Unsere Landesverräter

Auszüge aus »Revolutionsdramen vor dem Standgericht« und »Das rote Penzberg«, einer Nachkriegs- und einer NS-Widerstandsgeschichte aus Egon Günthers Buch »Bayerische Enziane«

Gabriele Kaetzler befindet sich Anfang Mai mit ihren Töchtern Wise und Fite in der Wohnung von Hilde Kramer in München. Dort werden alle drei am 2. Mai 1919 verhaftet. Hilde Kramer taucht bereits am 1. Mai unter, geht zu Fuß nach Riederau, wo sie eine Woche später festgenommen wird. In der Stadtchronik ist von ihr anlässlich dieser Verhaftung als der »roten Hilde« die Rede, dem »Mädchen mit der Pagenfrisur«, und man bezeichnet sie als eine in ganz München wegen ihrer fast zwei Meter großen, blonden Erscheinung bekannte Anhängerin des Spartakistenführers Max Levien (1885 bis 1937); von Beruf sei sie Kunstgewerblerin. Das in Riederau von den weißen Garden beschlagnahmte und kofferweise abtransportierte Schriftmaterial verwendet man zum Teil in Prozessen gegen die Bremer Linksradikalen.

Da keine der vier gefangenen Frauen Aussagen macht, setzt man ihnen eine Informantin in die Zelle, die sich als auf der Flucht verhaftete Berliner Kommunistin ausgibt. Durch diese List werden Tarnung und Aufenthalt von Rosa Leviné (1890 bis 1979) auf dem Land in der Nähe Münchens offenbart, die folglich ebenfalls in die Hände der Polizei gerät. In ihrer Zelle kann Gabriele Kaetzler die Schüsse hören, mit denen Eugen Leviné, der in seiner Rede vor Gericht die Revolutionäre als »Tote auf Urlaub« bezeichnet hatte, an der Gefängnismauer von Stadelheim von einem aus zehn Weißgardisten bestehenden Kommando getötet wird.

Gegen Gabriele Kaetzler und Hilde Kramer wird Anklage wegen Beihilfe zum Hochverrat erhoben. Als Tochter eines Freiherrn und Marinechefs wird Gabriele Kaetzler also nicht nur der Verrat an ihrer Klasse, sondern auch an der Nation zur Last gelegt. Was in den Augen der Ankläger und der bürgerlichen Öffentlichkeit ebenso schwer wiegt, ist ein dritter Verrat: In ihrer Rolle als Mutter und Erzieherin hat sie nämlich die überkommene Moral und Tradition verraten, indem sie ihre Kinder und Zöglinge im reformerischen und sozialistischen Geist erzog.

Viele Nachbarn und Freunde, darunter der Münchner Buchhändler Georg Karl Steinicke, setzen sich jedoch für Gabriele Kaetzler ein, und sie kommt im Juli aus der Schutzhaft frei. Hilde Kramer wird schließlich gleichfalls freigesprochen und des Landes verwiesen, da der weibliche Lockspitzel – und Hauptbelastungszeuge – nicht vor Gericht erschienen ist. Die beiden Töchter von Gabriele Kaetzler waren bereits einen Monat zuvor, ebenfalls mit der Auflage, Bayern zu verlassen, aus dem Frauengefängnis Aichach entlassen worden.

Im Münchner Staatsarchiv wird ein scharfer, radikaler Brief von Anastasius – genannt Stasy – Kaetzler an seine Schwestern Wise und Fite aufbewahrt, den er ihnen, vermutlich im Juni 1919, aus Riederau nach Aichach gesandt hat. Darin berichtet er den Geschwistern von den verhafteten oder totgeschlagenen bzw. erschossenen Bekannten und von der in der Landeshauptstadt nach dem Triumph der Weißen Garden über die Räterepublik herrschenden Militärdiktatur.

»Überall in München Drahtverhaue und Maschinengewehre, um die ›Ordnung‹ (nämlich die der Kapitalisten) aufrecht zu halten und gegebenenfalls die Arbeitssklaven niederzuschießen. Die Bourgeoisie triumphiert, triumphiert so, dass ich mich wundere, dass nicht alle Augenblicke auf offener Straße so ein Aussaugeschmarotzer und Protzvieh niedergeschlagen wird. Offiziere mit Reitpeitsche und Monokel, ›fesch‹, vaterländische Kundgebungen mit der ›Wacht am Rhein‹ sind alltägliche Erscheinungen … Die Bürokratie, Skrupellosigkeit, Hochmuth, Frechheit, Eingebildetheit und Dummheit der Soldateska, Offiziere wie Gemeinen ist grenzenlos und mehr als provozierend.«

Als er mit seinem Bruder Thomas, dem jüngsten Kind von Gabriele Kaetzler, am Riederauer Bahnhof aus dem Zug steigt, bemerkt eine biestige Nachbarin ganz laut: »Ich wundere mich, dass die zwei Lumpen noch frei sind.« Stasy brüllt sie wütend an: »Pass nur auf, dass wir dich nicht nochmal einsperren, du Bourgeois!«

Nach ihrer Freilassung wird Gabriele Kaetzler wieder politisch aktiv, versteckt Verfolgte und wird selbst verfolgt. In einer Anweisung der Münchner Polizei an die Polizeidirektion Dießen heißt es: »Eine scharfe Kontrolle sämtlicher bei Frau Kaetzler verkehrenden Personen ist angezeigt, da die Genannte nach Aktenlage eine fanatische Kommunistin ist.«

Im Oktober 1919 verlässt Gabriele Kaetzler mit den drei jüngeren Kindern die Ammerseegegend und zieht zunächst auf den Worpsweder Barkenhoff des Jugendstilmalers, Innenarchitekten und kommunistischen Idealisten Heinrich Vogeler (1872 bis 1942), der ebenfalls mit dem am 6. April verstorbenen Johann Knief befreundet war. Dort, am Weyersberg im Teufelsmoor, hat sich in der Nachkriegszeit die kunstvolle Musterwelt des Barkenhoff nach und nach zu einem Siedlungs-, Arbeits- und Schulprojekt gewandelt, zu einer »kommunistischen Insel im kapitalistischen Staat« (Vogeler), wo nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe gelebt und die Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit erprobt wird.

Auf dieser gefährdeten Insel verlebte Knief nach seiner Operation und der Niederwerfung der Bremer Räterepublik noch drei gemeinsame Wochen mit seiner Gefährtin. Und schenkt man einem Polizeibericht Glauben, der eine der vielen gegen die Kommunarden gerichteten Staats- und Polizeiaktionen vermerkt, bewohnte Lotte Kornfeld nach dem Tode Kniefs noch ein Haus auf dem Gelände der Barkenhoff-Siedlung. Die Parallele zur Kommune im bayerischen Blankenburg ist bemerkenswert: Hier wie dort suchten nach dem blutigen Ende der jeweiligen Räterepubliken deren geflohene Anhänger Zuflucht. Doch anders als in Bayern leiteten in Worpswede die Razzien und Repressalien nicht das Ende der Siedlung ein.

Nach einem kurzem Aufenthalt im Teufelsmoor geht Gabriele Kaetzler im Februar 1920 zu ihren Töchtern Fite und Wise nach Berlin. Sie kommen zunächst bei der befreundeten Familie von Max Steinschneider unter, dem bekannten Mitbegründer der Konsumgenossenschaften und Förderer der Genossenschaftsbewegung. Ein paar Jahre später wird Fite dessen Sohn Adolf heiraten. Von Berlin aus halten sie weiterhin Kontakt mit in Bayern eingesperrten Räteanhängern. Im Mai 1920 beschlagnahmt die Polizei bei einer Hausdurchsuchung Kassiber der Festungsgefangenen Hans Seffert, einem Ziseleur, der den Starnberger Arbeiterrat politisch instruierte, und Arthur Schinnagel, einem Psychiater, der sich der Roten Armee als Arzt zur Verfügung gestellt hat. Nach der Haftentlassung gründet Schinnagel in Berlin eine Arbeitsgemeinschaft für biogenetische Psychologie, an deren Treffen auch die Brüder Adolf und Gustav Steinschneider teilnehmen.

Familie der Revolution

Der Polizei zufolge ist Gabriele Kaetzler zudem in die »Aprilverschwörung« der Gefangenen in der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld verwickelt. Die dort einsitzenden Räterepublikaner hätten sich in einem weit verzweigten Komplott auf einen in allen Einzelheiten geplanten Putsch verständigt, der mit der Entwaffnung der Einwohnerwehren ins Werk gesetzt werden sollte. Ernst Toller, der gleichfalls in Niederschönenfeld gefangen war, schreibt dazu in seinem fragmentarischen Lebensbericht »Eine Jugend in Deutschland«, bei dieser »Verschwörung« habe es sich um eine Schauernachricht gehandelt, mit der eigentlich die Notwendigkeit demonstriert werden sollte, gegen eine stets drohende rote Gefahr ebensolche konterrevolutionären Einwohnerwehren aufzustellen und zu unterhalten, deren Auflösung gerade von der Siegermacht Frankreich eingefordert wurde.

Jedenfalls versteckt Gabriele Kaetzler auf dem Dachboden ihrer Berliner Wohnung den 1921 während der Auslieferung von Neuburg an der Donau nach Niederschönenfeld entsprungenen kommunistischen Festungsgefangenen Anton Waibel. Der untergetauchten Krankenschwester Thekla Egl, zugleich Mitglied der USPD und des Bundes sozialistischer Frauen, der Münchner Zeitung vom 13. Juni 1919 zufolge »Tollers Geliebte«, dient die Berliner Wohnung Kaetzlers als Deckadresse, um Briefe an ihren Verlobten Eugen Maria Karpf ins Gefängnis zu schreiben, den ehemaligen Adjutanten von Rudolf Eglhofer, der wiederum in der Räterepublik als Münchner Stadtkommandant und Befehlshaber der Roten Armee in Erscheinung getreten ist. Der Polizei gilt ihre Wohnung als eine »Verbindungsstelle der Kommunisten aller Länder und Vermittlungsstelle flüchtiger Kommunisten«.

1923 ist Gabriele Kaetzlers Tochter Wise bereits einige Zeit mit dem KPD-Mitglied Max Barthel (1893 bis 1975) verheiratet, einem ungelernten Fabrikarbeiter aus der sozialistischen Jugendbewegung und Frontsoldaten, der seit dem Erscheinen seines ersten Gedichtbandes »Verse aus den Argonnen« mitten im Krieg einen Ruf als »Dichter proletarischer Jugend« besitzt. Barthel ist Herausgeber von Sichel und Hammer, der Illustrierten der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), und weilt gerade im Auftrag der IAH im von Dürre und Hungersnot bedrohten revolutionären Russland, wo er bei Astrachan vorübergehend die Kontrolle über eine Fischfangkonzession ausübt. Wise schreibt ihrem Gatten, den sie allerdings noch im selben Jahr verlassen wird, an die Wolga, dass sich ihre »Mutt« als Rednerin der Partei in Sachsen befinde. Dort werde diese wegen der in einem Bergwerk ausgehängten anonymen Drohung, »Eure Spartakisten knallen wir alle mal nieder«, von vier bewaffneten Genossen zu den Versammlungen begleitet.

Nachdem im Oktober 1924 in Berlin-Neukölln eine kommunistische Passfälscherwerkstatt aufgeflogen ist, fahndet die Polizei nach der offenbar untergetauchten Gabriele Kaetzler. Vergeblich forscht sie sogar in Dießen am Ammersee und in anderen bayerischen Orten nach ihrem Verbleib. Der kommunistische Publizist Alexander Abusch (1902 bis 1982) schreibt in seinen sehr um den linientreuen Zungenschlag bemühten Memoiren, dass er in der illegalen Parteiarbeit im Winter 1923/24 mit »Gaby K.« Kontakt aufnahm. Ihm zufolge weilt Gabriele Kaetzler während der Reichswehrbesetzung Thüringens bei der kommunistischen Pädagogin Frieda Winckelmann in Gotha, die bereits zur Rätezeit den in Bayern gefährdeten Revolutionären falsche Pässe aus dem Berliner Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung verschafft haben soll.

Abusch schildert Gaby K., »in ihrem schlichten Äußeren fast bäuerlich«, als eine sehr gefühlsbetonte Kommunistin, aber voller Überzeugung, als glühende Anhängerin von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Gabriele Kaetzler legt ihm ihre Tochter Wise, die zuvor als Stenosekretärin bei der Roten Fahne beschäftigt war, für die Arbeit an der Redaktion der Neuen Zeitung, dem in Jena erscheinenden Organ der KPD für Groß-Thüringen, »ans Herz«.

Der noch blutjunge Abusch war zuvor Redakteur der Augsburger Bayerischen Arbeiterzeitung (BAZ) gewesen und musste, aufgrund eines gegen ihn eröffneten Verfahrens wegen »dringenden Verdachts der Vorbereitung zum Hochverrat und des vollendeten Landesverrats«, aus dem neuen Freistaat flüchten; in der BAZ hatte er nämlich die Geheimrüstungen der getarnten konterrevolutionären Verbände enthüllt, die nach der Niederwerfung der Räterepublik in der sich zusehends formierenden Ordnungszelle Bayern ein wahres Eldorado vorfanden.

1924 ist Abusch nun unter dem Decknamen Ernst Reinhardt Chefredakteur der Jenenser Parteizeitung. Er verliebt sich sofort in Wise, die er als »von einer eigenartig slawisch oder vielleicht irländisch blonden Schönheit« empfindet, »literarisch interessiert, zeichnerisch begabt, tüchtig in der Arbeit«. Die solchermaßen geschätzte junge Frau hat sich zwar von Max Barthel scheiden lassen, trägt aber künftig weiterhin dessen Namen. Aus der Ehe ist ein Sohn hervorgegangen, Thomas Sylvester Barthel, genannt Tiki, der im Krieg zu den italienischen Partisanen überlaufen wird und schließlich ein bekannter Ethnologe und Erforscher der »sprechenden Hölzer« von der Osterinsel, der »Rongorongo«-Texte, werden soll. Wise Barthel liiert sich nun mit dem 22jährigen Abusch und bringt ihre Tochter Marianne zur Welt. Die Beziehung der beiden wird von Wise nach fünfeinhalb Jahren abrupt beendet. Über das gemeinsame Kind, die geteilte kommunistisch-ethische Anschauung und die weitere Zusammenarbeit ab 1930 in der Berliner Redaktion der Roten Fahne bleibt man jedoch freundschaftlich verbunden.

Gabriele Kaetzler lebt nun für eine Weile bei ihrer Tochter Wise und deren Kindern im kleinen Haus eines sozialdemokratischen Volkshochschullehrers über dem Tal von Jena. Dieser Pädagoge ist Adolf Reichwein (1898 bis 1944), der im Widerstand gegen Hitler von den Nazis hingerichtet werden soll. Mit Abusch/Reinhardt und Thomas, dem jüngsten Bruder von Wise, der als Lehrling bei Zeiss arbeitet, bildet sich in Jena 1924/25 eine kleine Familie. An Weihnachten 1925 kommt die jüngste Tochter Beate, Betschi oder Bacci genannt, die am Ammersee noch eine Klosterschule besucht hat, aus der reformpädagogischen Freien Schulgemeinschaft Wickersdorf zu Besuch.

Ein letzter Eintrag in der Münchner Polizeikladde besagt, dass Gaby 1926 unter dem Decknamen einer Schriftstellerin, »Merten oder Gabier«, an der Reichskonferenz des Roten Frauen- und Mädchenbundes teilnimmt. Von Alexander Abusch wissen wir noch, dass sie, nach der Geburt ihrer Enkel nun allgemein »Omu« genannt, ihrer Familie stets eine treusorgende »Stammesmutter« gewesen ist und das 1928 erschienene medizinische Hausbuch »Die Natur als Arzt und Helfer« als Vademecum und unanzweifelbaren Ratgeber für die ganze Familie achtet. Geschrieben hat es der reformerische Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf, der 1921 einer Siedlergruppe auf dem Worpsweder Barkenhoff angehörte und nach dem Scheitern des »kommunistischen« Experiments mehrere Jahre als Arzt unter armen Bauern auf der Rauen Alb in Süddeutschland gelebt hat.

Das rote Penzberg

Die Bergarbeiterstadt Penzberg galt mit ihrer stabilen sozialistischen Mehrheit, die seit 1918/19 in der Stadt den Ton angab, der völkischen Bewegung schon vor der so genannten Machtergreifung als heißer Boden. Der NSDAP war es über 1933 hinaus ein stetes Ärgernis, dass es im »roten« Penzberg nicht wie anderswo zuging. Bis auf die braunen Nester Murnau und Weilheim gehörte selbst das ländliche Kreisgebiet südlich des Starnberger Sees eher zu den weißen Flecken auf der organisatorischen Landkarte der Nazipartei.

In Penzberg existierte, in mancher Hinsicht seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, eine umfangreiche, auf Selbsthilfe basierende proletarische Subkultur, die in einem intensiven Vereinsleben und in zahlreichen Vor- und Nebenorganisationen der Arbeiterbewegung ihren Ausdruck fand. Es gab also neben den örtlichen Ablegern der Linksparteien MSPD, USPD, KPD und dem Gewerkschaftskartell u.a. noch den Freien Turn- und Sportverein, den Proletarischen Freidenkerverein, den Alpenverein »Naturfreunde« mit Sängerabteilung, den Radfahrerverein »Morgenrot«, den Athletenklub Bayerisch-Fels für Ringer und Gewichtheber, den Mieterschutzverein, den Konsumverein, die Rote Hilfe und das Reichsbanner. Dieses Geflecht an Vereinen hatte gegenüber den bürgerlichen und katholischen Entsprechungen stets ein Übergewicht. 1930 waren etwa im Radfahrerverein »Morgenrot« 670 Mitglieder organisiert.

Innerhalb der ländlichen Umgebung nahm die städtische Arbeiterschaft Penzbergs eine deutliche Sonderstellung ein. War das Land von jeher monarchisch gesinnt und später separatistischen Tendenzen nicht abhold, ein Reservoir der zahlreichen Wehrverbände und Einwohnerwehren, so hielten in ihrer Bergarbeiterenklave der Stadtrat und die hinter ihm stehenden gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Führungsgruppen der Republik von Weimar die Treue.

Nach der Ermordung Kurt Eisners, zu dessen Begräbnis eine große Abordnung Penzberger Bergleute entsandt wurde, zog man schon mal in das benachbarte Sindelsdorf – jenes Sindelsdorf oder »Symboldsdingen«, in dem Franz Marc vor dem Krieg seine berühmten einfühlsamen oder, wie er selbst sagte, »mystisch-innerlichen« Tierkompositionen malte und wo der Almanach des »Blauen Reiter« konzipiert wurde. Hier wollte man den Pfarrer unter der Androhung von Gewalt – allerdings vergeblich – zum Glockenläuten bewegen. Nachdem Karl Gareis, der Führer der bayerischen USPD, im Juni 1921 vor seiner Haustür in Schwabing von rechtsradikalen Revolverhelden ermordet worden war, spielte auch eine Musikkapelle der Penzberger Knappen zu dessen Beerdigung. Die Fememörder »richteten« in der Person von Gareis einen Verräter von militärisch bedeutsamen Geheimnissen an die Entente, da dieser im Landtag wiederholt auf die Wehrverbände der extremen Rechten und auf deren auf dem Land versteckte illegale Waffenlager hingewiesen hatte.

Nicht von ungefähr erstellte in der Zeit der reaktionären Mobilisierung nach der gescheiterten Revolution das bayerische Innenministerium mit dem rechtsradikalen Wehrverband Bund Oberland und mit der Unterstützung der Zechenleitung einen regelrechten Plan zur Abriegelung des »Unruheherds« Penzberg und des Nachbarorts Kochel – bis 1925 wurde dort am Bau des Walchenseekraftwerks gearbeitet –, eine Art »Notpolizei«, der nur Männer der umliegenden Gemeinden angehörten und niemand aus Penzberg selbst. Zu den potenziellen Unruheherden zählten ferner der Bergarbeiterort Peißenberg, Kleinweil (Braunkohle), die Torfkultur bei Murnau und die Baustellen der Ammerkorrektion.

Im Oktober 1923 provozierte zudem die ausgehungerte Arbeiterschaft die mit dem Bund Oberland sympathisierenden Bauern des Umlands durch einen massenhaften Kartoffeldiebstahl, der zwar hauptsächlich von der Not der Inflationszeit diktiert war, aber durchaus eine eigene politische Botschaft zum Ausdruck brachte – Hungerleider scheren sich nicht um die Eigentumsordnung.

»23 sagt er, am 15. Oktober, das weiß er noch genau, wie sie gekommen sind, die ganze Bagage mit Kind und Kegel. Am Nachmittag die ersten schon, mit Schubkarren und Leiterwagen, wie die Heuschrecken, so haben sie die Felder abgefressen. Und die Gendarmen haben dagestanden und zugesehen«, schreibt Ludwig Lugmeier in »Wo der Hund begraben ist«.

Da der Klassengegner, das heißt Besitz und Verwaltung der Oberkohle, der Oberbayerischen Aktiengesellschaft für Kohlenbergbau, in München saß und damit keine Bourgeoisie in dem Ort war, der als eine eher trostlose und ernüchternde Stätte der Maloche inmitten des schönen Voralpenlands von ihr tunlichst gemieden wurde, entluden sich die Reibereien am Klassengegensatz in der Krise eben nach innen – in erbitterten Fraktionskämpfen der verfeindeten Arbeiterparteien KPD und SPD, oder nach außen – gegen die völlig andersartigen sittlichen Normen des bäuerlichen Umlands.

In viel höherem Maße als anderswo überlebten in der Penzberger Belegschaft und ihren Familien aufgrund der »Insellage« ihrer Arbeiterkultur Elemente der Versammlungsdemokratie und Selbsthilfe, die in Krisenzeiten wie in der Inflation oder beim Auftreten der Massenarbeitslosigkeit in der Absatzkrise der Pechkohle wirksam wurden.

Kommunismus und katholische Kirche

Im Übrigen blieb die Arbeiterbevölkerung Penzbergs gegenüber der nationalistischen Agitation gerade auch deswegen immun, weil sie, bei aller inneren Distanz zum Katholizismus, weitgehend katholisch geprägt war. Zwischen Katholizität, Radikalität des Sozialprotests und Stärke der KPD in München und Oberbayern bestand ein enger Zusammenhang, wie etwa Hartmut Mehringer in seiner eindringlichen Quellenstudie zur Geschichte der KPD in Bayern (von 1919 bis 1945) feststellt.

Das gilt natürlich auch für das »rote Kolbermoor«, ein lange vorhaltendes Reservoir radikaler Haltungen, aus dem sich eine Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus gespeist hat, die auch der zusätzlichen negativen Erfahrung, die man dort 1919 mit Grafinger Weißgardisten und Chiemgauer Schützen gemacht hat, geschuldet sein mag.

Im Gegenzug errang die NSDAP gerade in den protestantischen Gemeinden Ober- und Mittelfrankens, insbesondere in den industriellen Gemeinden dieser Regionen wie Hof und Selb, deutliche Zuwächse in der Wählerschaft. Protestantische Industriearbeiter scheinen jedenfalls häufiger zur NSDAP gewechselt und den überwiegenden Arbeiteranteil ihrer Mitgliedschaft ausgemacht zu haben. Ein vergleichbarer passiver Widerstand gegen den Nationalsozialismus wie in der katholisch geprägten Gegend Oberbayerns lässt sich auch in den katholischen Milieus und Bindungen des westlichen Ruhrgebiets und den Bergarbeiterkommunen des Regierungsbezirks Aachen feststellen.

Auch der Landkreis Weilheim mit seiner mehrheitlich katholischen Bevölkerung behauptete in den Ergebnissen der Märzwahl 1933 für die NSDAP im Vergleich zu anderen bayerischen Verwaltungsbezirken nur einen recht schwachen Mittelplatz. Die mittel- und großbäuerliche Bevölkerung war auch nach ’33 nicht durchweg für die braunen Ziele zu erwärmen. In diesem Zusammenhang mag beiläufig die These von Hugo Ball erwähnt werden, derzufolge sich selbst die Theorie der Wortführer des Anarchismus, der »getauften Katholiken« Bakunin und Kropotkin, noch »vom Taufsakrament und vom Ackerbau« genährt hat.

Die Neigung ihrer Schäfchen, in Krisenzeiten gelegentlich der linksradikalen Konkurrenz zu folgen, missfiel selbstverständlich den Vertretern der Amtskirche. Die Haltung des monarchistischen Kardinals Faulhaber oder des späteren Papstes Pius XII., der als Nuntius Pacelli in München aus erster Hand Eindrücke aus der Rätezeit sammeln konnte, und die beiden immer wieder unterstellte Aversion gegen Juden und Kommunisten mag vielleicht sogar solch »bayrisch-bäuerlichen« Anomalien geschuldet sein.

In den Jahren vor der »Machtergreifung« führten die Linksparteien Penzbergs einen erbitterten Kampf um das Rathaus. Die KPD gewann Stimmen und Mitglieder hinzu, agitierte die Erwerbslosen, hielt Antikriegstage ab, veranstaltete Hungermärsche und sammelte für die Rote Hilfe. Ab 1932 wehten wiederholt Sowjetfahnen über einzelnen Stadtteilen, auf dem Bergwerkskamin und sogar auf Maibäumen. Am 26. Juli 1932 sägte beispielsweise die Polizei unter dem höhnischen Gejohle von über 400 Penzbergern den Maibaum ab, an dessen Spitze eine rote Fahne flatterte.

Zentrum kommunistischer Versammlungen und oft Ausgangspunkt von Demonstrationen war der Staltacher Hof, ein in der Ortsmitte, am so genannten Penzberger Stachus gelegenes Gebäude, das damalige Parteilokal der KPD und ihrer Nebenorganisationen, das unlängst abgerissen wurde. Dabei war die über 100 Jahre alt gewordene Wirtschaft eines der ersten Häuser, die in der praktisch aus dem Nichts entstandenen Ortschaft von der Maffeischen Gutsverwaltung gebaut wurden. Ein Bürgerentscheid, der den »Staltacher Hof« per Abstimmung vor dem Ende retten wollte, ist leider gescheitert. Die Christsozialen beharrten unbedingt auf einem Neubau, unter anderem mit dem Argument, »weil Penzberg nicht zum Museum werden soll«.

Mürrische Resistenz

Als pragmatisch abwartende, passive, doch mürrische Resistenz wird die Haltung der Arbeiterbevölkerung Penzbergs während der Herrschaft des Nationalsozialismus von den Soziologen umschrieben, als latente Opposition oder als eine Art kollektive »innere Emigration«. Eine Haltung, die es immerhin ermöglichte, beim Gang durch die trostlose Wüste des Faschismus die eigenen Kräfte möglichst für später aufzusparen. Denn letztlich hatten die örtlichen linken Parteien, Gruppen und Verbände, die im Kleinen allen fehlerhaften Einschätzungen ihrer jeweiligen Leitungen über Charakter und Dauer der neuen Herrschaft folgten, der Machtübernahme der Nazis in der isolierten »roten« Kommune ebenfalls recht wenig entgegenzusetzen gehabt. Vor den Kräfteverhältnissen im Reich versagte der Legalismus der SPD ebenso wie der Putschismus der KPD. Das sarkastische Anagramm von Dachau, »Auch da«, wurde alsbald zum geflügelten Wort unter den Zechenarbeitern.

Am 11. März 1933, dem Tag, da die SA aus Bad Tölz und Kochel den Befehl zur Verhaftung führender Penzberger Kommunisten und Reichsbannerleute ausführt, scheint der Leiter der Kampfgemeinschaft »Rote Sporteinheit« und führende Kopf des verbotenen Rotfrontkämpferbundes, der Schlosser Josef alias »Sepp« Raab, doch noch auf eigene Faust eine bewaffnete Unternehmung geplant zu haben, die dann jedoch unterbleibt; vielleicht weil keine Weisung aus München kam.

Die meisten Waffen werden noch am selben Abend versteckt, ein Teil der führenden Genossen flieht und nimmt einige Gewehre mit, die schließlich zum Wildern taugen. Eine geraume Zeit lebt man nämlich noch in den Wäldern und Mooren der näheren Umgebung zwischen Penzberg, Weilheim und Murnau im Untergrund und nächtigt in Heustadeln, Strohmieten und Höhlen, bevor bei Mittenwald die österreichische Grenze überschritten wird und sich zuletzt in Zürich die Wege der Beteiligten trennen.

Um illegale Verbindungen aufzunehmen, kehrt Sepp Raab mit einem Genossen noch einmal auf abenteuerlichen Wegen nach Bayern zurück. Sein Begleiter wird verhaftet, aber Raab selbst kann wieder einmal entkommen. Ab 1936 kämpft er im Spanischen Bürgerkrieg und ist zeitweise Kommandeur des Thälmann-Bataillons der Internationalen Brigaden. Nach der Kapitulation der republikanischen Regierung vor den Franco-Truppen und dem Passieren der Pyrenäengrenze zunächst im Lager Le Vernet in Südfrankreich interniert und danach in einem Sondergefängnis der Vichy-Regierung in Castres eingesperrt, bricht er mit einer Gruppe Genossen, denen die Auslieferung an die Gestapo droht, aus dem Gefängnis aus und wird in der Résistance aktiv.

Mit französischen Papieren kehrt Sepp Raab im Juni 1945 krank und geschwächt nach Penzberg zurück, wo er zum kommissarischen Bürgermeister berufen wird. In den fünfziger Jahren betreibt er dort das »Café Alpenblick«, eine kleine Gaststätte, die als »Kommunistentreff« verrufen ist. In der von KPD-Verbot und Kommunismusphobie geprägten Ära Adenauer ist dieses Café oft das Ziel von Polizeirazzien, bei denen schon wieder Andersdenkende verhaftet und nach Weilheim oder Starnberg ins Gefängnis gebracht werden.

Redaktionell gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Egon Günther: Bayerische Enziane. Edition Nautilus, Hamburg 2005. 224 S., 19,90 Euro.