Datteln für ­Dissidenten

Opposition in Tunesien

von bernhard schmid

»Unsere Situation ähnelt der einer Person, die an inneren Blutungen leidet. Sie wird in der Notaufnahme des Krankenhauses abgewiesen, weil ihre Lage nicht dramatisch genug aussieht, denn es ist ja kein Blut zu sehen.« Mit diesen Worten beschrieb Naziba Rija vom Internetmagazin Kalima (Ein Wort) jüngst die internationale Wahrnehmung der tunesischen Gesellschaft unter der Diktatur von Präsident Zine al-Abidine Ben Ali. Im Gegensatz zu den Diktaturen des Mittleren Ostens erscheint Tunesien in den Augen der meisten westlichen Staatsbürger als mildes Mittelmeerparadies.

Man kann dort ausgesprochen billig Urlaub machen, und die Touristen in ihren Enklaven bekommen vom Alltagsleben der Bevölkerung in der Regel kaum etwas mit. Auch die meisten westlichen Regierungen, allen voran jene in Washington und Paris, betrachten Tunesien als eine Art Musterland in der Region. Ben Ali, der in den achtziger Jahren in US-amerikanischen Militärschulen ausgebildet worden ist und sich vom Geheimdienstchef und General zum Innenminister und Präsidenten hocharbeitete, steht an der Spitze eines als »gesinnungsfrei« und prowestlich geltenden Regimes, während Kritiker auf dessen mafiösen Charakter verweisen.

Seit dem »Weltgipfel zur Informationsgesellschaft«, der vom 16. bis 18. November in der Hauptstadt Tunis stattfand, spricht man in einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb Tunesiens erstmals über Internetzensur, Unterdrückung und die nach Angaben von amnesty international mindestens 600 »gewaltlosen« politischen Häftlinge.

Am 18. Oktober begannen acht Vertreter der »Zivilgesellschaft«, vorwiegend Ärzte und Anwälte, einen Hungerstreik für die politischen Gefangenen. Christophe Boltanski von der Pariser Tageszeitung Libération, der über seinen Besuch bei den Hungerstreikenden berichtet hatte, wurde vier Tage vor Eröffnung des Gipfels 40 Meter von einer Polizeiwache entfernt angegriffen. Der Messerstich verfehlte sein Rückgrat nur um einen Zentimeter. Kaum jemand hegt Zweifel daran, dass die Angreifer Polizisten in Zivil waren, und selbst Frankreichs Außenminister Philippe Douste-Blazy forderte das Regime zu »lückenloser Aufklärung« auf.

Die Hungerstreikenden haben ihre Aktion zwar nach einem Monat ohne konkrete Zugeständnisse abgebrochen. Was die internationale Aufmerksamkeit betrifft, haben sie ihr Ziel jedoch erreicht. Den Anlass zur Beendigung ihres Hungerstreiks lieferte ein Besuch der iranischen Anwältin und Dissidentin Shirin Ebadi, die ihnen symbolisch Datteln überreichte und sie aufforderte, ihr Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Ebadis Besuch war auch ein Schritt zu größerer oppositioneller Kooperation »von unten«, obwohl sie unter dem islamistischen iranischen Regime unter anderen Bedingungen kämpft.

Am Mittwoch voriger Woche kündigten die Teilnehmer am Hungerstreik an, gemeinsam ein »Komitee des 18. Oktober für das Recht und die Freiheiten« zu gründen. Von der ehemals maoistischen Kommunistischen Arbeiterpartei PCOT über liberal-demokratische und nationalistische Strömungen bis zu moderaten Islamisten, die sich eher am Vorbild der türkischen AKP als am iranischen Regime orientieren, waren alle bedeutenden Oppositionsströmungen im Unterstützerkomitee für den Hungerstreik vertreten. Der Anwalt Ayachi Hammami kündigte an, das neue Komitee werde, anders als bisher in Tunesien aktive, eher elitäre Menschenrechtsgruppen, die Opposition gegen Ben Ali auch auf die Straße tragen.