Der durchs Feuer ging

Nach dem Wahlsieg von Evo Morales reiht sich Bolivien unter die von linken Präsidenten regierten Staaten Lateinamerikas ein. von andrés peréz gonzález, santiago de chile

Seinen ersten Konflikt bestritt Evo Morales im Alter von fünf Jahren: Er stürzte sich ins Feuer, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erregen, die, mit Hausarbeit beschäftigt, vergessen hatte, ihm etwas zu essen zu geben. »Das war sein großer Protest als Kind«, erinnert sich seine Schwester Esther, die ihren Lebensunterhalt auf einem Bauernhof in der Stadt Oruro verdient, indem sie Fleisch verkauft.

Der kämpferische ehemalige Anführer der Kokabauern gewann die Präsidentschaftswahlen am 18. Dezember mit 54 Prozent, seit der Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1982 hat kein Kandidat einen so hohen Stimmenanteil erhalten. Wenn er am 22. Januar sein Amt antritt, wird er der erste indigene Regierungschef im ärmsten Land Südamerikas sein.

Es wurde bereits angekündigt, dass der 46jährige Angehörige der Aymara an diesem Tag zwei Zeremonien abhalten will: die offizielle im Kongress in La Paz, in der er weder mit Anzug noch mit Krawatte glänzen will, und eine andere nach indigenem Ritual auf einem zentral gelegenen Platz der Hauptstadt. Von diesem Tag an, so hat Morales erklärt, »wird die neue Geschichte Boliviens beginnen«, die angeblich dem seit der Gründung der Republik vor 180 Jahren währenden Ausschluss von Indígenas und anderen Teilen der Bevölkerung ein Ende bereiten wird.

Sein designierter Vizepräsident ist der Soziologe und ehemalige Guerillero Álvaro García Linera, ein Theoretiker der Indígena-Bewegung. Im Gespräch mit der Jungle World prophezeite er bereits im Juni 2002: »Bolivien wird bei den Wahlen sehr polarisiert sein, zwischen einer erneuerten Rechten, möglicherweise mit (Jorge) ›Tuto‹ Quiroga an der Spitze, und der Gruppe der sozialen und indigenen Bewegungen. Sogar ich wage zu denken, dass dieser Konflikt jenseits der Wahlen ausgetragen wird, und noch vor den Wahlen. Deshalb sage ich, dass wir vor dem Übergang zu einem neuen Staat stehen, und das muss nicht unbedingt gewaltsam vor sich gehen. Klar ist, dass man von diesem Staat nichts mehr erwarten kann. Weder verführen die Glaubensrichtungen noch sind die Institutionen stabil, und auch die sozialen Kräfte verändern sich. Deshalb muss man den Gesellschaftsvertrag erneuern, und damit handelt es sich um einen neuen Staat, der seine Diskurse neu bestimmen muss.« Das ist das Ziel der neuen Regierung in einem Land, das einige bereits als »gescheiterten Staat« beschreiben.

Der bolivianische Journalist Humberto Vacaflor sagte der Jungle World: »Der Sieg von Morales macht gerade die Hoffnungen zunichte, die auf die Zerstörung oder zumindest Aufspaltung Boliviens zielen. Es erweist sich, dass im Gegensatz zu dem, was Mark Falcoff (Regionalexperte des konservativen US-amerikanischen Think Tanks American Enterprise Institute) erklärte, es keinen Umsturz auf der südamerikanischen politischen Landkarte geben wird. Diejenigen, die danach strebten, dass Bolivien gütlich zwischen seinen Nachbarn aufgeteilt wird, werden warten müssen.«

Doch Morales’ Fähigkeit zu regieren wird in Frage gestellt. Einem Editorial der Washington Post zufolge ist er »ein Anhänger von Venezuelas Hugo Chávez und Kubas Fidel Castro«, »ein früherer Lamahirte und Kokabauer, der gut darin ist, lähmende Straßenblockaden zu organisieren, dem es aber an einer durchführbaren Po­litik für eines der ärmsten Länder der He­misphäre mangelt«. Morales werde die Gelegenheit haben, »mit seinen populistischen Schlagworten zu regieren und nach den Resultaten beurteilt zu werden«.

Unmittelbar nach der Wahl hat Morales das Ultimatum der Chefs der kämpferischen Organisationen von El Alto erhalten, die Energie­ressourcen in 90 Tagen zu verstaatlichen. »Keine leichte Aufgabe, im Hinblick auf die zahlreichen ausländischen Investitionen der letzten Jahre, speziell die eines strategischen Partners wie Brasilien, der nicht bereit sein wird, sich ohne angemessene Kompensation und Sicherheiten für Gaslieferungen enteignen zu lassen«, urteilt ein ehemaliger chilenischer Konsul im Nachbarland.

Nach Ansicht Andrés Soliz Radas, der eine lange Vergangenheit als bolivianischer Abgeordneter, Journalist und Anwalt hat, steht der brasilianische Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva vor einer großen Herausforderung in den Beziehungen zu Bolivien: »Er muss entscheiden, ob er sich dem Druck von Unternehmen wie Shell und Repsol unterwirft, um das bolivianische Gas zugunsten der Transnationalen auszubeuten, oder im Gegenteil die Kräfte Boliviens stützt, um zu bewirken, dass das Gas der Motor für dessen Industrialisierung und Entwicklung wird. Daher die Bedeutung des nächsten Treffens von Evo und Lula.« Das Treffen ist für Mitte Januar vorgesehen.

Wird der nächste Regierungschef Boliviens das »neoliberale Modell« verändern, den »kolonialen Staat« zugrunde richten und so die Erwartungen eines großen Teils der Bevölkerung erfüllen? Andrés Soliz Rada ist davon überzeugt: »Der tiefgreifende Sieg von Evo Morales bedeutet, dass Bolivien seine Lebensfähigkeit wieder bekommt, die von separatistischen Gruppen, die mit Ölfirmen und Oligarchien der Nachbarländer verbunden sind, bedroht wird. Er tritt sein Amt in einer Zeit an, in der sich die neoliberale Politik in der Region, außer vielleicht in Chile, erschöpft hat, und mit der Unterstützung von Präsidenten wie Lula (Brasilien), Kirchner (Argentinien), Tabaré (Uruguay) und Chávez (Venezuela), die seine Isolierung, die sich das Regime von Bush sicher wünscht, verhindern werden.«

Den Unwillen der US-Regierung hat der Präsident der Bewegung für den Sozialismus (MAS) auch mit der Prophezeiung erregt, es stehe »ein drittes Jahrtausend der Völker und nicht des Imperiums« bevor. In seinen Reden hat sich Morales nicht darauf beschränkt, lediglich die lateinamerikanische Integration zu fordern, vielmehr hat er auch zum Wiederaufbau des »Tawantinsuyo« (der »vier vereinten Regionen«) aufgerufen, der politischen und territorialen Verwaltungseinheit des vorkolonialen Inkareichs, die Teile Perus, Boliviens, Ecuadors, Chiles und Argentiniens umfasste. Zudem ist Morales mit Fidel Castro verbündet, mit dem er das Neujahrsfest in Havanna feierte, und unterstützt Chávez’ Projekt der Bolivarianischen Alternative für Amerika (Alba) gegen die von den USA, Mexiko und Chile propagierte Freihandelszone Alca.

Bei seinem Besuch in Spanien versicherte Morales in der vergangenen Woche jedoch auch: »Wir werden kein Unternehmen konfiszieren, enteignen oder hinauswerfen.« Die Konzerne sollen allerdings »Partner, nicht Besitzer der natürlichen Ressourcen« sein, und die Verhandlungen über neue Verträge dürften schwierig werden. Denn »um sich mit Evo zu verstehen, muss man starke Argumente haben und keine Ausflüchte oder Wortspiele«, sagt der bolivianische Journalist Humberto Vacaflor.