Eine Auseinandersetzung mit ­Rassismus ist nötig

Widerstand organisieren

Kommentar Von Kemal Bozay

Angesichts des öffentlichen Umgangs mit den NSU-Morden ist es an der Zeit, neue Strategien für einen antifaschistischen Widerstand zu entwickeln. Das Tribunal ist eine davon.

Der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) hat als rechtsextremes Terrornetzwerk mindestens zehn feige Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle begangen. Die Kontinuität der rassistischen Gewalt und des rechten Terrors hat tiefe Spuren hinterlassen. Gerade am fünften Jahrestag der Aufdeckung der NSU-Morde zeigt sich neben Wut auch Bestürzung über die Ignoranz, das Scheitern, die Verharmlosung und Vertuschung durch Behörden, Justiz und Staatsapparate. Viele Migrantinnen und Migranten stellen zu Recht im Kontext des NSU-Komplexes die Frage, wo der Widerstand und die Solidarität geblieben sind.

Erste Anzeichen für Widerstand zeigten sich im Mai 2006 in Kassel. Hunderte, größtenteils türkeistämmige Menschen, gingen einige Jahre vor der Enttarnung des NSU unter dem Motto »Kein 10. Opfer« auf die Straße. Sie forderten bereits damals die Bundesregierung zur Aufklärung der rassistischen Mordanschläge auf. Es fehlte aber dauerhafter gesellschaftlicher Druck auf breiter Basis.

Die Enttarnung der NSU-Mordserie hat dann in vielen gesellschaftlichen Gruppen einen Schock ausgelöst – auch unter den heterogenen migrantischen Gruppen. Sie waren bestürzt, schockiert und enttäuscht darüber, dass sie jahrelang wie Täter behandelt wurden. Auch die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan schwieg lange Jahre zur NSU-Mordserie. Sie nutzte die Enttarnung schließlich als außenpolitisches Druckmittel gegen Deutschland. Eine türkische Hörfunkjournalistin aus Köln berichtete damals, dass auch sie von den deutschen Institutionen in die Irre geführt worden war. Viele türkeistämmige Migrantinnen und Migranten glaubten irgendwann selbst an die inszenierte Theorie der kriminellen Milieu-Verflechtungen. »Es wurde eine Ohnmachtsblase konstruiert und wir alle sind reingefallen,« beschrieb es die Journalistin.

Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, antirassistische Initiativen und Migrantenorganisationen fielen in diese »Ohnmachtsblase«. Sie kamen aus der Passivität nicht heraus. Nach der Enttarnung des NSU haben sich vielerorts antirassistische Initiativen gebildet, die noch immer aktiv sind. Doch das NSU-Thema bewegt heute nur noch einen kleinen Teil der Gesellschaft und auch der migrantischen Community.

Das sieht bei Türkei-Themen anders aus. Nach dem versuchten Militärputsch im Juli 2016 verschäfte sich die Propaganda von nationalistischen türkischen Organisationen und AKP-nahen islamischen Verbänden. Diese Polarisierung erreichte im Zuge des Türkei-Referendums einen neuen Höhepunkt. Tausende Türkeistämmige gingen bundesweit auf die Straßen, um die von Erdoğan forcierte Eskalation zu unterstützen. Dieser Nationalismus ist auch eine regressive Reaktion auf Ausgrenzung und Diskriminierung. Er verdrängt jedoch vor allem die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex und den Kampf für soziale und politische Rechte. Fortschrittliche migrantische Organisationen sind schwach und orientieren sich teilweise an politischen Entwicklungen, die mehr mit der jeweiligen Herkunft zu tun haben. Trotzdem sind sie weiterhin aktiver Bestandteil der antirassistischen Bewegung. Sie sind bestrebt, Brücken zu schlagen und gemeinsam Widerstand zu organisieren.

Viele Migrantinnen und Migranten in Deutschland fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, die versprochene »lückenlose Aufklärung« des NSU-Komplexes ernst zu nehmen. Das Tribunal zur kritischen Auseinandersetzung mit den rassistischen und rechtsextremen (Dis-)Kontinuitäten ist daher nötig und sinnvoll. Es ist ein Forum, in dem deutsche und migrantische Gruppen zusammen arbeiten und ein Signal für den gemeinsamen gesellschaftlichen Widerstand setzen können.