Abschied von Miranda

Die Folterdebatte in den USA

von jörn schulz

Fernsehzuschauer und Kinobesucher in aller Welt kennen den Miranda-Hinweis. »Sie haben das Recht zu schweigen« und »Sie haben das Recht auf einen Anwalt«, sind die wichtigsten Mitteilungen, die jeder Polizist in den USA einem Verdächtigen vor dem Verhör machen muss. Der Miranda-Hinweis »ist ein Teil unserer nationalen Kultur geworden«, urteilte noch vor fünf Jahren William Rehnquist, damals der Vorsitzende des Obersten Gerichts der USA, das diese Regelung 1966 beschloss. Doch Rehnquist starb im September, und auch um den Miranda-Hinweis steht es nicht zum Besten.

Zumindest enemy combatants haben nach Ansicht der US-Regierung weder das Recht zu schweigen noch das Recht auf anwaltliche Vertretung. Regierungsvertreter bekennen sich zwar unermüdlich zum Folterverbot, versuchen aber ebenso unermüdlich, Methoden wie den Zwang, in schmerzhaften Stellungen zu stehen, als legitime Verhörtechniken darzustellen.

Bislang war die Justiz ein Hindernis für das Bestreben, einen rechtsfreien Raum für enemy combatants zu schaffen. In der vorigen Woche sah sich die Regierung gezwungen, den mutmaßlichen Terroristen Jose Padilla, der sich seit 2002 im Militärgewahrsam befindet, anzuklagen. Sie vermied damit eine Entscheidung des Obersten Gerichts, das im Juni 2004 den enemy combatants ein Appellrecht gegen ihre Inhaftierung zugestanden und das Justizministerium ultimativ aufgefordert hatte, zum Fall Padilla Stellung zu nehmen.

Doch nach Rehnquists Tod und dem Rücktritt seiner Kollegin Sandra Day O‘Connor hat Präsident George W. Bush die Möglichkeit, zwei Richterstellen mit Kandidaten zu besetzen, von denen befürchtet werden muss, dass sie seine Ansichten teilen. Mittlerweile gehen Juristen wie Alan Dershowitz, Rechtsprofessor in Harvard, davon aus, dass es nur noch um die Modaliäten der Folter gehe. »Die wirkliche Frage ist, ob diese Folter innerhalb oder außerhalb unseres Rechtssystems stattfindet«, schreibt er in der Los Angeles Times. Er befürwortet von Richtern ausgestellte »Foltervollmachten« (torture warrants). Und nur 32 Prozent der US-Bevölkerung lehnen nach einer Mitte November im Magazin Newsweek veröffentlichten Umfrage Folter unter allen Umständen ab.

Seit der amerikanischen Revolution sind die bürgerlichen Rechte Schritt für Schritt erweitert und zuvor ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen wie Frauen und Schwarzen zugesprochen oder von ihnen erkämpft worden. Nun aber entwickelt die US-Gesellschaft neue Ausgrenzungsmechanismen. Als Feind wird der »gefährliche Fremde« ausgemacht, der enemy combatant, der durchaus, wie Padilla, ein US-Bürger sein kann.

Gefoltert wurde schon immer, während des »schmutzigen Krieges« gegen die lateinamerikanische Linke vielleicht sogar häufiger und brutaler als heute. Doch während des Kalten Krieges beriefen sich beide Seiten auf ein gemeinsames System zivilisatorischer Normen. Der Vorwurf, man habe gegen sie verstoßen, wurde als kommunistische bzw. imperialistische Propaganda abgetan. Anders als im »war on terror« wäre aber niemand auf die Idee gekommen, die Normen selbst in Frage zu stellen, weil der Feind sie nicht achtet.

Was früher geleugnet wurde, wird heute öffentlich erwogen und gerechtfertigt. Linke fordern gern mehr Ehrlichkeit in der Politik. Die Heuchelei ist jedoch ein notwendiger Bestandteil der bürgerlichen Ordnung, denn sie bremst die Gewalttätigkeit des Staates und die Verrohung der Gesellschaft. Wenn sich niemand wegen seiner antihumanitären Ansichten oder Handlungen mehr schämen muss, wird es wesentlich leichter, das nächste Tabu zu brechen.