Sertab Erener im Gespräch

»Wir sind alle türkisch«

Spätestens seit Fatih Akıns Film »Crossing the Bridge« ist Musik aus der Türkei auch in Deutschland ein Thema. Nicht erst seit ihrem Erfolg beim Grandprix d’Eurovision de la Chanson im Jahr 2003 gehört Sertab Erener zu den bedeutendsten Popmusikern des Landes. Im Jahr 1964 wurde sie in Istanbul geboren. Sie erhielt am staatlichen Konservatorium eine klassische Gesangsausbildung, bevor sie ihre Karriere als Backgroundsängerin bei Sezen Aksu begann, der Queen der türkischen Popmusik. Seit 1992 arbeitet sie als Solokünstlerin. Im vergangenen Jahr erschien mit »No Boundaries« ihr erstes englischsprachiges Album.

Als Sie mit Ihrem Song »Every Way that I Can« den Grandprix d’Eurovision de la Chanson gewonnen haben, war der Jubel groß in der Türkei. In europäischen und türkischen Medien hieß es sogar, dass Sie die Türkei nach Europa geführt hätten. Was sagen Sie dazu?

Der Sieg beim Grandprix war natürlich ein großer Erfolg. Ein solcher Erfolg führt zu dem, was ich »das selbständige Reisen der Musik« nenne. Dass sich die Musik vom Künstler löst, um die Welt geht, in anderen Ländern von Menschen gehört wird, bedeutet nicht nur einen persönlichen Erfolg, sondern auch, dass ein Stück von dem Land, in dem der Künstler oder die Künstlerin geboren und aufgewachsen ist, mit dieser Musik gemeinsam auf die Reise geht. In diesem Sinne hat dieser Erfolg die Türkei besser bekannt gemacht und vielleicht ein neues Bild von der Türkei vermittelt.

Nach Ihrem Erfolg wurden Sie unter anderen von Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan empfangen. Hatten Sie den Eindruck, für politische Zwecke, etwa die türkischen EU-Beitrittsbemühungen, instrumentalisiert zu werden?

Nein, gar nicht. Ich habe meine Arbeit getan. Ich habe mich an diesem Wettbewerb beteiligt, weil ich davon ausging, dass das ein wichtiger Schritt für meine musikalische Karriere sein würde. Ich habe einen Hit für Europa geschrieben, und darum ging es mir: einen Song zu machen, der den europäischen Normen entspricht, der dort gehört und gemocht wird. Ob und wie Politiker davon profitiert haben, interessiert mich nicht. Sie machen ihre Arbeit, ich mache meine.

Haben Sie denn das Problem, zu sehr auf Ihren Erfolg beim Grandprix reduziert zu werden? Auch wir haben Sie bislang nur danach gefragt.

Nein. Ob du ausschließlich auf einen Erfolg reduziert wirst, hängt von deiner eigenen Arbeit ab. Wenn du es schaffst, immer wieder neue, weiter gehende Sachen zu produzieren, mit denen dein Publikum etwas anfangen kann, wird dir das nicht passieren.

Der Dokumentarfilm von Fatih Akın über die Musikszene in Istanbul hat den Untertitel »The Sound of Istanbul«. Gibt es wirklich einen »Sound of Istanbul«?

Ja. Wenn du in dieser Stadt die Straßen entlang oder in die Clubs gehst, registrierst du sofort unglaublich viele Musikstile. All diese Stile verschmelzen wie verschiedene Gewürze zu einem bestimmten Geschmack: zu einem türkischen.

Fühlen Sie eine Verbindung zwischen all diesen musikalisch völlig unterschiedlichen Gruppen in Istanbul?

Wir sind alle türkisch. Die einen spielen Rock, die anderen eher ethnische Musik, aber unser Background ist derselbe.

Mit »No Boundaries« haben Sie eine Platte in Englisch aufgenommen und auch Ihr Grandprix-Beitrag war auf Englisch. Gab es Stimmen, die Ihnen Verrat an der türkischen Kultur vorwarfen?

Ja, von konservativer Seite wurde kritisiert, dass ich in einer anderen Sprache singe. Ich sagte, dies sei meine Entscheidung. Mit meinem Sieg beim Grandprix löste sich die Kritik in Luft auf.

In Ihren Texten und bei Ihren Auftritten halten Sie sich mit politischen Aussagen zurück. Gibt es dennoch eine gesellschaftliche Aussage, die Sie transportieren wollen?

Ich glaube nicht, dass eine gesellschaftliche Aussage eine unmittelbar politische sein muss. Meine Aussagen haben mit dem Bewußtsein jedes Menschen zu tun, mit der individuellen inneren Welt eines jeden, mit einer besseren Lebensqualität für alle Menschen. Aber das ist nicht politisch. Ich persönlich betrachte auch die Welt von einem anderen, spirituellen Standpunkt aus.

Wie sieht der aus?

In sehr jungen Jahren habe ich eine schwere Krankheit durchgemacht, die mich dazu brachte, mich früher als andere mit den Fragen der menschlichen Existenz zu beschäftigen. Ich denke, dass es immer ein Problem ist, wenn Gesellschaften sich nach den Vorstellungen einzelner Leute richten. Dies gilt gerade auch für die westlichen Gesellschaften. Ich orientiere mich eher an der fernöstlichen Philosophie, die sich um das Glück des Einzelnen dreht, und ich glaube, dass das Glück des Einzelnen auch zum Glück einer Gesellschaft führt. Deshalb bin ich allein mit mir selbst beschäftigt. Ich glaube auch, dass diese Aussage andere Menschen beeinflussen kann und dass man das an meinem letzten, türkischsprachigen Album »Ask ölmez« hören kann. Aber das heißt nicht, dass ich sagen würde: »Alles ist so schön, lasst uns die Hände reichen«; was ich meine, hat nichts mit New Age zu tun.

Die Türkei ist einerseits ein modernes Land, andererseits spielen patriarchale Traditionen immer noch eine große Rolle. Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Arbeit auch ein Vorbild sind? Und wollen Sie das sein?

Sicher. Aber es ist weniger so, dass ich diese Dinge in meiner Musik direkt ansprechen würde. Ich glaube, dass meine Musik ein Ausdruck meines Lebensstils ist, der gewissermaßen auch einen nicht kleinen Tei der Bevölkerung repräsentiert. Meine Songs mögen unpolitisch sein, aber sie können anderen eine andere Lebensauffassung vermitteln. Allerdings mache ich nicht Musik, um irgendwas zu sagen, und ich versuche auch nicht, irgendwie zu sein. Außer so, wie ich nun mal bin.

Lange Zeit haben Sie so gut wie gar keine Interviews gegeben. Warum nicht?

Ich versuche, einfach das zu tun, was ich mag. Ich singe gern, vor allem aber singe ich lieber, als über mich zu reden.

Dann lassen Sie uns über jemand anderen reden: über Sezen Aksu, die Grande Dame des Türkpop.

Lassen Sie uns über Sezen Aksu reden!

Sie selbst haben bei ihr gesungen, sind eine Art Schülerin von ihr. Welche Rolle spielt sie für die türkische Popmusik?

Wenn wir über türkische Popmusik sprechen wollen, müssen wir über Sezen Aksu reden. Sie hat um die 1 000 Songs geschrieben, sie ist eine Größe für sich in der türkischen Popmusik. Sie ist erstaunlich. Sie ist talentiert, singt gut und hat ein wunderbares Herz. Ich habe selbst erst durch meine Arbeit mit ihr zur türkischen Musik gefunden, während ich in meiner Jugend nur englischsprachige Musik und Klassik gehört habe.

In Deutschland kennt man Sie als Türkpop-Diva. Dort gibt es kein Äquivalent zu jemandem wie Ihnen, keine wirklich glamouröse Pop-Diva, zu der man aufschaut.

Wirklich? In Deutschland gibt es das nicht? Sie bräuchten also jemanden wie mich?

Ja, gerne. Ist es ein spezielles, auch emanzipatorisches Konzept, in einer Männergesellschaft wie der türkischen als Diva aufzutreten?

Die Leute möge es einfach, eine Diva zu sehen, jemanden wie Celine Dion oder Whitney Houston. Ich habe niemals selbst gesagt, nun bin ich eine Diva oder ein Star. Ich bin einfach eine Sängerin. Ich will eine gute Performerin und Musikerin sein. Aber auf der Bühne und in Deiner ganzen visuellen Präsentation musst Du eine Diva erschaffen. Es ist aber einfach nur ein Spiel.