Geschützt vom deutschen Staat

Wegen Mordes an 560 Menschen hat ein italienisches Gericht zehn ehemalige SS-Angehörige in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie leben bislang unbehelligt in Deutschland. von andreas speit, la spezia

Ein steiler Weg führt von dem toskanischen Dorf Sant’Anna auf den Hügel. Oft ist Enio Mancini ihn hochgelaufen, nicht aber am 12. August 1944. Nur deshalb kann er heute zu der Grabstätte auf dem Col di Cava gehen.

An diesem Tagen fielen etwa 300 Angehörige der 16. SS-Panzergrenadier-Division »Reichsführer SS« in das entlegene Bergdorf ein. Auf Wunsch der Wehrmacht sollte die SS-Division gegen angebliche Partisanen in der Region vorgehen. Sie fand im Ort jedoch nur alte Männer, Frauen und Kinder. Innerhalb weniger Stunden ermordete die SS 560 Menschen, darunter 120 Kinder. Sie wurden erschossen, erschlagen oder verbrannt. SS-Angehörige warfen Handgranaten zwischen die Dorfbewohner und schnitten schwangeren Frauen mit ihrem Bajonett den Bauch auf, andere trieben Bewohner des Dorfes auf den Col di Cava. Sie mussten die Munition für ihre Peiniger schleppen. Wer sich weigerte oder versuchte zu fliehen, wurde sofort erschossen. Alle anderen wurden auf dem Hügel ermordet.

»Der Platz war bewusst gewählt worden«, erzählt Mancini, »von überall konnte man die Hinrichtungen sehen. Auch das Feuer, als sie die Toten anzündeten.« Der Aufstieg zu dem Mahnmal, in das die sterblichen Überreste der Opfer des Massakers einbettet wurden, scheint dem fast 70jährigen heute leicht zu fallen. »Ich bin erleichtert«, sagt Mancini, der überlebte, weil ein SS-Angehöriger ihn laufen ließ, »denn nach 61 Jahren ist endlich das Massaker auch juristisch als Verbrechen bewertet worden.«

Am Tag zuvor, am 22. Juni, befand das Militärgericht in La Spezia zehn ehemalige SS-Angehörige, unter ihnen die Unterscharführer Gerhard Sommer, Ludwig Sonntag und Alfred Schönenberg, für schuldig, am »schlimmsten Massaker an Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs in Italien« beteiligt gewesen zu sein. Sie wurden zu lebenslanger Haft und Entschädigungszahlungen verurteilt.

Über ein Jahr hatte das Gericht verhandelt, in Abwesenheit der Täter, da Deutschland grundsätzlich keine eigenen Staatsangehörigen ausliefert. Nur die 30 Überlebenden und die Angehörigen der Opfer waren immer anwesend. Die Gemeinde Sant’Anna di Stazzema und die Region Toskana traten als Nebenkläger auf. »Allein konnte es sich kein Angehöriger leisten, den Prozess anzustrengen«, sagt Bürgermeister Michele Silicani.

Nicht immer konnte er sich die Verteidigungsreden der Anwälte ruhig anhören. »Diese Lebenslügen und diese Geschichtsverfälschung waren unglaublich«, sagt er. Er musste den Saal verlassen, als ein Anwalt zur Entlastung seines Mandanten anführte, dass dieser kein »überzeugter Nazi« gewesen sei, denn in Braunschweig sei er durch die Unteroffiziersprüfung gefallen. Ein anderer Rechtsbeistand wandte ein, dass die SS-Angehörigen vorher gar nicht hätten wissen müssen, was »auf sie zukam«.

Während der Vorsitzende Richter das Urteil verkündete, weinten einige der Angehörigen leise. Nach der Urteilsverkündung spendeten sie Applaus. »Nach über 60 Jahren endlich ein Urteil«, sagte Silvia Pardini, die sehen musste, »wie die SS-Angehörigen meine Mutter und zwei Schwestern abschlachteten«. Enrico Pieri, von dem 25 Familienangehörige der SS zum Opfer fielen, betonte: »Wir wollten keine Rache, aber Gerechtigkeit.«

Am Vormittag hatte Staatsanwalt Marco De Paolis erläutert, dass weder die Haager Landkriegsordnung und die Militärgerichtsbarkeit noch die damalige italienische und deutsche Rechtsordnung solche Massaker an der Zivilbevölkerung erlaubt hätten. »Nach Sant’Anna«, so De Paolis, »sind die SS-Soldaten, die sich der Truppe freiwillig angeschlossen und dem Führer Treue geschworen hatten, gekommen, um ein Massaker zu begehen.« Es sei eindeutig bewiesen worden, dass »alle Angeklagten in bedeutender Funktion an der Aktion beteiligt waren«. Und er betonte: »Sie entschieden an Ort und Stelle, was getan werden sollte.« Ein Nebenkläger fügte mit Blick auf die Anwälte der Angeklagten hinzu, dass »die Verteidigung eines Mandanten selbstverständlich, die Verteidigung der Aktion an sich aber unerträglich sei«.

Diese Klarstellung war nötig, weil Sommers selbst gewählter Rechtsbeistand Andrea Amati in seinem Schlussplädoyer versucht hatte, mit neuen Dokumenten die Anwesenheit und die Befehlsgewalt seines Mandanten bei dem Massaker abzustreiten und die Aktion als »eskalierte, aber legitime Partisanenbekämpfung« darzustellen. Alle Verteidiger hatten damit argumentiert, dass der Tatbeitrag der einzelnen Angeklagten, die Befehlslage und die Bewertung der Aktion unklar sowie eine »besondere Grausamkeit« nicht zu erkennen sei. Unisono hatten sie einen Freispruch gefordert.

Einige ehemalige Angehörige der SS-Einheit hatten als Zeugen allerdings manche Vorwürfe gegen die Angeklagten bestätigt. Adolf Beckert, der erklärte, seine Kinder hätten ihm geraten auszusagen, um »Frieden zu finden«, schilderte vor Gericht, wie sie Frauen und Kinder auf dem Kirchplatz »niedermähten«. In der Annahme, dass Unterscharführer Sommer schon längst gestorben sei, sagte ein anderer Zeuge aus, dass dieser »vor Ort das Sagen hatte«.

Sommer lebt aber seit vielen Jahren unbehelligt in Hamburg. Vor kurzem ist er in ein idyllisch gelegenes Alten- und Pflegeheim gezogen. Einer der Angeklagten, Ludwig Göring, ließ von seinen Anwälten verlesen, er gebe zu, Frauen erschossen zu haben, er bereue aber nichts.

Eine Strafe muss er, wie die anderen verurteilten SS-Mörder, nicht fürchten. Zumindest so lange er nicht nach Italien fährt und die deutschen Behörden keinen Prozess eröffnen. »Eine Auslieferung ist nicht geplant«, erklärt die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die seit drei Jahren gegen 14 Männer wegen des Massakers ermittelt. »Die Ermittlungen sind problematisch, weil jedem Einzelnen nachgewiesen werden muss, in welcher Weise er ganz konkret beteiligt war.« Nun sei aber eine »neue Dynamik entstanden«, beteuert die Sprecherin der Staatsanwaltschaft.

Es habe bereits seit 1995 auch in Deutschland die Möglichkeit zur Strafverfolgung gegeben, betont dagegen die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die der Präsident des Vereins der Opfer von Sant’Anna, Enrico Pieri, mit der Nebenklage beauftragt hat. Damals wurde der so genannte Schrank der Schande bei der Militärstaatsanwaltschaft Rom geöffnet. Über 2 000 Ermittlungsakten zu Kriegsverbrechen in Italien, die die Alliierten schon in den Jahren 1944/45 angelegt hatten, wurden dort gelagert.

Auf einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2004 in Sant’Anna versprach Bundesinnenminister Otto Schily »schnelle Ermittlungen«. Mancini kann sich gut an die Worte erinnern, ebenso an die 20 000 Euro, die Schily für die Erinnerungsarbeit überreichte. Auf Nachfragen zu dem Thema lächelt Mancini, der das Gedenkmuseum leitet, höflich. »Wir wollen vor allem Herrn Sommer und den anderen ins Gesicht sehen, ob ihre Augen etwas verraten, ein Gefühl für das, was geschehen ist«, sagt er später. Und Heinecke fügt hinzu: »Wir erwarten nun eine möglichst schnelle Anklageerhebung, damit man endlich auch in Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird.«