Er war Kriminalist, kein Rächer

Simon Wiesenthal ist tot. Über seine Biografie, sein Lebenswerk
und seine Feinde spricht beate klarsfeld

Wie sah Ihre erste Begegnung mit Simon Wiesenthal aus?

Ich habe eine besondere Erinnerung an die Zeit 1970/71, als ich ihn in Wien aufsuchte. Da war ich gerade auf dem Weg nach Prag, um gegen den Antisemitismus und die Restalinisierung zu demonstrieren. Ich ging zu Wiesenthal ins Büro, um ihn zu fragen, ob er mir helfen könne, unsere Aktion bekannt zu machen. Er erklärte mir, wie und wo ich in Prag Journalisten finden könne, die sich für das Thema interessieren. Wir hatten dann ein längeres Gespräch, an das ich mich ganz lebhaft erinnere. Er sagte, er unterstütze die Aktion. Ansonsten traf ich ihn immer mal wieder in Versammlungen.

Sie lebten zu der Zeit bereits seit zehn Jahren in Paris und arbeiteten mit Ihrem Mann Serge Klarsfeld daran, dass Nazis nicht straflos ein sorgenfreies Leben in der Nachkriegsgesellschaft führen konnten. Das verband Sie mit Simon Wiesenthal.

Wiesenthals Familie war ermordet worden. Er selbst hat mehrere KZ überlebt, er wusste also genau, was in den Vernichtungslagern geschehen war. Nach dem Krieg hat er sich ganz der Aufgabe gewidmet, die NS-Verbrecher vor Gericht zu stellen. Es ging darum, die zu identifizieren, die hauptsächlich für die Vernichtung der Juden verantwortlich waren.

Was unterschied die Arbeit des Büros Wiesenthal von der Arbeit der von Ihnen und Serge Klarsfeld gegründeten »Vereinigung der Töchter und Söhne von Opfern der deportierten Juden Frankreichs«?

Mein Mann …

… der seine Angehörigen durch den Holocaust verloren hat, …

… hatte eine erste Begegnung mit Wiesenthal im Jahr 1967. Mein Mann fragte ihn, ob er Informationen für eine Dokumentation über die NS-Vergangenheit des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger habe. Wir haben damals begriffen, dass Wiesenthal, der das Grauen in den Lagern am eigenen Leib erfahren hatte, sich vor allem darauf konzentrierte, diejenigen vor Gericht zu stellen, die persönlich an der Vernichtung beteiligt gewesen waren und Juden selber töteten.

1968 ohrfeigten Sie den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner NS-Vergangenheit. Das war keine Aktion, die Wiesenthal gutheißen wollte?

Kiesinger war Mitglied der NSDAP und stellvertretender Abteilungsleiter der rundfunkpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt gewesen. Für Wiesenthal besaß er keinerlei Priorität. Wir haben diesen Unterschied auch später während des Wahlkampfs von Kurt Waldheim in Österreich bemerkt. Ich habe mit Jugendlichen in Österreich vor der Wahl gegen Waldheim demonstriert. Für Wiesenthal war Waldheim nicht so wichtig. Wiesenthal war ja auch ein guter Freund des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Das war der Unterschied zwischen Wiesenthal und mir. Wir haben jedoch sehr viel Respekt vor Wiesenthal und der Arbeit, die er geleistet hat. Man muss auch bedenken, dass er am Anfang ziemlich alleine da stand; das Wiesenthal-Zentrum in Linz hat er zum Beispiel erst mal nur mit Unterstützung von Tuviah Friedmann geführt.

Wiesenthal hat sich selber als »Kriminalist« gesehen. Eine passende Berufsbezeichnung?

Ja, er hat auch wie ein Kriminalist gearbeitet. Nach dem Krieg war er die einzige Anlaufstelle, wo die Überlebenden hinkommen und berichten konnten, wen sie in den Lagern gesehen hatten und wo sie ihr Wissen über die Verbrecher weitergeben konnten. Er hat dann Informationen und Dokumente zusammengetragen, Unterlagen zusammengestellt und an die verschiedenen Staatsanwaltschaften geschickt, damit ermittelt werden konnte. Wiesenthal war einfach auch die treibende Kraft in vielen großen Prozessen.

Er hatte eine andere Arbeitsweise als wir. Ich bin durch die Welt gereist, um Klaus Barbie aufzuspüren, und habe auch zweimal in La Paz vor seinem Büro demonstriert und mich dort angekettet. Als ich damals für die Auslieferung von Walter Rauff in Chile demonstrierte, war Pinochet noch an der Macht. Damals sagte mir das Wiesenthal-Zentrum, so macht man das nicht. Sie haben stattdessen eine Kampagne mit Unterschriften und Briefen, »Dear Mister Pinochet«, gestartet.

Was war daran verkehrt?

Wir haben immer wieder gemerkt, dass es oft nichts nützte, sich an offizielle Stellen zu wenden oder die Akten zur Staatsanwaltschaft zu bringen. Wir hofften zwar, dass die Justiz ihre Arbeit tun würde, aber wir haben auch eine Menge dafür getan, damit sie ihre Aufgabe dann auch wahrnahm. Der Kölner Prozess Ende der siebziger Jahre gegen Lischka, Heinrichsohn und Hagen konnte nur stattfinden, weil die überlebenden Opfer sich dafür einsetzten. Die Initiative kam nicht von der Justiz. Am Ende wurden die Täter zwar verurteilt, aber ohne große Begeisterung.

Wenn man die Nachrufe und Würdigungen in deutschen und österreichischen Zeitungen liest, vergisst man leicht, dass Simon Wiesenthals Arbeit keineswegs immer schon erwünscht war. 1962, ein Jahr nachdem er sein Büro in Wien eröffnet hatte, wurde das Leben seiner Tochter bedroht. Wiesenthal konnte sich niemals wirklich sicher fühlen.

Ja, seine Arbeit in Wien fand unter ganz schwierigen Bedingungen statt, er wurde stark angefeindet, besonders in Österreich. Dort Kriegsverbrecher aufzudecken, war fast noch schwieriger als in Deutschland. Es gab auch nur sehr, sehr wenige Prozesse, die dort stattfanden. Wiesenthal hat sich dann ja auch mit Bruno Kreisky angelegt und deutlich gemacht, dass die NS-Verbrecher von einst in der FPÖ saßen, mit der der Sozialdemokrat Kreisky koalierte.

Warum stellte er sich anfangs vor den damaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim und nahm ihn sogar gegen Vorwürfe in Schutz?

Nach den Problemen mit Kreisky und der SPÖ fühlte er sich wohl eher dem Milieu der ÖVP, der Partei von Waldheim, nahe. An der Waldheim-Geschichte sieht man auch, wo Wiesenthal seine Prioritäten setzte. Genauso wie Kiesinger kein »Fall« für ihn war, war es auch der österreichische Bundespräsident nicht. Hinzu kam sicherlich auch, dass er in Österreich lebte und nicht noch mehr angefeindet werden wollte. 1982 explodierte eine Bombe von Neonazis vor seinem Haus.

Die Arbeit von Simon Wiesenthal endete in dem Moment, in dem er die Verbrecher vor Gericht gestellt hatte. Spricht daraus nicht auch ein großes Vertrauen in die Justiz?

Die Prozesse hatten eine große gesellschaftliche Bedeutung. Nehmen wir den Eichmann-Prozess in Israel. Der war sehr wichtig, nach der Verhandlung hat sich auch in Deutschland wieder etwas bewegt. Der Aufarbeitung von NS-Verbrechen wurde jetzt mehr Aufmerksamkeit zuteil, und die anderen Prozesse sind in Gang gekommen. Das hat die Öffentlichkeit aufgerüttelt, und es drang ins Bewusstsein, was die »Endlösung der Judenfrage« gewesen war.

Die Verhaftung Eichmanns war Wiesenthals größter Triumph. Welche Rolle spielte er bei seiner Festsetzung?

Dass es zum Prozess gegen Eichmann in Jerusalem kam, hatte sicherlich damit zu tun, dass Wiesenthal die Israelis antrieb, etwas zu tun. Dass Eichmann in Argentinien lebte, war ja kein großes Geheimnis, er lebte dort unter dem Namen Clement. Aber Wiesenthal hat es auf sich genommen, die Angelegenheit nicht ruhen zu lassen, nicht aus Rache, sondern aus Gerechtigkeit, wie er sagte.

Wiesenthal musste immer wieder betonen, dass es ihm um Recht, nicht um Rache geht. Ist es nötig gewesen, darauf hinzuweisen, dass es nicht diese jüdische Rächergestalt gibt, die sich manche herbeiphantasierten?

Diese Rächer hat es nie gegeben. Aber in vielen Geschichtsdarstellungen wurde von jüdischen Gruppen gesprochen, die NS-Verbrecher ermordeten. Das war nie der Fall gewesen. Es war immer der Kampf um die Gerechtigkeit.

Was sagt der Begriff »Nazijäger« aus?

Ich habe diese Bezeichnung immer abgelehnt. Ich habe immer gesagt, wir brauchen die gar nicht zu jagen, die meisten, die in Frankreich tätig waren, saßen in Deutschland, das waren Senatspräsidenten, Richter oder Bürgermeister wie Ernst Heinrichsohn in Miltenberg. Wiesenthal hat sowieso niemanden persönlich gejagt, also nicht in dem Sinne, dass er hinter den Leuten hergereist wäre. Es ging darum, Auslieferungen mit den Ländern, in denen sich die Täter aufhielten, auszuhandeln.

Worin besteht für Sie die eigentliche Leistung von Simon Wiesenthal? Lässt sich sein Lebenswerk überhaupt in Zahlen ausdrücken; sind es die über 1 100 Nazis, die er vor Gericht gebracht hat? Ist es die wissenschaftliche Arbeit? Oder ist es die ungeheure Kraft, mit der er sich als Überlebender dafür eingesetzt hat, dass die Mörder nicht straffrei davonkommen?

Der Name Simon Wiesenthal steht dafür, dass niemals vergessen wird, was der Holocaust war. Das ist sein Verdienst.Er war der erste und ist einer der letzten gewesen, die diese Aufklärung geleistet haben und dafür eingetreten ist, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt. Es gibt nur noch wenige Überlebende, viele gehen durch die Schulen und erzählen, was sie erlebt haben. Wiesenthal hat sich zu einem Zeitpunkt, als über Judenverfolgung noch gar nicht gesprochen wurde, mit den NS-Verbrechern beschäftigt. Die Wiesenthal-Zentren, die gegründet wurden, haben sich außerdem zur Aufgabe gemacht, gegen Antisemitismus und Rassismus heute vorzugehen. Es geht inzwischen ja nicht mehr so sehr darum, NS-Verbrechen aufzudecken. Das ist einfach nicht mehr so aktuell, die meisten Täter sind gestorben oder in so einem Zustand, dass man sie gar nicht mehr vor Gericht bringen kann. Es ist auch immer noch schwierig, eine Auslieferung zu erreichen. Die zehn ehemaligen SS-Angehörigen etwa, die ein italienisches Gericht im Juni in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilte, werden nie ihre Strafe absitzen müssen.

In einem Land werden die NS-Täter verurteilt, in Deutschland sind dann die Taten bereits verjährt, und es ist dann fast unmöglich, die Täter ins Gefängnis zu bringen. Wir haben es aufgegeben, uns noch damit zu beschäftigen.

Hat die ständige Beschäftigung mit den Tätern Wiesenthal verändert? War es eine Form von Bewältigung, sich immer wieder mit dem Schmerz zu konfrontieren?

Das war sicherlich qualvoll, denn er hatte ja gelitten, er war in vielen Lagern und hat seine Familie verloren. Auf jeden Fall war das schmerzlich, sich immer wieder mit den Tätern zu konfrontieren.

Wiesenthal hat oft von der Angst gesprochen, dass in ein paar hundert Jahren Lehrer ihren Schülern sagen könnten: »Im 20. Jahrhundert versuchte Hitler, in Europa ein großes Reich unter der Führung der Nationalsozialisten zu errichten. Zeitzeugen von damals behaupteten, er hätte versucht, die Juden Europas auszurotten. Es wird von Vergiftung der Juden in eigens dafür geschaffenen Lagern gesprochen. Tatsächlich scheint es zu Ausschreitungen gekommen zu sein, wenn diese Berichte auch stark übertrieben sein dürften.«

Dass es diese ganze Aufklärung gegeben hat, anhand der Prozesse; dass es das Centrum de la Shoah in Paris, die Topographie des Terrors, das Holocaust-Mahnmal, das Jüdische Museum in Berlin gibt, ist auch ein Resultat seines Engagements. Das alles ist auch für den zukünftigen Umgang mit dem Nationalsozialismus enorm wichtig. Denn wenn es keine Überlebenden mehr gibt, muss man versuchen, dass die Arbeit weitergeführt wird. Es sind hauptsächlich die Jugendlichen, mit denen man sich beschäftigen muss.

Simon Wiesenthal ist vergangene Woche in Israel beigesetzt worden. Seine Tochter lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in dem Land. Wie war sein Verhältnis zu Israel?

Er war ein großer Freund Israels, und er hat Kreisky ja auch deswegen so stark angegriffen, weil der als erster Arafat salonfähig machte. Erste Priorität der Israelis war allerdings nicht, die NS-Täter zu schnappen, sondern ihr Land vor den Bedrohungen, die vor allem von den arabischen Nachbarn ausgingen, zu schützen. Das ist Realpolitik. Uns haben die Israelis aber auch unterstützt, gerade als es darum ging, Kurt Lischka in den siebziger Jahren in Köln vor Gericht zu bringen. Aber selbst als Jäger aufzutreten, daran hatte Israel kein Interesse.

interview: kerstin eschrich und heike runge