslaufende Puppentheaterbühne. Arme und Beine der Bewohner sind aus Gummi. Beim Schwimmen in einem Hallenbad rutscht Tomoko aus. Im bewusstlosen Zustand entdeckt sie allerlei (Unterwasser-) Pflanzen der Großstadt. Die französische Regisseurin Gaëlle Denis verknüpft mit »City Paradise« Computer-Animationen mit altmodisch anmutender handgemachter Trickfilmhaftigkeit. Sie montiert Köpfe auf Knetmännchen-Körper, schmeißt niedliche Stimmen in angsteinflößende Stimmungen. Dazu passt die Qietsche-Enten-Stimme der amerikanischen Harfinistin Joana Newsom im Soundtrack. Und plötzlich swingt London wieder.

Gutes London – böses London. »Fisticuffs« ist die minutiöse Choreografie einer Massenschlägerei in einem Pub im Stadtteil Hackney. Social Realism? Jein, hier sitzen und stehen sie, die Charakterfressen, bis zu ihren Socken im Bier und von Rauch umwölkt. Wehe, da ändert sich was. Dann kommt Bruder Ärger und spendet etwas Wildwestatmosphäre. Der Filmtitel sei dem Wörterbuch des Gentleman entnommen, erklärt Regisseurin Miranda Pennell. Zimperlich sind die Kombattanten in ihrem Film aber nicht. Begleitet von einer Squaredance-Gruppe im Nebenzimmer, wird das Mobiliar in der Bierschenke auseinandergenommen. Lakonische Faust- und Nackenhiebe, auf Backen knallende Handtaschen, gegen Wände, Stühle und Tische bollernde Körper und herzerweichende Countrysongs. Ausgezeichnete Haltungsnoten, selbst am Boden liegend, stumpfsinnige Virtuosität.

Zurück ins Inland: Entrückte Wildcat-Choreografie zeigt Till Passow mit seinem Abschlussfilm »Mast Qalandar« (HFF Potsdam) bei der »German Competition«. Ohne Off-Kommentar beobachtet der Regisseur Pilger in Shewan Sharif im Süden Pakistans beim Fest der Vereinigung Mast Qalandars mit Allah. Nur die Gebete sind in Untertiteln übersetzt. Was als freundlich chantende Tour beginnt, endet in Raserei. Die feierliche Atmosphäre kippt. Szenen wie bei Charlie Mansons Family sind zu sehen. Headbangende Frauen, Jünglinge, die sich den Rücken blutig kasteien. Eine Armada ausgeflippter Gläubiger, gepusht von Räucherstäbchen und Harmonium-Klängen. Um den Pfosten einer Lade zu berühren, begeben sich manche auch mit Säuglingen in Lebensgefahr. Andere kommen gleich zum Sterben und lassen sich von ihren Angehörigen auf dem Rücken tragen. Auch wenn die Bilder von einer unglaublichen Intensität sind, hätte es doch eines Kommentars bedurft: Wozu und zu welchem Ende gibt es religiöse Ekstase im Süden Pakistans?

Sonntagmorgen um zehn ist die Welt noch in Ordnung, jedenfalls in Oberhausen. Jedenfalls wenn Peter Hein, der Sänger der Fehlfarben, in der Schlange an der Kinokasse steht. Mürrisch, aber eigenwillig. »Charley’s Girls« wird welturaufgeführt. Charley’s Girls hieß Heins erste Band 1978, zusammen mit Markus Oehlen und Franz Bielmeier: nicht nur ihre erste Band, auch die erste deutsche Punkband überhaupt. Aus der Sicht von Bielmeiers Enkeltochter werden die wichtigsten Fakten aufgezählt. Der »Ratinger Hof« als Nabel der Welt, Künstlernamen (Bielmeier alias Mary Lou Monroe, Hein als Jany J. Jones) als neue Identitäten, Punk, Mod, Ska, Stilwirrwarr und Kurzlebigkeit.

Kurz und trocken ist auch der Film von Astrid Heibach. Es gibt wenig Originalfootage, umso mehr alte Fotos (Posen an der Themse entpuppt sich als Poser-Foto am Rhein). Ein knallig farbiger Popart-Bilderrahmen ist um Slogans wie »Drei Akkorde, bilde eine Band« montiert. Dazwischen kurze, lustige O-Töne von Hein und Bielmeier. Der Film hat mehr geknallt als alle Musikclips, und er gibt zwei Protagonisten etwas Liebenswertes zurück. Das sei schon komisch, entgegnet der Conferencier, Hein und Bielmeier seien doch Nachtmenschen, was machen die denn Sonntagmorgen in Oberhausen? »Wir sind Rund-um-die-Uhr-Menschen«, sagt Peter Hein.