Der Kampf um Land und Freiheit geht weiter

Die Schriften des mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magón erscheinen jetzt auf Deutsch. von jens kastner

Eine chaotische Menschenschlange vor dem Kartenschalter, Popcornverkäufer und Leute, die auf ausgebreiteten Decken Masken verkaufen. Vor dem Gimnasio Flores Magón ist die Hölle los. In der städtischen Halle in Oaxaca/Mexiko findet heute ein Lucha Libre statt. Das heißt übersetzt »Freier Kampf« und hat weniger mit Befreiung als mit Sport zu tun. Anders der Name des Austragungsortes: Die leicht marode Sporthalle ist nach Ricardo Flores Magón benannt. Die wenigsten Besucher, die sich an diesem Abend zur mexikanischen Version des Wrestling eingefunden haben, werden wissen, dass sie es im Zeichen eines Anarchisten tun.

In der offiziellen Geschichtsschreibung Mexikos taucht Flores Magón (1873 bis 1922) kaum auf. Dabei war er nicht nur der eigentliche Schöpfer der Parole »Land und Freiheit«, die bis heute so zentral für die indigenen und bäuerlich geprägten Revolten in ganz Lateinamerika ist. Die von ihm mitgegründete Liberale Mexikanische Partei (PLM) war ein Sammelbecken revolutionärer Bewegungen. Vor allem im Norden des Landes gelang ihr zeitweise, woran andere Organisationen oder Führungsgestalten stets gescheitert waren, nämlich syndikalistische Arbeiter und indigene Bauern zu vereinen. Auch inhaltlich war der so genannte Magonismus eine der radikalsten Strömungen der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920), in der es an verschiedenen Flügeln und Interessensgruppen nicht mangelte.

Davon kann sich nun auch überzeugen, wer des Spanischen nicht mächtig ist. Die Münsteraner Gruppe Basta hat einige seiner Texte wieder zugänglich gemacht. Das in der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte« erschienene Bändchen liefert neben den Originaltexten auch eine Chronologie der Revolution und setzt Magóns Schriften in den Kontext seiner Zeit.

Von ungebrochener Faszination ist dabei der heute geradezu kühne Gedanke, in einem radikalisierten Liberalismus individuelle Rechte mit gemeinschaftlichen Lebensformen zu versöhnen. Statt neoliberaler Eigenverantwortung sind Gerechtigkeit und Solidarität die Schlüsselbegriffe des magonistischen Kampfes gegen »Kapital, Obrigkeit und Klerus« wie auch gegen die Bourgeoisie. Orientiert an Organisationsformen der indigenen Gemeinschaften, erweist sich Magón als erbitterter Feind des Privateigentums. Ansonsten erscheint das Weltbild Magóns allerdings recht einfach gestrickt. In seinem Verständnis von Gesellschaft gibt es letztlich nur zwei antagonistische Gruppen, »die Ausbeuter und die Ausgebeuteten«.

Dennoch ist das Denken Magóns keinesfalls nur ein Fall für die Historiker der mexikanischen Revolution. Mit der deutschsprachigen Veröffentlichung ist auch die Möglichkeit geschaffen, Magón für die gegenwärtigen politischen und sozialen Auseinandersetzungen wieder zu entdecken. Das Buch schließt mit drei aktuellen Interviews, in denen Organisationen aus Oaxaca zu dessen Einfluss auf ihre heutigen Kämpfe um indigene Rechte Stellung nehmen. Darin wird u. a. auch sein journalistisches Engagement – die meisten Originaltexte entstammen der von Magón herausgegebenen Zeitschrift Regeneración (Erneuerung) – als wichtige Waffe gegen soziale Ungleichheit hervorgehoben.

Dass die Repression, der Magón Zeit seines Lebens ausgesetzt war und die in seinen Artikeln eine so große Rolle spielt, zur Durchsetzung von politischer Herrschaft trotz aller Konsens- und Kooptationsstrategien nicht verschwunden ist, bekommen gerade diese Gruppen zu spüren. Bereits in den ersten sechs Monaten der Amtszeit von Gouverneur Ulises Ruiz (Pri) sind nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten bereits so viele Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden wie in den drei Jahren davor zusammen. Die meisten davon sind Indígena-Aktivisten.

Ähnlich wie im Nachbarstaat Chiapas kämpfen in Oaxaca viele indigene Gemeinden für Autonomie, die sie auch ohne staatliche Erlaubnis zu organisieren versuchen. Ein Kampf, der ohne das Medieninteresse, das der zapatistischen Bewegung in Chiapas zuteil wird, noch gefährlicher ist. Von internationalen Beobachtern oder Sympathisanten fehlt beispielsweise in Oaxacas Stadtteil Sta. Lucía del Camino, wo der magonistische Populäre Indigene Rat von Oaxaca (CIPO-RFM) sein Büro hat, jede Spur. Die Organisierung muss weitgehend ohne die Unterstützung von internationalen NGO und Backpackers auskommen.

Die Masken, die vor der Sporthalle verkauft werden, sind auch keine Skimützen, wie sie die Zapatistas tragen, sondern die bunten Markenzeichen der Catcher und Catcherinnen (es finden tatsächlich auch Frauenkämpfe statt). Dass die Halle nach Magón benannt ist, ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass er in dem südöstlichen Bundesstaat geboren wurde, als seinen revolutionären Schriften oder Taten. Kollektive Erinnerung wie gegenwärtige Rechte müssen errungen werden. Der Kampf, da hat die Gruppe Basta sicherlich recht, geht also weiter.

Ricardo Flores Magón: Tierra y Libertad. Übersetzt aus dem Spanischen von Renée Steenbock, Unrast Verlag, Münster 2005, 179 S., 13 Euro