Werte in der zweiten Reihe

Die CDU/CSU ist auf die Ökonomie fixiert. Von Neokonservatismus
kann nicht die Rede sein. von richard gebhardt

Auf einer Veranstaltung der Deutschen Bank in Berlin zum Thema »Was ist konservativ?« gab Wolfgang Schäuble jüngst zu Protokoll, er bezeichne sich eher als Christdemokraten denn als Konservativen. Dieses zögerliche Bekenntnis verweist auf eine programmatische Leerstelle der CDU/CSU, von der Jürgen Rüttgers gar behauptet, sie sei »nie eine wirklich ›konservative‹ Partei im klassischen Sinne gewesen«. Auch wenn Angela Merkel »Deutschland dienen« will und Edmund Stoiber in seinen Wahlkampfreden »deutsche Tugenden« beschwört, bleibt die große wertepolitische Offensive bislang aus. Selbst ausgewiesene Gegner der Homo-Ehe wie der »Visionär« der Kanzlerkandidatin, Paul Kirchhof, widmen sich lieber der Steuer- und Finanzpolitik, als sich mit gesellschaftspolitischen Streitfragen zu beschäftigen. Die konservative Vision der Union passt derzeit auf einen Bierdeckel.

Einer der wichtigsten Vordenker der Rechtskonservativen, Günter Rohrmoser, gibt deshalb die wenig euphorische Losung aus: »Augen zu und CDU!« Die Hauptsache sei die Beendigung des »rot-grünen Projekts«. Im Jahr 1982 dagegen, als Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung eine »geistig-moralische Wende« verkündete, waren die Erwartungen noch groß. Die »Eigenverantwortung« sollte wieder gestärkt und der Staat in seine Schranken verwiesen werden. Familie, Religion und Leistungsbereitschaft sollten zukünftig im Mittelpunkt stehen. Doch die Aufbruchstimmung im konservativen Lager verflog schnell.

In den Folgejahren hob die Unionsrechte zu Klageliedern über die Multikulti-Ideen eines Heiner Geißler oder die Aids-Aufklärungsbroschüren der Gesundheitsministerin Rita Süssmuth an. Man murrte über einen Kanzler, der angeblich nicht energisch genug gegen den linken »Zeitgeist« ankämpfte und der konservativen Elite mit Norbert Blüm auch noch einen Gewerkschafter als Arbeits- und Sozialminister zumutete. Heftigen parteiinternen Widerspruch löste Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum »Tag der Befreiung« am 8. Mai 1985 aus. Fortan zeigten sich deutliche Spannungen zwischen dem Mainstream der CDU/CSU und ihrem rechten Flügel, dessen Angehörige bereits 1983 die Partei der Republikaner gründeten.

Der im Wahlkampf 2005 von der Süddeutschen Zeitung bis zur Frankfurter Rundschau beschworene »Neokonservatismus« der Union ist vor allem von einer Fixierung auf die Ökonomie gekennzeichnet. Weder die jüngsten Angriffe auf die 68er noch die Beschwörung von Leistung, Familie und Vaterland verweisen auf etwas tatsächlich Neues am deutschen Konservatismus. Die heute dominante Verteidigung des ökonomischen Fortschritts und die Politik des »Umbaus« des Sozialstaats waren bereits im Neokonservatismus der achtziger Jahre angelegt. Nach ihrem Bruch mit dem »System Kohl« gilt Angela Merkel nicht als programmatische Reformerin, sondern als Machtpolitikerin, der »Führungsstärke« zugetraut wird: »Die hat von Kohl über Schäuble bis Merz immerhin die halbe CDU-Führungsriege hingemeuchelt. So eine brauchen wir«, urteilt der einst als Berater Kohls geltende Dominikanerpater Heinrich Basilius Streithofen.

Stichworte wie »Chancen für alle!« bezieht Merkel vor allem von Netzwerken, die von der Großindustrie initiiert sind. 50 Millionen Euro Startkapital erhielt etwa die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall zur Verbreitung ihrer wirtschaftspolitischen Ideen, die Niederschlag im Wahlprogramm der Union finden. Wegen des Primats der Ökonomie gelten fehlende Karenztage und zu viel Kündigungsschutz, sozialliberale Hochschulreform und Hedonismus, Gesamtschule und »Gerechtigkeitswahn« als Ursachen der aktuellen Krise, die weitere soziale Demontage als Gegenmittel. CDU und CSU empfehlen sich als konsequente Reformparteien, die einlösen wollen, woran Schröder gescheitert ist.

Die entscheidenden Debatten über den Konservatismus der Gegenwart finden im politischen Feuilleton, nicht in den zuständigen Parteigremien statt. Offen bleibt in der Union die Antwort auf die Spannung zwischen den »Sachzwängen« des Weltmarkts und dem Erhalt gefestigter Traditionen. In den Mittelpunkt des Diskurses rücken nicht Unionspolitiker, sondern Intellektuelle wie der Berliner Historiker Paul Nolte, der während des Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen als künftiger Minister im Kabinett Jürgen Rüttgers gehandelt wurde, oder der parteilose Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio (Jungle World, 34/05). Beide zählen zu den wenigen jüngeren Repräsentanten eines modernen Konservatismus. Nolte und Di Fabio verbindet der Impetus des Volkserziehers, der in Zeiten massenhaften Stellenabbaus mehr Arbeitsethos einfordert und eine bürgerliche Leitkultur gegen die Zumutungen der Massenmedien propagiert. Dabei war es die Regierung Kohl, die einen Medienmogul wie Leo Kirch erst möglich machte. Zudem hat keine Partei in den vergangenen Jahren so sehr von der Bild-Zeitung und dem Fernsehen profitiert wie die Union.

Als Volkspartei besteht die CDU/CSU aus einem christlich-sozialen Flügel, einer einstmals starken nationalkonservativen Riege und einer wirtschaftsliberalen Strömung, die heute die Mehrheit bildet. Die Rücksichtnahme auf die Sozialausschüsse ist heute geringer denn je. Bereits 2003 ermahnte Rüttgers seinen Parteifreund Blüm mit den Worten, er solle nicht zum »Lafontaine der CDU« werden. Dennoch muss auch auf diesen geschwächten Flügel geachtet werden. Der praktische Nachvollzug der Forderungen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie sichert die Zustimmung der Kapitalseite, nicht aber die notwendigen Wählerstimmen.

Das nationalkonservative Spektrum, das heute vom brandenburgischen Innenminister Jörg Schönbohm vertreten wird, ist zwar nicht ohne Einfluss, aber in der Defensive. Weder Schönbohm, der Vizepräsident des rechten Studienzentrums Weikersheim, noch der bayerische Rechtsausleger Peter Gauweiler oder Roland Koch konnten oder wollten den fraktionsintern umstrittenen Ausschluss des hessischen Abgeordneten Martin Hohmann verhindern. Ob Einwanderung oder die Unterstützung für ein »Zentrum gegen Vertreibungen« – Themen, bei denen die Union eindeutig konservative Akzente setzt, stehen nicht im Mittelpunkt. Verglichen mit Roland Kochs rassistischer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wird die Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei im Straßenwahlkampf noch vornehm vorgetragen.

Wer nach dem Ende von Rot-Grün die direkte Offensive einer heiligen Allianz aus Kapital und Klerus erwartet, übersieht die Differenzen im konservativen Milieu. Die Begeisterung für den deutschen Papst sagt wenig über das reale Verhalten seiner Anhänger und deren parteipolitische Präferenzen aus. Krista Sager von den Grünen betont die konservativen Züge ihrer Partei, und der Kölner Kardinal Meisner fordert immer wieder, die Union solle auf das Etikett »christlich« verzichten.

Zurzeit betreibt die Union eine Politik der Ambivalenzen: Rechtsaußen wie der sächsische Abgeordnete Henry Nitzsche mit seinem Wahlspruch »Arbeit, Familie und Vaterland« stehen nicht für den gegenwärtigen Mainstream der Partei, werden von diesem aber geduldet. Zwar könnte in Zeiten der verschärften Krise Merkels gegenwärtige Losung »Vorfahrt für Arbeit« um die fehlenden Wörter erweitert werden. Das dazu notwendige Personal sitzt derzeit aber in der zweiten Reihe.