Russland drückt aufs Gaspedal

Über den Energiesektor und neue Bündnisse versucht Russland, Teile seiner alten Macht zu bewahren. Westlichen Einfluss blockt es wieder mehr ab. von jörg kronauer

Gaskrieg eskaliert!« Die Überschriften, die Anfang der vergangenen Woche die Titelseiten der Tagespresse füllten, weckten barbarische Assoziationen. »Starre Fronten im Gaskrieg« wurden diagnostiziert, man las von Spekulationen über den »Sieger im Gaskrieg« und von »Wahlkampf unter der Gasmaske«. Erleichterung gab es erst zur Wochenmitte: »Gaskrieg zu Ende«, hieß es da. Die Regierungen Russlands und der Ukraine hatten ihren geostrategisch motivierten Disput, ausgetragen nicht etwa mit chemischen Waffen, sondern auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, vorläufig eingestellt.

Eine neue Ära?

Verglichen mit den kriegerischen Tönen in den westlichen Medien, mutet das Ergebnis der russisch-ukrainischen Auseinandersetzung recht prosaisch an. Die Ukraine zahlt für russisches Gas in Zukunft die üblichen Weltmarktpreise und erfüllt damit eine Forderung des russischen Monopolisten Gazprom. Russland nimmt seine Lieferungen an die Ukraine wieder auf und leitet weiterhin billigeres turkmenisches Erdgas durch seine Pipelines in das westliche Nachbarland. Erwartungsgemäß entfallen die Sonderkonditionen, die Gazprom den russischen Bündnispartnern gewährt, für das Land der »orangenen Revolution«, das entschlossen ist, zur Nato und zur EU überzulaufen.

Nüchtern analysiert Alexander Rahr den russisch-ukrainischen Konflikt. Rahr ist Programmdirektor des »Körber-Zentrums Russland/GUS«, einer von drei »Programmgruppen Strategische Regionen«, die die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unterhält. Das Körber-Zentrum ist laut Selbstdarstellung »ein Kontakt- und Analysezentrum an der Schnittstelle zwischen der EU und ihren neuen Nachbarn im Osten«. Rahr gilt als einer der maßgeblichen Experten für Russland und seine Nachbarstaaten. Er schreibt: »Der eskalierte Gaskrieg zwischen Moskau und Kiew verdeutlicht den Beginn einer neuen Ära im Verhältnis Russland-Westen.«

Vor allem drei strategische Elemente fallen ins Gewicht, will man die »neue Ära« im Verhältnis zwischen Russland und den westlichen Staaten, die Rahr zu erkennen meint, charakterisieren. Zwei davon sind allerdings uralt. Das gilt für die hartnäckigen Versuche der EU und der USA, den Einfluss des Kreml zurückzudrängen, die russische Peripherie nach Westen zu orientieren und die konkurrierende euro-asiatische Großmacht in die Knie zu zwingen. Das gilt aber auch für die enge, zweckorientierte Kooperation auf dem Energiesektor, die den westlichen Staaten Erdöl und Erdgas sichert und Russland dringend benötigtes Geld garantiert. Neu ist hingegen: Die russische Regierung nimmt die europäisch-amerikanische Herausforderung nicht mehr tatenlos hin.

Schmerzliche Verluste

Die europäisch-amerikanischen Offensiven gegen den Kreml sind seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 nicht zum Stillstand gekommen. Geographisch zieht sich der Bogen der russischen Niederlagen seither vom ehemaligen Jugoslawien über Moldawien und die Ukraine bis in den Kaukasus. Auch Belarus und die fünf zentralasiatischen Republiken sind heftigen westlichen Einflussversuchen ausgesetzt. Drei Staaten, die noch vor 15 Jahren zum sowjetischen Territorium gehörten, sind inzwischen sogar der Nato beigetreten: Estland, Lettland und Litauen.

Die Serie russischer Niederlagen begann mit dem Überfall auf die Bundesrepublik Jugoslawien im März 1999. Durch den Krieg wurde die Regierung in Belgrad, ein europäischer Partner Russlands, noch stärker als zuvor geschwächt. Der Kreml protestierte scharf gegen die westlichen Militärschläge, beteiligte sich danach widerstrebend an der Besetzung des Kosovo. »Schließlich ist es uns nach großen Anstrengungen gelungen, Russland wieder einzubinden«, resümierte der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Oktober 1999 zufrieden. Im Oktober 2000 wurde die jugoslawische Regierung endgültig durch prowestliche Kräfte gestürzt. Auch die russische Truppenpräsenz im ehemaligen Jugoslawien, die bereits 1992 im Rahmen eines UN-Einsatzes eingeleitet worden war, hatte keinen Bestand. Im Sommer 2003 verließen die letzten russischen Soldaten das faktisch in sechs Teile zerschlagene Land, während die Truppen des Westens blieben.

Wenig später büßte Russland auch an Einfluss in Georgien ein. Durch einen Umsturz im November 2003 gelangte eine Regierung an die Macht, die seither den Anschluss an den Westen noch schneller und kompromissloser vorantreibt als der gestürzte Staatspräsident Eduard Schewardnadse. Man habe sich »auf den unumkehrbaren Weg der Integration in die europäischen Strukturen begeben«, erklärte die neue Regierung wenig später und ließ vor dem Parlament in der georgischen Hauptstadt die EU-Flagge hissen. Präsident Micheil Saakaschwili, den seine erste Auslandsreise im Amt nach Berlin führte, dankte der Bundesregierung für die »umfangreiche Nothilfe« beim Machtwechsel. Inzwischen hat Russland mit der Auflösung seiner Militärbasen in Georgien begonnen, mit deren Hilfe es sich in schwer durchschaubare innere Konflikte des Landes einmischen konnte – ein weiteres Anzeichen für seinen Einflussverlust.

Im Kaukasus reichen die westlichen Avancen unmittelbar in russisches Hoheitsgebiet hinein. Mitglieder der selbst ernannten tschetschenischen Untergrundregierung, die Krieg gegen den Kreml führt, halten sich in Großbritannien und den USA, aber auch in Deutschland auf und verfügen dort über Kontakte bis in Regierungskreise hinein (Jungle World, 28/04). Said-Khassan Abumuslimow, ein Beauftragter der Untergrundregierung, verkehrt regelmäßig an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, wo er im »Wissenschaftlichen Forum für Internationale Sicherheit« mitarbeitet. Dessen Geschäftsführer, Hans Krech, hat bereits vor vier Jahren in einer Analyse benannt, was Militärkreise durchaus für möglich halten (und weshalb sie schon jetzt den Kontakt zur tschetschenischen Untergrundregierung suchen): »Russland wird Tschetschenien verlieren.« Danach könne der Kreml gezwungen sein, »auch den gesamten Kaukasus und seinen Einfluss in Zentralasien« preiszugeben.

Die Gegner formieren sich

Besonders hart traf Russland der Regierungswechsel in der Ukraine im Dezember 2004 (Jungle World, 51/04). Die damals in Kiew an die Macht gelangte Juschtschenko-Regierung strebt im Gegensatz zur Vorgängerregierung die Integration des Landes in die Nato und die EU an und betreibt eine intensive antirussische Bündnispolitik. Zunächst versuchte sie es mit »Guam«, einem prowestlichen Zusammenschluss von Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien. Den Zweck der Übung enthüllt ein Blick auf die Weltkarte. Es geht um allgemeine geostrategische Positionsgewinne gegenüber Russland, das eine »Einkreisung« durch die Nato und die EU befürchtet. Es geht aber auch darum, die Transitroute für die immensen Energievorräte rings um das Kaspische Meer zu sichern – damit erhält der Westen die Möglichkeit, Erdöl und Erdgas über Aserbaidschan, Georgien und die Ukraine zu importieren und Lieferungen über russisches Territorium zu vermeiden. Die im vergangenen Jahr in Betrieb genommene Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline bildet den Ausgangspunkt dafür, nimmt allerdings noch den Umweg über die Türkei.

Offen gegen Russland gerichtet ist auch die Anfang Dezember in Kiew aus der Taufe gehobene »Gemeinschaft der demokratischen Wahl«, ein Zusammenschluss der Ukraine mit Moldawien, Rumänien, Mazedonien, Slowenien und den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. »Mittels dieser Organisation soll die von Moskau dominierte Gus geschwächt und das Feld für eine dritte Nato-Osterweiterung geebnet werden«, erläutert der DGAP-Programmdirektor Rahr. Ebenso wie Guam »dient die Organisation dem Aufbau einer alternativen Energieallianz mit dem Westen – in Umgehung Russlands«, schreibt der Berliner Regierungsberater. Auch hierbei geht es um den Transport der kaspischen Rohstoffe, die dem russischen Zugriff gänzlich entzogen werden sollen, in Richtung Westen.

Machtfaktor Energie

Energierohstoffe sind in Russland ein besonders empfindliches Thema. Der westlichen Avancen ausgesetzte Staat besitzt außer seinen Atomwaffen und den Rohstoffen nichts, worauf sich globale Macht aufbauen ließe. Auf das Erdöl und vor allem auf das Erdgas setzt der Kreml, seit Wladimir Putin als Präsident amtiert. Hilfreich ist dabei vor allem der Monopolist Gazprom, der 60 Prozent der russischen und damit mehr als 16 Prozent der weltweiten Erdgasvorkommen kontrolliert und eng an die Regierung in Moskau angebunden ist. Putin hat den ehemaligen Staatskonzern, der 1993 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, wieder mehrheitlich in Staatsbesitz überführt. Der Vorstandsvorsitzende der Gazprom, Alexej Miller, gilt als enger Putin-Vertrauter, ebenso der Aufsichtsratsvorsitzende und erste stellvertretende Ministerpräsident des Landes, Dmitrij Medwedjew, der als möglicher Nachfolger des gegenwärtigen Präsidenten im Gespräch ist.

An den russischen Energierohstoffen herrscht weltweit Interesse. Die Vereinigten Staaten bemühen sich darum, Japan und die Volksrepublik China ebenso, die EU ohnehin. Die 25 EU-Staaten beziehen rund 44 Prozent ihrer Erdgasimporte aus Russland – mit steigender Tendenz. Die internationale Konkurrenz um die vom Kreml kontrollierten Ressourcen ist groß, die russische Regierung versucht dies zu nutzen, um ihre Macht zu konsolidieren. Dabei räumt sie Deutschland eine hervorgehobene Rolle ein. Die »Energieachse Berlin-Moskau« ist mit der North European Gas Pipeline (»Ostsee-Pipeline«) erst kürzlich wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt.

Russland benutzt »seine neue Stellung als Energie-Imperium, um seine eigenen strategischen Interessen, vor allem im postsowjetischen Raum, härter durchzusetzen«, meint Rahr. Hier hat auch der Streit mit der Ukraine um die Erdgaspreise seine Ursache. Da es nicht gelungen ist, mit Sonderkonditionen für den Bezug des Rohstoffs außenpolitische Kooperation zu erkaufen, soll wenigstens ein höherer Gewinn die Gazprom-Kassen füllen.

Russland »verzichtet auf das nutzlose Liebäugeln mit den auf den Westen pochenden Regimes und will jetzt seine eigenen Interessen durchsetzen«, urteilt Alexej Makarkin, der stellvertretende Direktor des Moskauer Zentrums für politische Technologien. »Daraus resultiert eine spürbare Verhärtung der rus­sischen Gaspolitik gegenüber den Mitgliedsländern der Gemeinschaft der Demokratischen Wahl.« Inzwischen hat auch Bulgarien dies zu spüren bekommen: Das Land, das im Dezember an den Verhandlungen um die Gemeinschaft der Demokratischen Wahl beteiligt war, wird in Zukunft ebenfalls Weltmarktpreise für russisches Erdgas zahlen müssen.

Bündnisse gegen den Westen

Auch bündnispolitisch ist Russland seit geraumer Zeit auf Konfrontationskurs gegenüber der Offensive des Westens. An Bedeutung gewinnt dabei die Shang­hai Cooperation Organization (SCO), ein 1996 gegründeter sicherheitspolitischer Zusammenschluss, dem Russland, die Volksrepublik China sowie vier Staaten Zentralasiens angehören (Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan). Die SCO hat im vergangenen Jahr zum ersten Mal ihre Durchschlagskraft bewiesen, als Usbekistan die Vereinigten Staaten aufforderte, ihren Militärstützpunkt in Khanabad zu schließen. Die Initiative dazu sei aus Russland gekommen, vermuten Beobachter. Die US-Truppen sind inzwischen aus Usbekistan abgezogen, der deutsche Stützpunkt in Termez bleibt jedoch aufrecht erhalten – neben der »Ostsee-Pipeline« ein weiterer Hinweis auf die Sonderrolle unter den westlichen Staaten, die Russland und seine Verbündeten Deutschland einräumen. Und der nächste Schlag bleibt nicht aus. Kirgisien verlangt jetzt von der US-Regierung eine Erhöhung der Mietzahlungen für den kirgisischen Luftwaffenstützpunkt Manas von zwei auf 200 Millionen Dollar jährlich.

Die SCO hat im vergangenen Jahr gewaltig Auftrieb erhalten. Neben den sechs Vollmitgliedern gehören ihr vier Staaten mit Beobachterstatus an: die Mongolei, Indien, Pakistan und der Iran. Die russische Atompolitik gegenüber dem Golfstaat (siehe Seite 6), die den US-Interessen diametral entgegensteht, wäre ohne die SCO-Bündnisbestrebungen kaum denkbar und verdeutlicht die Auswirkungen, die der neue Zusammenschluss bereits jetzt auf das internationale Machtgefüge hat. Die SCO könnte übrigens bald neuen Zuwachs bekommen. Anfang Dezember kündigte der belarussische Staatspräsident Alexander Lukaschenko an, der das Land von westlichen Umsturzplänen bedroht sieht, er wolle dem noch jungen Bündnis beitreten.

Es wird kühler

Die energiepolitische Konsolidierung und die Erfolge der SCO erlauben es dem Kreml, die eigenen Interessen gegenüber der EU und den USA wieder offener zu vertreten. Russland wolle offenbar nicht »Teil des Westens werden«, stellt Rahr konsterniert fest, er sieht eine »neue Eiszeit« im beiderseitigen Verhältnis aufziehen. Jüngstes Beispiel ist das in der europäischen Presse heftig kritisierte »NGO-Gesetz«, das der russische Föderationsrat Ende Dezember verabschiedet hat. Das Gesetz ermöglicht es, ausländischen Organisationen die Zulassung zu verweigern, wenn sie die Souveränität, die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit des Landes bedrohen. Damit behält sich die russische Regierung ausdrücklich vor, gegen westliche Unterstützung für ausgebootete, oppositionelle Fraktionen der einheimischen Eliten einzuschreiten und damit weitere Umstürze à la Ukraine zu verhindern.

Das offensivere Vorgehen des Kreml gegen westliche Einmischungen ist tatsächlich neu. Zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion steht etwa die Tätigkeit der deutschen parteinahen Stiftungen (Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung u.a.) auf dem Spiel. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hat diese Stiftungen, die gewöhnlich als harmlose »zivilgesellschaftliche« Organisationen auftreten, einst als »wirksamste Instrumente der deutschen Außenpolitik« bezeichnet – zu Recht. Sollten sie in Russland zu offensiv für deutsche Interessen eintreten, könnten sie in Zukunft mit dem »NGO-Gesetz« in Konflikt geraten.

Deutliche Schwierigkeiten hat bereits jetzt die Deutsche Welle. Ende Dezember unterbanden die russischen Behörden eine Woche lang die Radio-Ausstrahlung des regierungsfinanzierten deutschen Auslandssenders, der in seinem russischsprachigen Programm offensiv wie kaum ein anderes Medium für prowestliche Oppositionskreise in Russland und seinen Nachbarstaaten eintritt (Jungle World, 42/05). »Eine sehr heikle Angelegenheit«, heißt es über die Sende­unterbrechung unter den Verantwortlichen der Deutschen Welle; die endgültige Entscheidung darüber, ob das Bonner Auslandsradio in Russland weiter senden darf, steht noch aus. Wie auch immer sie ausfallen wird – der Kreml hat demons­triert, dass er die westlichen Einmischungen nicht mehr hinnehmen will. Eine politische Entscheidung, die für die Zukunft reichlich Konfliktpotenzial birgt.