Volk ohne Warteraum

In der Schrift »Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager«
erklärte Martin Heidegger die Deutschen bereits am 8. Mai 1945 zu Opfern. Eine Nachlese von roger behrens

Im Winter 1933/34 erzählte mir ein aus Freiburg gekommener Student: »In der Umgebung Heideggers haben sie den Freiburger Nationalsozialismus erfunden. Hinter vorgehaltener Hand sagen sie, das wahre Dritte Reich habe ja noch gar nicht begonnen, das komme erst.«Carl Friedrich von Weizsäcker

In einer Bibliothek griff ich vor kurzem zufällig in der Philosophieabteilung nach einem schmalen Band von Martin Heidegger, der fingierte Gespräche enthält, drei »Feldweg-Gespräche«. Es handelt sich um den Band 77 der Gesamtausgabe. Allein der in der Tat beeindruckende Umfang der Werkausgabe, aber auch die Bedeutung, die Heideggers »Fundamentalontologie«, der, wie er es nannte, »Explikation der Frage nach dem Sinn des Seins«, heute noch auch in linken Theoriedebatten zukommt, ja überhaupt seine exponierte Stellung in der Gegenwartsphilosophie übten eine zweifelhafte Anziehungskraft aus, die mich in dem Band blättern ließ.

»Eine gute Nacht uns beiden und allen im Lager (…) Und der Heimat den Segen ihrer Bestimmung.« So endet das letzte Gespräch, ein »Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager«, versehen mit der Notiz: »Schloss Hausen im Donautal, am 8. Mai 1945. / Am Tage, da die Welt ihren Sieg feierte / und noch nicht erkannte, dass sie seit / Jahrhunderten schon die Besiegte ihres / eigenen Aufstands ist.« Ein »Gedicht, worin vielleicht doch etwas Gedichtetes verborgen ist«, wie Heidegger meinte. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein miserables Gedicht, in dem die ganze deutsche Ideologie Heideggers »Denken des Inhumanen«, wie der Philosoph und Universitätsprofessor Hassan Givsan es nennt, ihren Ausdruck findet.

Das Kriegsgefangenenlager, in dem Heidegger das Gespräch stattfinden lässt, befindet sich in der Sowjetunion; die sozialistische Republik wird allerdings in dem Text kein einziges Mal erwähnt, lediglich von »Russland« ist die Re­de, und zwar von der Vorstellung »des weiten Waldes«, der »sich verhüllenden Weite, die in diesen Wäldern Russlands um uns weilt«, denn »das Geräumige, das in der Weite waltet, bringe uns etwas Befreiendes zu«. Nicht gemeint ist damit und nicht erwähnt wird die Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus durch die ­alliierten Truppen; Heidegger schreibt am letzten Tag des »Deutschen Reichs«, erwähnt aber mit keinem Wort den Nationalsozialismus. Es geht stattdessen um das Volk, die Deutschen, das Wesen des Deutschen, das Wesen des Volks, das Volk der Dichter und Denker, das Wesen des Dichtenden und Denkenden und allerlei mehr.

Heidegger verbrämt dies in dem Gespräch ontologisch, behandelt die Begriffe »Volk« und »Deutsch« als eine Art Grundworte des Seins. Das eigentliche Problem der Gegenwart besteht für ihn darin, dass dieses Sein verborgen, nicht zugänglich sei. Heidegger spricht wie bereits im Jahr 1927 in seinem Buch »Sein und Zeit« von der »Seinsvergessenheit«; die Welt sei von einer »Verwüstung« heimgesucht, lautet das Grundthema des Gesprächs. »All die Jahre des Kriegsdienstes hindurch, ja in gewisser Weise schon vorher in der Zeit des Universitätsstudiums war mir, als sei mein Wesen zugemauert und als Ganzes ausgestoßen aus der freien Weite des Denkens, das ich wie ein fernes Land doch um dieselbe Zeit ahnen durfte und ahnen lernte.« Es sei eine Verwüstung, die 1945 »über der Heimaterde und ihren ratlosen Menschen lagert«. Doch »diese Verwüstung sei keineswegs erst die Folge der Weltkriege, sondern die Weltkriege seien ihrerseits schon und nur eine Folge der Verwüstung, die seit Jahrhunderten die Erde anzehrt«.

Es ist anzunehmen, dass Heidegger bei den Kriegsgefangenen, die er hier miteinander reden lässt, an seine beiden vermissten Söhne dachte: Soldaten der deutschen Wehrmacht, aufgehalten auf dem Weg des Terrors gegen die Sowjetunion. Doch in Heideggers Lagergespräch taucht kein Soldat auf, nur der Kriegsdienst; kein Toter, kein einziger Mord, kein Verbrechen. Gleichwohl hält er sich aber auch mit jeder möglichen Beschreibung der konkreten Situation der Gefangenen zurück; es gibt nur die beiden Gesprächspartner, den »Jüngeren« und den »Älteren«, die namenlos im Nirgendwo der russischen Weite »warten«. Sie warten aber nicht auf ihre Freilassung oder auf den nächsten Tag; es gibt keine Lagerordnung, keinen Befehl, keine Strafe, keine Zellen oder Baracken, keine Erinnerung an andere, keine Mitgefangenen. Sie sind alleine.

Es ist keine Fiktion, mit der Heidegger hier aufwartet – wie etwa Günther Anders, der in seinem antifaschistischen Märchengespräch »Die molussische Katakombe« eine negative Utopie entwirft, in der die Welt nicht einmal mehr einen Ausdruck, ein Gesicht hat (in Anders’ Buch tritt Heidegger, genannt »Regedie«, übrigens als Staatsphilosoph auf). Heidegger zielt mit seinem »erdachten Gespräch« auf das Gegenteil einer Fik­tion, nämlich auf das Sein selbst. Das Gespräch ist ein sokratischer Dialog: als Grund und Gegengrund, Selbstfindung des Gesuchten, als die »Rückkehr zu sich selbst«. »Wir werden nur, nach einem alten Wort, die, die wir sind (…) Und wir sind nur, nach einem jungen Wort, das, was wir suchen (…) Und wir suchen nur, dessen wir warten (…) Und wir warten dessen, wohin wir gehören (…) Wir gehören aber dem Kommenden als die Gegenwart, die antwortend es einlässt.«

Das Gespräch ist als Form nicht beiläufig gewählt. Das Thema ist ihm nicht äußerlich, sondern sein unmittelbarer Ausdruck; für Heidegger ist das Gespräch selbst das Denken als, wie es bei ihm heißt, »Andenken des Seins«. Er versucht ontologisch, das Wesen des deutschen Volkes zu entwerfen, die beiden Sprechenden sind vor allem Deutsche. Sie reden nicht nur über das Volk der Dichter und Denker, sondern sie selbst sind der Dichtende (der Jüngere) und der Denkende (der Ältere), das Volk an sich. Mit den beiden Figuren ist sozusagen das ganze deutsche Volk in Gefangenschaft geraten. Es steht aber nicht wegen der von ihm begangenen Verbrechen zur Verurteilung vor dem Weltgericht, denn selbstverständlich kommen bei Heidegger weder Ausch­witz noch die Rassenideologie vor.

Nach Heidegger vermag kein Mensch über das deutsche Volk zu richten, weil es noch gar nicht deutsch und das Volk ist; wenn aber ein Volk werden beziehungsweise warten kann, dann das deutsche. »Das Warten ist ein Steg, der unseren Gang trägt, auf dem wir werden, die wir sind, ohne sie schon zu sein: die Wartenden (…) Im Warten sind wir reine Gegenwart.« Und nicht nur das: »Dann wäre ja das Volk der Dichter und Denker das in einem einzigen Sinne wartende Volk (…) Das Volk, das erst und vielleicht eine lange Zeit noch auf die Ankunft dieses seines Wesens warten muss, damit es wartender werde für das Kommen, worin schon die Verwüstung als etwas Vergangenes übergangen ist (…) Dieses wartende Volk wäre, zumal in der Zeit, da ihm noch sein Wesen entginge, eben diesem noch unerfahrenen wartenden Wesen zufolge gefährdet wie kein anderes (…) Diesem Volk müsste auch, wenn es einmal das wartende würde, gleichgültig bleiben, ob die Anderen es hörten oder nicht.«

Das ist die Lehre, die das NSDAP-Mitglied Heidegger aus der »deutschen Kapitulation«, wie die Herausgeberin der Gesamtausgabe, Ingrid Schüßler, es nennt, zieht, im Jahr 1933 hatte er als Rektor der Freiburger Universität den Studenten noch versprochen: »Die nationalsozialistische Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins (…) Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.«

Der Philosoph Victor Farias hat in dem Band »Heidegger und der Nationalsozialismus« deutlich gemacht, inwiefern Heidegger kein Anhänger des Nationalsozialismus war, sondern Faschist im Sinne der SA, Anhänger der Arbeitsfront und des Röhm-Flügels. Das italienische Wort »Faschismus« kommt im übrigen von »Sammlung«; auch die Sammlung hat bei Heidegger ontologisch Bedeutung. Sozialismus, Nationalsozialismus und Demokratie sind bei Heidegger bloße »Weltanschauungen«, die in den »Herrschaftsbereich der Verwüstung« gehören. In der »Beilage« zu dem Gespräch heißt es: »›Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität (in die Brutalität)‹. (Römische Namen!)«

Die nationale, d.h. die geburtsmäßige Bestimmung des Deutschen nach »Blut und Boden« war Heidegger gewissermaßen nicht deutsch genug, noch zu seinsvergessen. »Doch Deutsche werden wir solange nicht, als wir uns vornehmen, ›das Deutsche‹ durch Zergliederung unserer vermeintlichen ›Natur‹ ausfindig zu machen. In solche Absichten verfangen jagen wir nur dem Nationalen nach, das doch, wie das Wort sagt, auf Naturgegebenes pocht (…) Die Nationalität ist nichts anderes als die reine Subjektivität eines Volkes, das sich auf seine ›Natur‹ beruft als das Wirkliche.« Schließlich schreibt er: »Wenn wir aber Deutsche sind, verlieren wir uns auch nicht in einen verschwommenen Internationalismus.« Denn: »Das Nationale und das Internationale sind so entschieden das Selbe.« So könnten die Deutschen noch gar nicht sagen, was sie »eigentlich sind«, weil »wir als die Wartenden die längste Geschichtszeit vor uns haben«. Die Deutschen »müssen das Warten lernen« und dies »als Lernende den Völkern lehren«.

Heute, 60 Jahre später, suggeriert die ­offizielle Politik, dass sich das Warten gelohnt habe. Die Verbrechen des »Dritten Reichs« erhalten eine Generalamnestie, weil die Deutschen die »verblendete Irreführung des eigenen Volkes« durch einen Wahnsinnigen erkannt haben. Man plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit, und zwar auf die Hitlers, nicht auf die eigene. Betrogen wurden die Deutschen eben nicht wie der Idiot, dem man irgendwelches Talmi als Gold andreht, sondern irregeführt wurde das Wesen des deutschen Volkes selbst, das sich immer schon verloren glaubte und ohnehin seit langem unter der Verwüstung litt: »Denn die Verwüstung, die wir meinen, besteht ja nicht nur erst seit gestern. Sie erschöpft sich auch nicht im Sichtbaren und Greifbaren. Sie kann auch nie durch eine Aufzählung der Zerstörungen und der Auslöschung von Menschenleben verrechnet werden, gleich als sei sie nur deren Ergebnis.«

Es kommt nicht von ungefähr, dass der Katholik Heidegger in den dreißiger Jahren in Hitler gleichsam eine religiöse Rettung sah, nach 1945 indes proklamierte, dass nur noch ein Gott »uns« retten könne. Es passt vortrefflich zu einer kollektiven Gesinnung, die ihre Vergangenheit als Kinoerlebnis erledigt, während nebenbei zum neuesten Konsens wird, sich über alle Konfessionen und Konfessionslosigkeit hinweg zu Gott und zum deutschen Papst zu bekennen.

60 Jahre nach der Befreiung will es scheinen, als hätten die Alliierten die Deutschen auch vom eigentlichen Sinn befreit, der mit dem Wirtschaftswunder, dem Arbeiter- und Bauernstaat und schließlich der Vereinigung einen vorläufigen Ersatz fand. »Der Krieg entscheidet nichts. Die Entscheidung beginnt jetzt erst sich vorzubereiten – auch und zumal allem vorauf die, ob die Deutschen als die Herzmitte des Abendlandes vor ihrer geschichtlichen Bestimmung versagen und das Opfer fremder Gedanken werden.« (S. 244) Wenigstens ein halbes Jahrhundert blieb diese Bestimmung halbwegs aus, kraft der Befreiung bringenden fremden Gedanken. Heute scheint das Deutsche als Eigenes und ohne jede Identität mit dem Fremden zurückgekehrt.

Heidegger erklärt bereits am Tag der Befreiung die Deutschen zu Opfern, die sich nur selbst befreien könnten, indem sie ihr wahres Wesen erwarteten beziehungsweise kommen ließen. Damit behauptet er weder, wie heute geschichtsrevisionistisch üblich, dass die Deutschen auch Opfer sind (nicht nur Täter), noch dass auch die Deutschen Opfer sind (nicht nur die Juden etc.); vielmehr betont er, dass nur das deutsche Volk Opfer ist, weil der Opferstatus eine bestimmte Dimension des Seins ist, welche nur dem Deutschen zukommt: als Dichter und Denker. Heidegger ontologisiert das Deutsche als Opfer und die Opfer als deutsch. Damit postuliert er gleichwohl den Grund, auf dem sich die deutsche Ideologie der postfaschistischen Gesellschaft erhebt: dass das Deutsche nicht als historische Kategorie zu begreifen ist, sondern als Gesinnung erfahren werden muss.

Was Heidegger zu bieten hat, ist eine schlecht durchdachte, redundante Pseudophilosophie, gespickt mit unsäglich bescheuerten Gedichten und gestelzten Gesprächen. Sie wird, wie alles Deutsche, von den Deutschen ernst genommen: als Aufruf, das Deutsche daran ernst zu nehmen. Gegen solches Pathos des Absoluten, das heute sein Echo in der Selbstverliebtheit des neuen Deutschlands findet, kann man philosophisch ernsthaft eigentlich und ohne abzuwarten nur erwidern: Deutsche, hört auf zu denken!