Räume sind Träume

Marvin Chlada spaziert durch Foucaults andere Orte und rettet, was zu retten ist.

Mit allen Formen des Faschismus lässt sich Michel Foucaults Denken nur schwer vereinbaren. Sonst hätte ihn die Neue Rechte längst zu vereinnahmen gewusst. Hat sie aber nicht. Was sollte sie auch mit einem »Anwalt der Irren« (Jean Amery) anzufangen wissen, dessen Einfluss bis in die »Antipsychiatrie« reicht; mit einem politischen Aktivisten, der sich mit der Black Panther Party solidarisierte und auf die Straße ging, um gegen den Abbau der Rechte von Einwanderern und Flüchtlingen zu demonstrieren; mit einem schwulen Denker, der es für sinnvoll erachtet, die strafrechtliche Ver­folgung sexueller Handlungen gänzlich abzuschaffen; der dafür plädiert, Anstalten und Knäste aufzulösen; mit einem Professor, der sowohl Lehre wie Prüfungsverfahren an Schulen und Universitäten grundsätzlich reformieren wollte und sich dafür einsetzte, diese Institutionen des Wissens allen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Alter zugänglich zu machen? Kurz: Mit so einem ist kein (Rechts-) Staat zu machen.

In einem Gespräch mit Bernard-Henri Lévy erklärt Foucault: »Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraft­linien kenntlich macht, der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen sein noch was er denken wird, wie seine Aufmerksamkeit allein der Gegen­wart gilt; der, wo er gerade ist, seinen Teil zu der Frage beiträgt, ob die Revolution der Mühe wert ist, und welche (ich meine: welche Revolution und welche Mühe), wobei sich von selbst versteht, dass nur die sie beantworten können, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um sie zu machen.«

Zu fragen wäre daher, ob und wenn ja, wo sich die politischen Vorstellungen Foucaults tatsächlich durchzusetzen beginnen. Betonen nicht gerade die aktuellen politischen Programme der »zweiten Moderne« (Ulrich Beck) den Aspekt des Mischens von Berufen, Milieus, Erfahrungen und Lebenswelten? Plädieren diese nicht für eine zeitlich begrenzte »Auszeit« aus den gewohnten Rollen? Gehört es nicht inzwischen zur Norm, die Gewissheiten aufgeben zu müssen, um sich »flexibel« den so genannten Realitäten zu stellen?

Sicher sind das Themen Foucaults. Allerdings nur insofern, als er einer der ersten war, die die Macht- und Regierungstechniken des Neoliberalismus analysiert haben, noch bevor dieser mit den Namen Thatcher und Reagan auf der politischen Bühne seine Personifizierungen gefunden hat. Foucault geht davon aus, dass im Gegensatz zum klassischen Liberalismus das neoliberale Denken einen zentralen Referenz- und Stützpunkt hat: den homo oeconomicus. Insofern unterscheiden sich die Machttechniken des Neoliberalismus radikal von denen des klassischen Zeitalters oder des Beginns der Moderne.

Der Neoliberalismus überlässt die Sorge ums Glücks dem Einzelnen, man kann sich in der Jugend austoben, hat dafür recht we­nig im Alter, oder aber man schuftet sich bucklig und kann sich später dafür den Rücken auf dem Sonnendeck massieren lassen. Wer aus der Reihe tanzt, egal ob Sozialhilfeempfänger oder Geisteskranker, leistet eben als Ein-Euro-Jobber oder in der Behindertenwerkstatt seine »Pflicht« und »Schuldigkeit«. Inzwischen gehören auch die »Besserungsanstalten«, die man einst als Malcolm Little betreten und als Malcolm X wieder verlassen konnte, der Vergan­genheit an. Die Knäste sind zu Wirtschaftsbetrieben und Unternehmen mutiert, in denen Arbeit an Bedeutung gewinnt, Bildung dagegen fast keinen Platz mehr hat: »Die gegenwärtig stattfindende Streichung von Schreib- und anderen Bildungsprogram­men für Gefangene«, so Angela Davis über den gefängnisindustriellen Komplex der USA, »ist ein Indikator für das heutige herrschende offizielle Desinteresse an Resozia­lisierungsmaßnahmen, vor allem solchen, die die einzelnen Gefangenen zu geistiger Autonomie ermutigen.«

Stattdessen herrscht hinter dem Stacheldraht die Ausbeutung durch Privatkonzerne. Anything goes, solange sich niemand den Kriterien der Ökonomie widersetzt. Die unter neoliberalen Bedingungen stattfindende Neucodierung des Sozialen als eine Form des Ökonomischen erstreckt sich über die gesamte Gesellschaft. Sie erlaubt die Anwendung von Kosten-Nutzen-Rechnungen und Marktkriterien auf Entscheidungsprozesse in Familie und Ehe ebenso wie in Freizeit, Schule und Beruf. Gegen diese Entwicklung setzt Foucault auf die Macht des Widerstands, denn ohne Widerstand würde es keine Machtverhältnisse geben, sondern lediglich Gehorsam: »Du musst Macht gebrauchen, um Situationen zu verändern, in denen Du nicht tun kannst, was Du willst. Insofern kommt Widerstand zuerst, und er bleibt den Zwängen des Prozesses überlegen; Machtverhältnisse verändern sich zwangsläufig mit dem Widerstand.«

Widerstand und Ideologie

Für Stuart Hall ist ein solches Konzept von Widerstand wenig überzeugend. Obgleich Hall, wie er nachdrücklich betont, viel von Foucault über die Beziehung zwischen Macht und Wissen gelernt habe, sehe er nicht, wie der Begriff des »Widerstandes« beibehalten werden kann, ohne sich den Fragen der Konstitution von Dominanz in der Ideologie zu stellen: »Dass Foucault dieser Frage ausweicht, liegt in seiner protoanarchistischen Position begründet: Er muss den Widerstand aus dem Nichts holen. Niemand weiß, woher er kommt. Glück­licherweise bleibt er bestehen, ist stets garantiert. Solange es Macht gibt, gibt es Widerstand. Aber wenn man wissen will, wie stark die Macht ist und wie stark der Widerstand und wie das sich verändernde Kräftegleichgewicht aussieht, dann ist das unmöglich festzustellen, denn ein solches Kraftfeld ist mit Foucaults Modell nicht zu denken.«

Wodurch also zeichnet sich »Widerstand« bei Foucault aus? Etwa durch zivilen Ungehorsam? Durch eine Lebenskunst, die darin besteht, sich im »Wahrsprechen des Anderen« zu üben? Oder ist es der Marsch durch die Heterotopien, durch andere Or­te, das Versprechen eines bewussten Ausstiegs aus den bürgerlichen Machtverhältnissen? Wohl kaum. Zum einen verändert sich die Ordnung der Dinge nicht wirklich, wendet man sich allein an die Charaktermasken, die dieses System repräsentieren und verwalten. Zum anderen lassen sich die Heterotopien vom Rest der Gesellschaft nicht trennen. Nicht um eine Kritik des Neo­liberalismus und dessen Machttechniken geht es also, sondern um das, was diesen erst möglich macht: das Waren produzierende System, das ihm zugrunde liegt.

Zu fragen wäre daher, ob und inwieweit es sich bei den »anderen Orten« tatsächlich um qualitativ andere Orte handelt bzw. handeln kann. So war die von Foucault als »Instrument der Autonomie« gefeierte Familistère Godin keineswegs ein Ort, an dem der Einzelne sich der Freiheit vollkommen hat hingeben können. Zwar gab es neben einer 40 Mann starken Feuerwehr und einem Nachtwächterdienst keine speziellen Ordnungs- und Sicherheitsdienste, doch wurde die Disziplin in der Großwohnanlage durch moralischen Appell und Druck aufrechterhalten. Oft genügte als Sanktion ein anonymer Anschlag am Schwarzen Brett.

Auch der von Foucault einer Vollkommen­heit verdächtigte Gottesstaat der Jesuiten in Paraguay war alles andere als ein Paradies landwirtschaftlichen Friedens, sondern, wie bereits Paul Lafargue aufzeigte, weit mehr ein kapitalistischer Staat, in dem Män­ner, Frauen und Kinder zur Zwangsarbeit und zur Peitsche verurteilt und aller Rechte beraubt, »in dem gleichen Elend und der gleichen Verkommenheit dahinvegetierten, wie kräftig auch Ackerbau und Industrie aufblühten, wie groß auch der Überfluss der Güter war, den sie erzeugten«. Mögen dagegen die Paradiese der Marginalisierten, von denen Maria del Mar Castro Va­rela berichtet, keine vollkommenen Orte sein, so haben doch die Migrantinnen dort weniger mit ihren »Illusionen« als vielmehr mit dem sozialen Ausschluss, einer zunehmenden Gewaltbereitschaft sowie der permanenten Armut zu kämpfen.

Ebenso hatten die Illusionsräume und zahlreichen Experimente der sechziger und siebziger Jahre dem Ganzen nicht allzu viel entgegenzusetzen. »Die einen«, erinnert sich Peter-Paul Zahl, »die sich Freiräume erkämpft zu haben glaubten, machten sich mit Eifer daran, sie mit Alternativprojekten zu füllen. In der Euphorie des scheinbaren Sieges übersahen sie, dass es unmöglich ist, aus den Zusammenhängen und Bedingungen der Gesellschaft auszuscheren, ohne die Bedingungen selbst zu ändern.«

Im Freistaat Christiania sah man sich im Dezember 1997 gezwungen, eine »alter­native Währung«, den so genannten Lohn, einzuführen. Und König Anderson von Cato ließ bereits vor der Landnahme sämtliche Währungen der Welt prüfen, wobei der Euro für tauglich befunden und ins homosexuelle Altneuland eingeführt wurde. Kurz: Selbst der spezifischste unter den »spezi­fischen Intellektuellen« (Foucault) ist gezwungen, ab und an an den Kapitalismus zu denken, wenn er das, was sich auf ihm bewegt, begegnet und bekämpft, verstehen will: »Man kann sich kaum vorstellen«, so Gilles Deleuze und Félix Guattari in »Tausend Plateaus«, »wie ein Amazonenstaat, ein Frauenstaat oder auch ein Staat von Gelegenheitsarbeitern, ein ›Verweige-rungs­‹staat aussehen könnte. Minderheiten bilden deshalb keine kulturell, politisch und ökonomisch lebensfähigen Staaten, weil weder die Staatsform noch die Axiomatik des Kapitals oder die entsprechende Kultur ihnen angemessen sind. Es ist häufig vorgekommen, dass der Kapitalismus nicht lebensfähige Staaten seinen Bedürfnissen entsprechend unterhalten und organisiert hat, und zwar gerade deshalb, um Minderheiten zu vernichten. Es geht also für Minderheiten eher darum, den Kapitalismus abzuschaffen, den Sozialismus neu zu definieren und eine Kriegsmaschine zu schaffen, die sich mit anderen Mitteln gegen die weltweite Kriegsmaschine wehren kann.«

Der postmoderne Glaube daran, dass Gesellschaftskritik ohne eine Kritik der po­litischen Ökonomie, d.h. ohne die Kritik der Vergesellschaftung des Werts, der abstrakten Logik des Kapitals möglich sei, kommt daher über einen konformen »Pluralismus« nicht hinaus. »Anstatt also die neuen Freiheiten und Verantwortlichkeiten zu bejubeln, die uns eine ›zweite Moderne‹ beschert hat, ist es viel wichtiger, sich auf dasjenige zu konzentrieren, was in dieser ganzen globalen Verflüssigung und Reflexivität dasselbe bleibt, was diesem Im-Fluss-befindlichen als eigentlicher Antriebsmotor dient: die unerbittliche Logik des Kapitals« (Slavoj Zizek).

Denn der Verwirklichung der »Utopie«, dem Kommen einer satten und befriedeten »Mutterstadt im freien Morgenraum« (Johannes R. Becher), steht letztlich die Reli­gion des Kapitals im Weg: die zum Selbstzweck gewordene Arbeit, die uns Glauben machen will, das Glück sei im Reich der Not­wendigkeit zu Hause, darüber hinaus gebe es nichts. »Es gibt heute keine Aktivität, die nicht vom Kapitalismus überkodifiziert ist: Fernsehen, pissen, betrügen sind keine bloßen Tätigkeiten, alles ist restlos in den Netzen des Kapitalismus kodifiziert, alles ist Arbeit« (Félix Guattari).

Foucault wusste das wohl – er selbst hat immer wieder die Arbeit, die ihre Wirksamkeit um so mehr entfaltet, als sie auf einer ethischen Transzendenz gründet, zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht. Denn seit dem Sündenfall, so will es das christlich-kapitalistische Märchen, ist die Strafe der Arbeit zum Mittel der Buße und zur Möglichkeit der Erlösung geworden. »Arbeit macht frei«, weshalb ein »Recht auf Faulheit« (Paul Lafargue) in diesem (Werte-)System nicht eingeklagt werden darf und die Zwangsarbeit inzwischen wieder zum Status Quo westlicher Industrie­nationen bzw. »Informationsgesellschaften« gehört. Nicht zu arbeiten heißt, Gott zu versuchen, ist der Versuch, ein Wunder zu erzwingen. »Deshalb«, so Foucault, »ist Müßiggang Revolte – in einem bestimmten Sinne sogar die schlimmste von allen: weil er von der Natur Großzügigkeit erwartet wie in der Unschuld des Gartens Eden und eine Güte erzwingen will, auf die der Mensch seit Adam und Eva keinen Anspruch mehr hat.«

Eben weil dem so ist, ist das, was Foucault dem Ganzen entgegenstellt, Heterotopie und Erfahrung, insofern zu wenig, als diese Formen der »Revolte« weniger das System in Frage stellen als vielmehr einer kapitalkonformen Pop- und »Lifestyle-Linken« (Robert Kurz), vor allem aber der religiösen Verblödung Vorschub leisten. In diesem Sinne ist Foucault ein Kind seiner Zeit.

Ideologie und ­Spiritualität

Wie viele Intellektuelle seiner Generation, die (noch immer) am Gulag zu leiden pflegen, begab sich Foucault auf die Suche nach einer »spirituellen Dimension« im politischen Leben. Seine »Sorge« gilt der »Verwestlichung« der Welt. Hatte die Aufklärung einst den »edlen Wilden« in der fernen Südsee beschworen (die glückliche Inselutopie), um der abendländischen »Zivilisation« den Spiegel vorzuhalten, setzt Foucault nunmehr auf orientalische Lebens­kunst und östliche Weisheiten (die Heterotopie der Kompensation). 1978 sieht man ihn zusammen mit Daniel Defert in einem japanischen Tempel hockend, schweigend über die Allianz zwischen Zen-Buddhismus und Militär in der Zeit von 1886 bis 1945 hinweg meditierend.

Wäre er etwas länger sitzen geblieben, hätte Foucault die »politische Spiritualität« im Zen-Tempel vielleicht »erfahren« können. Gefunden hat er sie schließlich in der iranischen Revolution. Diese war ihm »der Mühe wert«. Ergriffen von den Ereignissen, brachte er den Aufstand der Mullahs sogleich mit den Besetzungen Münsters durch die Wiedertäufer und Florenz’ durch die Anhänger Savonarolas in Zusammenhang: »Ausgehend von einer utopischen Theorie der Macht werden im Verlauf der iranischen Ereignisse Züge einer im Spätwerk wirkenden, aber noch weitgehend unterdrückten ›Utopie‹ der Gesellschaft deutlich: Gegen den entspiritualisierten ›Geist der Zeit‹ richten sich, wie die machtvolle Präsenz einer abwesend gemachten Vergangenheit, die Technologien des Selbst auf eine egalitäre und doch würdevolle – ja im Fall der iranischen Ereignisse sakrale – Spiritualisierung der menschlichen Dinge und gesellschaftlichen Verhältnisse« (Georg Stauth).

Die Heterologen und Heterotopisten, so könnte man glauben, sehnen weniger so­ziale Gerechtigkeit als vielmehr die individuelle Erleuchtung herbei. Besonders deutlich wird dies im Konzept der Temporären Autonomen Zone (Taz) von Hakim Bey. Wie Foucault setzt Bey auf Träume, Abenteuer und Freibeuterei – sowie auf eine »spirituelle Dimension« in der Politik. Als esoterisches »Piraten-Utopia« und »angewandter Hedonismus« folgt die Taz den Grundsätzen der Heterotopologie: »Die Taz ist ›utopisch‹ in dem Sinne, dass sie sich eine Intensivierung des Alltagslebens ausmalt, oder – wie die Surrealisten gesagt haben könnten – die Durchdringung des Lebens durch das Wunderbare. Aber sie kann nicht ›utopisch‹ in der unmittelbaren Bedeutung des Wortes sein, nirgendwo, ein Nicht-Ort. Die Taz ist irgendwo.«

Bey möchte das Durcheinander religiöser, trotzkistischer, syndikalistischer, situationistischer und anarchokommunistischer Elemente in einer breiten antiautoritären Bewegung zusammenpacken. Diese »Ver­einigung des Nicht-Einheitlichen« gilt Bey als höchster Ausdruck eines »Willens zur Macht als Andersartigkeit« bzw. eines »Wil­lens zur Macht als Verschwinden«. Die »Stär­ke« der Taz besteht somit in ihrer Unsichtbarkeit (im Gegensatz zur panoptischen Gesellschaft, in der alles sichtbar sein muss). Die Taz soll nicht zu fassen und nicht zu definieren sein, sie soll erscheinen, um wieder zu verschwinden, falls sie die Aufmerksamkeit der Medien oder der Staatsgewalt auf sich gezogen hat. So können ungleiche Kämpfe vermieden werden.

Dennoch: Bey fordert, dass jede politische Tat mit dem Ziel identisch ist, zumindest sollte das Ziel in Teilen realisiert werden. Die dabei propagierte Vernetzung hat ihren Sinn einzig darin, Informationen auszutauschen, Projekte zu planen, den Aufstand zu koordinieren und Gleichgesinnte ausfindig zu machen. Denn die Taz ist sinnlich und körperlich orientiert, keinesfalls will sie ein abstrakter Ort in einer virtu­ellen Welt sein. Das Netz wird von Bey in erster Linie als Werkzeug zum Ausbau ei­ner alternativen Ökonomie angesehen, das eine Abkopplung von der Warenwelt ermög­licht.

Allerdings steht diese Abkopplung in der Tradition islamischer Häretiker, die ihr Motto Hassan-i-Sabbah verdankt: »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.« »Nachts streckt sich Hassan-i-Sabbah wie ein zivilisierter Wolf mit einem Turban auf einer Brustwehr über den Gärten aus & starrt in der unbekümmerten, kühlen Wüstenluft in den Him­mel, eifrig die Sternengruppen der Häresie studierend. Es ist wahr, in dieser mythischen Welt mag einigen der angehenden Jünger aufgetragen werden, sich über den Wall ins Schwarze zu stürzen, genauso wahr ist aber, dass einige lernen werden, wie Zau­berer zu fliegen.«

Bey will die Religionen als Widerstands-potenzial gegen Nihilismus und Marktmechanismen verstanden wissen. Dazu aber muss die Religion frei, d.h. sie darf nicht ins­ti­tu­tio­na­li­siert sein. Die »Spiritualität« der »freien« Religion soll eine antikapita­listische Tendenz bereit halten, die sich die Taz zunutze machen kann: ein nicht gewöhnliches Bewusstsein, aus dem ein außergewöhnliches Handeln abgeleitet wird. Dem Modell nach handelt es sich bei der Taz somit um eine der zahlreichen »ästhe­tischen« Gemeinschaften, wie sie Gianno Vattimo fantasiert. Womit sich der Kreis wieder schließt, denn selbst Vattimo kommt in seinem ansonsten recht nüchternen Abgesang auf die »transparente« Gesellschaft nicht umhin, den »wieder gefundenen Mythos« zu beschwören und den »fabel-haften Charakter der Welt« zu preisen. Ohne Mythos keine Gemeinschaft – so lautet die Botschaft von Bataille bis Foucault und darüber hinaus.

Mit der Suche nach einer »spirituellen Dimension« in der Politik freilich fällt Foucault weit hinter die Ideologiekritik von Mercier, de Sade oder des Marxismus zurück, über die er dem Anspruch nach hi-naus will. Doch juckt es ihn kaum, nicht auf der »Höhe der Zeit« zu sein (bekanntlich denkt Foucault weniger »zeitlich« als vielmehr »räumlich«). Mit Blick auf Marx erklärt er, dass er in der »Kreativität des ­Islam« zur Zeit der iranischen »Revolte« den »Geist geistloser Zustände« erblickt habe. Damit bringt er Marx um die Pointe, denn im Original heißt es: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirk­lichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt in einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« (MEW 1, S. 378) Und nach Foucault soll es kein Drogenverbot geben. Sein »Antikapitalismus« bleibt daher tief in der Romantik verwurzelt. Bereits die Gegenbilder, vom Narren über Savonarola bis zur »glanzvollen Freibeuterei«, sprechen dafür.

Spiritualität und Utopie

Wenn es Foucault auch weniger um Glaubensinhalte als vielmehr um Lebensstile und -regeln geht: Indem er die Religion ein weiteres Mal durch die Hintertür einführt, besetzt »Ehrwürden Pater Foucault« (Jean-Luc Godard) in der Postmoderne jene Position, die einst Kant zu Beginn der Moderne eingenommen hat. Ironischerweise verortet Foucault sein Schaffen genau dort, d.h. in einer kritischen Tradition, die mit dem Namen Kant verbunden ist.

Allerdings hat Foucaults »Vorstellung« von einer anderen Politik, einer anderen Aufklärung und anderen Kritik Kant weder verabschiedet, überwunden noch aufge­hoben, sondern lediglich verrückt. Die Kritik der Moderne wird bei Foucault zur Bedingung individueller Veränderung, die sich strenge Regeln auferlegt. Ablehnen müssen wir nach Foucault die Art von In­dividualität, die uns seit Jahrhunderten aufgezwungen wurde, der Einzelne soll sich gleichsam von »sich selbst« wie vom »Staat« und dessen Institutionen befreien. Ist im 19. Jahrhundert der Kampf gegen die Ausbeutung in den Vordergrund getreten, stehen nach Foucault heute die Kämpfe gegen die Formen der Subjektivierung, gegen die Unterwerfung durch Subjektivität auf dem Plan, auch wenn die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind. Von Kant nimmt Foucault das Verständnis der Aufklärung als mün­diges, von der Leitung eines Anderen befreites Denken, das »Mut« für sich beansprucht.

Gleichzeitig – und das ist in der Geschichte der Philosophie ein wohl einzigartiger Akt – verbindet er diesen Mut mit einem Ethos, einer »Haltung«, die er von Charles Baudelaire übernommen hat: die des Dandys. Der hatte das Ethos des Dandys als »Ein­richtung außerhalb der Gesetze« definiert, die als Gegenmode in Erscheinung tritt. Indem er nun den »Mut« Kants mit der »Grenz­haltung« Baudelaires koppelt, zaubert Foucault eine »historisch-kritische Haltung« aus dem Hut, die gleichsam eine »experimentelle sein muss«: »Ich meine«, führt er in seinem Vortrag »Was ist Aufklärung?« aus, »dass diese an den Grenzen un­serer selbst verrichtete Arbeit einerseits einen Bereich historischer Untersuchung eröffnen und sich andererseits dem Test der Wirklichkeit und der Aktualität aussetzen muss, um sowohl die Punkte zu ergreifen, wo Veränderung möglich und wünschenswert ist, als auch zu bestimmen, welche genaue Form diese Veränderung annehmen soll. Das bedeutet, dass diese historische Ontologie unserer selbst von allen Projekten Abstand nehmen muss, die beanspruchen, global oder radikal zu sein. In der Tat wissen wir aus Erfahrung, dass der Anspruch, dem System der gegenwär­tigen Realität zu entkommen, um allgemeine Programme einer anderen Gesellschaft, einer anderen Weise zu denken, einer anderen Kultur, einer anderen Weltanschauung hervorzubringen, nur zur Rückkehr zu den gefährlichsten Traditionen geführt« hat.

Es stimmt. Weniger gefährlich ist es, dem »System der gegenwärtigen Realität« zu entfliehen, indem man die Krise ästhe­tisiert. In diesem Sinne freilich ist die damit verbundene Vorstellung, dass es noch irgendwo »mögliche Räume« auszufüllen gebe, in denen jenseits des Kapitals expe­rimentell gelebt werden kann, nicht mehr als eine weitere Form der Utopie – die der postmodernen Ideologie angemessene. Fou­caults Hoffnung, dass die »strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen« könne, scheint darum weder der herrschenden Barbarei noch der historischen Erfahrung angemessen. Sind nicht bereits die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg an dieser Ideologie gescheitert? Waren nicht ihre Kampferfahrungen jahrzehntelang aufs eigene Dorf, auf die Fabrik und die Stadtviertel, die sie kannten, begrenzt geblieben?

Wie Hans Magnus Enzensberger in »Der kurze Sommer der Anarchie« darlegt, war die dezentralisierte Organisationsform, die sich die Anarchisten gaben, zwar oft von Vor­teil, »aber sie war erkauft mit einer emp­findlichen Verengung des Gesichtskreises«. Weit sinnvoller scheint es daher, sich heute an ein Modell der Heterogenese zu halten, wie es etwa von Deleuze und Guattari auf Grundlage der von Marx formulierten Kritik der politischen Ökonomie skizziert worden ist. Danach ruft die »Wiedererringung eines Grades an kreativer Autonomie« in einem bestimmten Bereich sogleich nach anderen Wiedererringungen in weiteren Bereichen, was eine wie auch immer ge­ra­te­ne bzw. betriebene Mystifizierung des »anderen« Raumes im Kapitalismus unmög­lich macht.

Denn innerhalb der Logik des Kapitals lässt sich weder das Problem der ökologischen Bedrohung noch das Problem der persönlichen Freiheit auch nur annähernd lösen. Die antike Definition von Freiheit im Sinne von »nicht Sklave sein« (weder ei­nes anderen noch der eigenen Begierden), auf der Foucault seine Idee vom Leben als Kunstwerk gründet, wäre konsequent nur, wenn sie den Lohnsklaven gleichsam mit einschließt. Ansätze dazu finden sich bei Foucault zur Genüge. Ansonsten bleibt die »Ästhetik der Existenz« nur wenigen Lebens­künstlern vorbehalten, denen nämlich, die es sich leisten können, aus ihrem Leben ein Kunstwerk zu machen.

Solange wir nicht wie auf Triton, sondern in einer durch und durch kapitalistischen Welt leben, so lange kommt erst das Fressen und dann die Moral, die Lebenskunst etc. – nicht etwa umgekehrt: Nicht um »Revolte« geht es, sondern um eine Revolutionierung des Alltagslebens. »Die einzige Chance der Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden« (Gilles Deleuze). Das Revolutionär-Werden freilich ist mehr als (persönlicher) Protest. Ohne es bleibt jede »Revolte« zum Scheitern verurteilt.

Um ihre Persönlichkeit zur Geltung zu bringen, das wussten schon Marx und Engels, sind die Leute gezwungen, ihre eigene bisherige Existenzbedingung, die zugleich die Existenzbedingung der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, nämlich die Arbeit, auf­zuheben. Die bisherigen Revolu­tionen haben die Arbeit lediglich aufs neue verteilt, während sich die kommunistische Revolu­tion, im Gegensatz zur bürgerlichen etwa, zu einer islamischen, christlichen oder sonst einer religiösen »Revolte«, explizit »gegen die bisherige Art der Tätig­keit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst aufhebt« (MEW 3, S. 72f. u. 77).

Für ein solches Unternehmen reichen die mit Gedanken Kants angereicherten künstlichen Paradiese Baudelaires kaum aus. Insofern sollten wir Foucault beim Wort nehmen, wenn er sagt: »Was ich geschrieben habe, sind keine Rezepte, weder für mich noch für sonst jemand. Es sind bestenfalls Werkzeuge – und Träume.«

»Räume sind Träume« wurde redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Marvin Chlada: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault. Alibri, Aschaffenburg 2005. 138 S., 14 Euro