Israels Freiheit

Befreite Gesellschaft und Israel. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Zionismus. Von Stephan Grigat

Kritische Theorie ist das Gegenteil von linker Gesinnung. Rekapituliert man, was in den vergangenen 40 Jahren alles unter »die Linke« firmierte und damit einen Anspruch darauf anmeldete, einer umfassenden Emanzipationsbewegung anzugehören, lässt sich in der Rückschau die Tatsache, dass die Schriften der Kritischen Theoretiker zumindest in einigen Fraktionen dieser Linken als Pflichtlektüre galten, nur durch die selek­tive Wahrnehmung der Gedanken Theodor W. Adornos und Max Horkheimers erklären.

Während der Marxismus-Leninismus den Staat zum Garanten der Befreiung adelte und ihn mit Vorliebe gegen »Kosmopoliten« vorgehen ließ, Anarchisten zu Freunden von »kleinen Einheiten« mutierten, die gegen die »Superstruktur« in Anschlag gebracht wurden, und alternative Lebensphilosophen immer neue Verzichtsideologien auf den Markt warfen, hielt die Kritische Theorie beharrlich an ihrem Ziel fest: der befreiten Gesellschaft auf dem höchstmöglichen Stand von Zivilisation und Luxus.

Während die diversen Fraktionen der Linken, einschließlich jener, die bei Adorno und Horkheimer studierten, den Klassenkampf zur anbetungswürdigen und überhistorischen Geheimwaffe der Emanzipation verklärten, sprach Adorno von der klassenlosen Klassengesellschaft, der »Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose« (1942: 391), davon, dass die Klassenherrschaft zu sich selber komme durch die falsche Abschaffung der Klassen. Während die meisten Faschismusforscher, und zwar gerade die linken, den Antisemitismus ignorierten, als Herrschaftstechnik verharmlosten oder einfach unter den Rassismus im Allgemeinen subsumierten, hat die Kritische Theorie die materialistische Antisemitismustheorie, das heißt: die Kritik des Antisemitismus als Gesellschaftskritik begründet.

Während Postmoderne und Poststrukturalisten Kritik zur Attitüde, zur nonkonformistischsten aller Begründungen für’s Mitmachen erniedrigten, bei der man selbst noch mit Heidegger kokettieren kann, dessen Ungeist Adorno und die anderen fast das Leben gekostet hätte, widmete sich die Kritische Theorie der Denunziation der deutschen Ideologie und des Nachlebens des Faschismus in der Demokratie. Und während Studenten Ende der sechziger Jahre in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus nach einem kurzen Erschrecken über ihre Eltern meinten, es sei eine prima Idee, dem »Volke zu dienen« oder sich von den palästinensischen Fedayin ausbilden zu lassen, ahnten die nach Frankfurt Zurückgekehrten schon früh, wohin dieser deutsche Aufbruch führen würde, und setzten dagegen die Solidarität mit den prospektiven Opfern.

Diese Solidarität führte zwar nicht dazu, die Bedeutung des Zionismus in vollem Aus­maß zu erfassen, aber sie implizierte ganz selbstverständlich die Solidarität mit Israel als Zufluchtstätte für alle vom Antisemitismus Bedrohten.

»Zionisten« und Staat

Max Horkheimer war sich bereits im Klaren darüber, dass der Antizionismus als Platzhalter für den Antisemitismus dienen musste, und sah die Überschneidungen zwischen staatssozialistischer und nationalsozialistischer Propaganda. 1969 schrieb er in einem Brief: »In der Nationalzeitung wird das Wort ›Juden‹, wie in den Zeitungen des Ostblocks, durch ›Zionisten‹ (…) ersetzt« (1949–1973: 725). Wie man in einer Notiz aus dem Jahre 1970 nachlesen kann, regis­trierte Horkheimer, auch wenn das in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung kaum eine Rolle spielte, die Verbrüderung der deutschen Linken mit der damals noch viel unumwundener auf Vernichtung setzenden palästinensischen Nationalbewegung.

In seinen Notizen zur Situation nach dem israelischen Sinai-Feldzug stellte er heraus, wie das Anlegen gleicher Maßstäbe in der Staatenkonkurrenz aufgrund der ungleichen Ausgangsbedingungen zum Angriff auf Israel gerät. Er registrierte das Desinteresse für die Aggressionen der arabischen Regierungen und strich heraus, dass sich ein Staat wie Israel anders gegen seine Feinde zur Wehr setzen muss als eine Weltmacht: zeitweise präventiv und aggressiv.

Von Adorno weiß man zwar aus seiner Korrespondenz, dass er es mitunter ablehnte, bei pro-israelischen Veranstaltungen als öffentlicher Redner aufzutreten. Am 20. Juni 1967 schrieb er an Horkheimer: »Ich sollte bei einer pro-israelischen Veranstaltung (…) als einer der Hauptredner (…) auftreten. Ich habe das aber abgesagt, aus mehr als einem Grund. Auch in dieser Absage weiß ich mich mit Dir einig« (Horkheimer 1949–1973: 660).

Was die genauen Gründe dafür waren, erfährt man nicht. Doch aus anderen Schriften darf man folgern, dass solche Absagen keineswegs aus mangelnder Sympathie für den Staat der Shoah-Überlebenden zustande kamen. Am 5. Juni 1967, zum Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs, schrieb Adorno an seine Wiener Freundin Lotte Tobisch: »Wir machen uns schreckliche Sorgen wegen Israel. (…) In einem Eck meines Bewusstseins habe ich mir immer vorgestellt, dass das auf die Dauer nicht gut gehen wird, aber dass sich das so rasch aktualisiert, hat mich doch völlig überrascht. Man kann nur hoffen, dass die Israelis einstweilen immer noch militärisch den Arabern soweit überlegen sind, dass sie die Situation halten können« (Adorno/Tobisch 2003: 197).

Einen Tag später sprach er öffentlich, als er sich zu der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin äußerte, auch von dem »Furchtbaren, das Israel, der Heimstätte zahlloser vor dem Grauen geflüchteter Juden, droht« (zit. n. Kraushaar 1998: 241). Zwei Jahre später war Adorno vom Niederbrüllen des israelischen Botschafters in Frankfurt durch deutsche linke und arabisch-nationalistische Studenten dermaßen entsetzt, dass er in einem Brief an Herbert Marcuse gar von der Gefahr eines Umschlagens der Studentenbewegung in Faschismus sprach.

Marcuse, der für die regressiven Tendenzen in der Studentenbewegung weniger sensibilisiert war als Adorno und Horkheimer, erklärte sich mit dem Grundmotiv der zionistischen Bewegung solidarisch: »Ich kann nicht vergessen, dass die Juden Jahrhunderte lang zu den Verfolgten und Unterdrückten gehörten, dass sechs Millionen von ihnen vor nicht allzu langer Zeit vernichtet worden sind. (…) Wenn endlich für diese Menschen ein Bereich geschaffen wird, in dem sie vor Verfolgung und Unterdrückung keine Angst mehr zu haben brauchen, so ist das ein Ziel, mit dem ich mich identisch erklären muss« (2004: 142).

In der Jerusalem Post, wo er 1972 seine Eindrücke von einer zweiwöchigen Israel-Reise zusammenfasste, schrieb er: »Ich glaube, dass der historische Zweck der Gründung des Staates Israel darin bestand, eine Wiederholung von Konzentrationslagern, Pogromen und anderen Formen der Verfolgung und Diskriminierung zu verhindern. Diesen Zweck (…) unterstütze ich voll« (ebd.: 147 f.). Er war sich auch bewusst darüber, dass dieser Zweck nicht in Form eines UN-Reservats für Juden und Jüdinnen oder durch andere paternalistische Maßnahmen jener so genannten Weltgemeinschaft erreicht werden kann, die sich von der Shoah kaum beeindruckt zeigte: »Unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen setzt die Verfolgung dieses Zwecks die Existenz eines souveränen Staates voraus, der verfolgte oder von Verfolgung bedrohte Juden aufnehmen und schützen kann« (ebd.).

Gleichzeitig äußerte Marcuse scharfe Kritik an der Art der israelischen Kriegsführung, an Folterungen und an Diskriminierungen der arabischen Bevölkerung in Israel. Die Empörung darüber trieb ihn so weit, dass er in einem Interview mit einer linken US-amerikanischen Zeitung 1970 meinte, jenen zustimmen zu müssen, »die grundsätzlich kritisch gegenüber Israel eingestellt sind«. Zugleich wies er die antizionistische Propaganda solcher »grundsätzlichen« Kritiker in die Schranken und betonte gegen die Vorstellung von der besonderen Perfidie des israelischen Staates das Wesen von Staatlichkeit im Allgemeinen: »In all diesen Aspekten unterscheidet sich die Gründung des jüdischen Staates nicht wesentlich von den Ursprüngen praktisch aller Staaten in der Geschichte: der Gründung durch Ero­berung, Besetzung und Diskriminierung« (ebd.: 148).

Marcuse brachte eine Reihe von realpo­litischen Vorschlägen zur Beendigung des permanenten Kriegszustands im Nahen Osten zu Papier, die stark von seinen optimistischen Vorstellungen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklungen jener Potenziale geprägt waren, die auf die allgemeine Emanzipation zielen. Allerdings formulierte er auch eine entscheidende Einschränkung für seine Versöhnungsvorschläge. Im Vorwort für die hebräische Ausgabe seines Buches »Der eindimensionale Mensch« nennt er eine Bedingung für eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern im Nahen Osten, die bis heute nicht erfüllt ist: »Nur eine freie arabische Welt kann neben einem freien Israel bestehen« (ebd.: 143).

Ähnlich äußerte sich auch Leo Löwen­thal, der in seiner Studentenzeit in Heidelberg Mitglied einer zionistischen Studentenorganisation war, sich später aber enttäuscht zeigte von der israelischen Realität. Auch er formulierte heftige Kritik an der Art und Weise der zionistischen Siedlungspolitik und befürchtete, dass eine fehlende Aussöhnung mit der arabischen Bevölkerung zu »bösen Konflikten, wenn nicht zu Katastrophen« (1990: 274) führen könne, verbat sich aber gleichzeitig jeden Zweifel da­ran, dass er ein Unterstützer Israels sei.

Der Feind der ­Emanzipation

Es ist nicht allein das Bewusstsein über die Gefahren, denen die israelische Gesellschaft ausgesetzt ist, welches die Kritische Theorie spätestens ab Mitte 1967, nach der propalästinensischen Wende der deutschsprachigen Linken, auch in diesem Punkt in einen Gegensatz zum linken Mainstream brachte und das sie so unangenehm aktuell macht. Insbesondere von Horkheimer gibt es, mit allen dabei wohl kaum zu vermeidenden Übertreibungen und partiellen Fehleinschätzungen, zahlreiche hellsichtige Äußerungen zum Antiimperialismus.

Bereits 1960, als es durch die Existenz der Sowjetunion und ihres leider völlig in Verruf geratenen »Sozialimperialismus«, bei dem versucht wurde, mittels Zi­vi­li­sa­tions­ex­port Einflusssphären abzusichern, noch sehr viel mehr Anzeichen für eine tatsächlich vorhandene Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung gab als heute, schrieb Horkheimer in einem Brief: »Die Souveränitat eines Landes ist etwas anderes als die Freiheit derer, die in ihm leben« (1949–1973: 490). Insbesondere in seinen Notizen finden sich immer wieder weitsichtige Ausführungen zu einem möglichen Bündnis zwischen Deutsch-Europa und den auf die Vernichtung Israels abzielenden arabischen Staaten.

Besonders deutlich formulierte er seine Befürchtungen in einer längeren Notiz aus dem Jahr 1960, die den Titel »Vom Sinn des Neonazismus« trägt: »Um die Jahreswende 1959/60 sind in sehr vielen westlichen oder zum Westen haltenden Ländern Synagogen und andere Gebäude mit pronationalistischen, antisemitischen Losungen und Symbolen bedeckt worden. (…) Ich habe eine Vorstellung vom Sinn der Aktion. Sie geht von Nasser und seinen nazistischen Beratern aus, hinter denen mutmaßlich auch manche Gruppen in Deutschland stehen. Trotz Wirtschaftswunder und Aufrüstung ist die Bundesrepublik allein zu schwach, um den Traum vom Dritten Machtfaktor oder wenigstens des Züngleins an der Waage zu verwirklichen. Nicht wenige mächtige Männer mögen deshalb einen Sinn, ja ein Interesse an Nassers Ideen haben, das Feldgeschrei gegen Israel, das die arabischen Völker einigen sollte, auch auf weitere Nationen auszudehnen. (…) Der Plan ist die starke, Russland wie Amerika gegenüber machtvolle, dritte Gewalt darzustellen, einen faschistischen Block, der Staaten der alten Welt mit den so genannten unterentwickelten Völkern zusammenfasst« (1949–1969: 100).

Ähnliche Befürchtungen formulierte auch Adorno. In »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, einem Aufsatz, der in der universitären Linken der sechziger und siebziger Jahre stark rezipiert wurde, ohne dass die Warnungen vor einem regressiven trikontinentalen Antiimperialismus zu breiteren Diskussionen geführt hätten, schreibt er: »Das faschistische Wunschbild heute verschmilzt ohne Frage mit dem Nationalismus der so genannten unterentwickelten Länder (…). Einverständnis mit denen, die in der imperialistischen Konkurrenz sich zu kurz gekommen fühlten, und selber an den Tisch wollen, drückte schon während des Krieges in den Slogans von den westlichen Plutokratien und den proletarischen Nationen sich aus« (1959: 565).

Bei Horkheimer heißt es 1960 in einem Brief hinsichtlich der Zunahme offen nazistischer Manifestationen in der BRD: »Entscheidend ist, dass die Angelegenheit nicht auf Deutschland beschränkt ist, vielmehr in ihr eine Mächtekonstellation sich ankündigt, deren Modell Herr Nasser und die alten Nazis in Kairo bilden. Wenn der antiisraelische Slogan bei der Einigung der Araber seine Dienste tut, so soll (…) der anti­jüdische ein Bündnis der unterentwickelten Orientalen mit anderen Teilen der Welt, die von den Angelsachsen wie den Kommunisten sich emanzipieren wollen, vorbereiten. In zukünftigen Krisen, die denen vom Ende der zwanziger Jahre gar nicht so unähnlich zu sein brauchten, könnte es geboren werden« (1949–1973: 458f.).

Hier liegt die Aktualität Kritischer Theorie leider auf der Hand. Horkheimer hat das unmenschliche Wesen des Antiimperialismus früh erkannt. Deutschland hatte und hat mit seiner spezifischen Variante eines antiwestlichen Antiimperialismus als Form nachholender Entwicklung, bei der man »seine Rückständigkeit kurzerhand als Avantgardeposition nutzt und ein antibürgerliches Kapitalverhältnis installiert, das auf dem Kurzschluss von Ressentiment und Legalität, von Volksmobilisierung und Staat basiert« (Nachtmann 2004: 56), ein attraktives Modell für den trikontinentalen Antiimperialismus geliefert, mit dessen arabischen Ausprägungen bereits das nationalsozialistische Deutschland das Bündnis gesucht und gefunden hatte.

Horkheimers Antizipation eines möglichen Bündnisses zwischen Deutsch-Europa und den zu kurz gekommenen Staaten des Trikont, das sich zwangsläufig gegen Israel wenden muss, liest sich wie eine Beschreibung der Entwicklung der letzten Jahre, bei der Deutschland, mal in Kooperation, mal in Konkurrenz zu Frankreich, seine Kontakte in die arabische Welt ausbaute, eine Art Kalten Krieg niederer Intensität gegen die USA eröffnete und stets, gegen den ausdrücklichen Willen Israels und der USA, an Yassir Arafat als Verhandlungspartner fest­hielt.

Eine Differenzierung wäre allerdings hinsichtlich der antiimperialistischen und antikolonialistischen Bewegungen der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre notwendig. Man kann Ho Chi Min und Pol Pot, Fidel Castro und Idi Amin nicht in einen Topf werfen. Jede Form des Antiimperialismus ist durch den positiven Bezug auf Staat und Nation wesenhaft antiemanzipatorisch. Dennoch lohnt es sich, in Erinnerung zu rufen, dass dieser Antiimperialismus das eine Mal zur partiellen Emanzipation der Frauen, zu Alphabetisierung, sozialer Absicherung und humanistischer Gesinnung geführt hat, während er ein anderes Mal in Völkermord, Intellektuellenverfolgung, Rassismus und Antisemitismus seine Erfüllung fand.

Ebenfalls lohnt es sich, den traditionalistischen Antiimperialismus Leninscher Prägung mit seinem positiven Bezug auf die Russische Revolution von jenem »Antiimperialismus des Jihadismus« (Uli Krug 2003: 9) zu unterscheiden, mit dem die Sow­jet­union im Afghanistan der achtziger Jahre in einen blutigen Konflikt geraten ist. Bei all seiner staatssozialistischen Borniertheit beinhaltete der traditionelle Antiimperialismus immer auch ein Element der Befreiung, das in den trikontinentalen Entwicklungsdiktaturen, die sich an der Sowjetunion orientierten, Ansätze jener emanzipativen Entwicklungen hervorgebracht hat, gegen die sich der jihadistische Antiimperialismus wendet.

Mit dem Wegfall des zweiten Weltmarktes der RGW-Staaten ist es allerdings vorbei mit diesen überschießenden Elementen, und die nationale Befreiung offenbart überall dort, wo sie in Erscheinung tritt, ihr barbarisches Wesen. Die Unterscheidung zwischen einem leninistischen und einem jiha­distischen Antiimperialismus ist heute nahezu obsolet. Das zeigt sich unter anderem in den weltweiten Solidaritätserklärungen linker Gruppierungen und Bewegungen mit den islamistischen und panarabistisch-faschistischen Massenmördern im post­ba’a­thistischen Irak und in der Fraternisierung des castristischen Kuba oder der venezolanischen Regierung unter Hugo Chávez mit dem islamistischen Klerikalfaschismus im Iran.

Doch sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass auch die israelische Staatsgründung in formaler Hinsicht ein antiimperialistischer und antikolonialistischer Akt war. Das drückte sich zum einen im linkssozialistisch-zionistischen Selbstverständnis aus, das sich zeitweise auf antikolonialistische Theoretiker wie Frantz Fanon berief. Zum anderen sahen auch gar nicht wenige der antikolonialistischen Bewegungen, insbesondere in Afrika, Israel – trotz der zeitweiligen Unterstützung der israelischen Politik für die Bekämpfung antikolonialistischer Befreiungsbewegungen – als einen erfolgreichen, und daher vorbildhaften Fall von Entkolonialisierung. Viele dieser Bewegungen haben, nachdem sie die Macht er­obert hatten, eng mit Israel kooperiert. In Afrika wimmelte es lange Zeit von israelischen Agrarberatern. Das änderte sich erst 1973 und hatte weniger mit dem Wesen des antikolonialistischen Kampfes als vielmehr mit dem Druck der antisemitischen arabischen Regimes zu tun.

Im Jom-Kippur-Krieg von 1973 bekam Israel einen Eindruck davon, wie es mit dem emanzipatorischen Potenzial der weltweiten »Befreiungsbewegungen« bestellt war. In einer Situation, als Israel sich an den Rand einer Niederlage gedrängt sah, von der jeder wußte, dass sie die Vernichtung des Staates der Überlebenden der Shoah und der Mehrzahl seiner jüdischen Bewohner bedeutet hätte und die nur durch die massiven US-amerikanischen Waffenlieferungen abgewendet werden konnte, schickten fast sämtliche »Befreiungsbewegungen« Solidaritätsadressen an die angreifenden arabischen Staaten und wünsch­ten ihnen alles Gute im antiimperialistischen Feldzug gegen den zionistischen Feind. Dass der israelische Staat diese »Befreiungsbewegungen« in der Zukunft wie Todfeinde behandelt hat, ist nicht sehr verwunderlich.

Das zionistische Projekt war aber nur der Form halber ein Akt nationaler Befreiung. Dass sich die israelische Staatsgründung auch als antikolonialistischer Kampf gegen Großbritannien behaupten musste, war mehr oder weniger zufällig. Formal waren Ben Gurion und Wladimir Jabotinsky die Führer nationaler Befreiungsbewegungen. Dem Wesen nach ist Israel aber gerade die Reaktion auf den nationalen Wahn. Unabhängig vom zionistischen Selbstverständnis ist es weniger eine antikolonialistische als vielmehr eine Art antinationalistische Nation. Als Staat, dessen vorrangige Auf­gabe die Verhinderung der Vernichtung ist und der den Überlebenden des nazistischen Mordprogramms ein Refugium gab, galt ihm bei aller Kritik im einzelnen die Solidarität der Kritischen Theorie.

Materialistische Kritik, zionistische Praxis

Es ist kein Zufall, dass gerade jene Intellektuellen, die sich so entscheidend vom gängigen Marxismus und der realexistierenden Linken abgrenzten, sich mit Israel solidarisch zeigten. Wenn Praxis, die auf allgemeine Emanzipation zielt, abgeschnitten ist, stellt sich die Frage, was man überhaupt noch tun kann. Die Einsicht, dass man zumindest die Rudimente der wie auch immer beschränkten bürgerlichen Freiheit verteidigen muss, was selbstverständlich nicht heißt, dass man die Beschränkung dieser Freiheit nicht immer wieder thematisiert, ist durchaus eine nahe liegende Antwort.

Es ist dies eine Freiheit, die in Israel seit der Staatsgründung gegen die vernichtungswütigen Nachbarn und – was aber etwas völlig anderes ist – gegen einige Kräfte im Innern der Gesellschaft behauptet werden muss. Wenn es einem heute angesichts der momentanen Aussichtslosigkeit von revolutionärer Praxis und angesichts der fast weltweit um sich greifenden regressiven Tendenzen zumindest noch um die Aufrechterhaltung der Möglichkeiten der kritischen Reflexion zu tun ist, so kann man ohne weiteres einer Feststellung von Max Horkheimer aus dem Jahr 1967 zustimmen. In einer Notiz über »Die Pseudoradikalen« meinte er: »Heute kommt es (…) darauf an, zu retten, was von der persönlichen Freiheit noch übrig ist. Radikal sein heißt heute konservativ sein« (1949–1969: 413).

Auch wenn Autoren wie Moshe Zuckermann, der auf antizionistischen Kongressen gern gesehenene Leiter des Instituts für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv, meinen, Zionismus und Kritische Theorie seien schlicht unvereinbar (vgl. Zuckermann 2004: 13 ff.), ist der kritische Pessimismus Adornos dem Zionismus in mancher Hinsicht durchaus verwandt. Der Mainstream-Marxismus hat sich bekanntlich auch von der Shoah nicht von seinem optimistischen Geschichtsverständnis abbringen lassen. Für Zionismus und Kritische Theorie hingegen markiert der Nationalsozialismus den welthistorischen Bruch.

Der Zionismus zog die praktischen Konsequenzen aus dem Scheitern sowohl aller Assimilierungsversuche als auch der bürgerlichen und sozialistischen Gleichheitsversprechen und misstraut seitdem völlig zu Recht jedem Versöhnungsangebot. Die Kritische Theorie zog die theoretischen Konsequenzen aus der Katastrophe für die materialistische Gesellschaftskritik, misstraute jedem begriffslosen Praktizismus, jedem linken Heilsversprechen und konfrontierte die kommunistische Kritik mit dem kategorischen Imperativ, alles Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.

Im Zionismus konstruiert sich Geschichte, ähnlich wie in der Kritischen Theorie, »nicht als Zu-sich-selbst-Kommen des Wesens, sondern als der historische Zusammenhang der Katastrophen und als Abwehr der kommenden. Die Zionisten handeln, als hätten sie sich der Bewahrheitung der ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹ Walter Benjamins verschrieben. In dieser negativen Geschichtsphilosophie ist der Materialismus dem Zionismus verwandt, wenn er auch so kontrafaktisch wie kategorisch, gegen alle Erfahrung und jeden Begriff, sich weigert, dessen These vom ›ewigen Antisemitismus‹ sich zuzueignen« (Initiative Sozialistisches Forum 2002: 14 f.).

Hier zeigt sich auch die Differenz zwischen Kritischer Theorie und Zionismus. Der Zionismus ist eine Notwehrmaßnahme gegen den Antisemitismus und muss in der Realisierung der Notwehr sich auf die Verfasstheit der Welt positiv beziehen. Er muss sich Staat und Kapitalakkumulation zu eigen machen, will er in einer Welt von Staaten und Kapitalakkumulation bestehen. Kritische Theorie hingegen hält an der Möglichkeit fest, mit der Abschaffung von Staat und Kapital auch die Notwendigkeit des Zionismus aus der Welt zu schaffen.

Horkheimer, der sich geradezu polternd über den Eichmann-Prozess echauffierte, dabei den israelischen Politikern allerdings zugestand, dass sie »den neuen Staat in der rasch sich bewegenden Welt zu lenken haben« und sich schon daher kaum den Luxus leisten könnten, den Bedenken eines kritischen Theoretikers »nachzuhängen« (1967: 159), sah in der Gründung Israels ein Moment der Resignation.

Während im jüdischen Messianismus das Moment der Hoffnung auf den versöhnten Zustand aufbewahrt sei und die jüdische Diaspora auf Grund der Erfahrung der Verfolgung das »Negative des Bestehenden« verkörpere, sei das jüdische Volk in der Realisierung des zionistischen Traums, wie es in Horkheimers Notiz »Staat Israel« Anfang der sechziger Jahre heißt, »selber positiv geworden. Nation unter Nationen, Soldaten, Führer, money-raisers für sich selbst. Wie einst das Christentum in der katholischen Kirche, nur weniger aussichtsreich, soll im Staat Israel das Judentum zunächst das Ziel erblicken; wie hat es doch im Triumph seines zeitlichen Erfolges im Grunde resigniert!« (1991: 369)

In einer merkwürdigen Analogie sah er in der Notiz »Ausgeträumt« in der jüdischen Diaspora und im »messianischen Vertrauen« (ebd.: 392), das sich in der politischen Realität antizionistisch artikuliert, Verbündete der trotz aller Aussichtslosigkeit an der allgemeinen Befreiung festhaltenden Kritischen Theorie. Der israelische Staat hingegen erscheint an solchen Stellen in seiner zwangsläufigen Positivität als eine Art sozialdemokratisches Arrangement mit der schlechten Realität.

Wie aber kann man es dem Zionismus zum Vorwurf machen, »positiv« geworden zu sein, wo der Materialismus mit all seinem im besten Sinne negativen Potenzial doch eine einzige Geschichte des Scheiterns geschrieben hat, wo er nicht in der Lage war, die gesellschaftlichen Gründe für den Antisemitismus aus der Welt zu schaffen? Was nützt die im jüdischen Messianismus antizipierte und aufbewahrte Erinnerung an die Versöhnung sowie die in der Kritischen Theorie festgehaltene Hoffnung auf die allgemeine Emanzipation und die Möglichkeit zur befreiten Gesellschaft, wenn die Juden tot sind?

Kommunismus und Zionismus

Es ist umstritten, ob es überhaupt legitim ist, Adorno oder Horkheimer als Kommunisten zu bezeichnen, wo sie sich selbst doch so sehr gegen diesen Begriff gesträubt haben, den sie durch den Sowjetmarxismus diskreditiert sahen. Doch jenseits alles akademischen Begriffsfetischismus kann man festhalten: Das, was die Kritische Theorie befreite Gesellschaft nannte, ist der Sache nach nichts anderes als der Kommunismus, ein Kommunismus im Sinne der Kritik alles Bestehenden, einer Kritik, die sich jedoch spätestens nach ­Auschwitz zu einigem dieses Bestehenden positiver verhalten muss, als es ihr lieb sein kann.

Kommunismus ist ein Begriff, der sich einer Definition im Sinne der gängigen Sozialwissenschaften entzieht. Streng genommen ist Kommunismus nichts weiter als die Bewegung der materialistischen Kritik. Kritiker, die Propaganda verabscheuen, sollten sich weigern, allzu detaillierte Beschreibungen einer befreiten Gesellschaft zu liefern. Aus der Kritik des Bestehenden ergibt sich allerdings in Grundzügen auch, was stattdessen sein sollte. Der Kritischen Theorie geht es darum, gesellschaftliche Zustände zu schaffen, die es den Menschen erstmals ermöglichen, ihr Leben selbstbewusst zu planen. Das wäre dann nicht das Paradies auf Erden, in dem es keine Probleme und Widersprüche mehr gibt, aber eine nach Maßgaben der Vernunft eingerichtete Gesellschaft, in der niemand, und zwar nirgendwo auf der Welt, verhungern muss, weil er über keine zahlungskräftige Nachfrage verfügt.

Kommunismus in diesem Sinne hat weder mit dem traditionellen Marxismus noch mit alternativen Verzichtsideologien etwas zu tun. Kritischer Theorie geht es weder um eine gleichmäßige Verteilung des Elends noch um Konsumverzicht. »Luxus für alle« kommt den Intentionen von Marx wie Adorno schon sehr viel näher. Kommunistische Kritik will nicht vorbürgerliche Verhältnisse herstellen, weder was die Produktivität betrifft (bei aller notwendigen Kritik an einer unter dem Kapitalverhältnis entwickelten Technik), noch was die begonnene Emanzipation des Individuums aus den Fesseln archaischer Gemeinschaften angeht.

Kommunistische Kritik kreidet dem Kapitalismus nicht an, dass er beispielsweise »Revox«-Stereoanlagen hervorgebracht hat, sondern, dass solche Dinge, obwohl es nicht notwendig wäre, den meisten Menschen vorenthalten werden; nicht durch den bösen Willen irgendwelcher Einzelner oder das bewusste Handeln einer Klasse (auch, wenn sie dabei eine Rolle spielt), sondern durch die Logik eines Systems, das sich nicht an den Bedürfnissen von Menschen, sondern an der Verwertbarkeit des Kapitals orientiert.

Kommunistische Kritik kreidet der bürgerlichen Gesellschaft nicht an, dass sie bestimmte Freiheits- und Individualrechte hervorgebracht hat, sondern weist darauf hin, dass eine Gesellschaft, die solche Rechte notwendig hat, weiterhin eine gewalttätige Gesellschaft ist. Diese Kritik richtet sich nicht gegen das Glücksversprechen der Bürger, sondern versucht, seinen ideologischen Gehalt aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass dieses Versprechen in der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht eingelöst werden kann.

Zudem weiß Kritische Theorie, dass es Schlimmeres gibt als den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft: ihre barbarische Aufhebung. Für diese negative Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft steht Deutschland, dafür stehen Nationalsozialismus und Faschismus, dafür stehen auch panarabisch-nationalistische und islamistische Ideen. Diese Ideologien wollen einen ressentimentgeladenen Antikapitalismus, der das vom Kapital verursachte Elend nicht abschaffen, sondern nur anders, nämlich volksgemeinschaftlich oder ummasozialistisch, organisieren möchte und die zynische, den Tod zahlreicher Menschen achselzuckend in Kauf nehmende instrumentelle Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft noch durch die wahnhafte Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen ergänzt.

Vor diesem Hintergrund ist die Parteinahme für Israel, für die man sich keine Sekunde lang darüber hinwegzutäuschen braucht, dass staatliche Verteidigungsmaßnahmen immer auch zu Grauen erregenden Übergriffen führen, eine zwingende Konsequenz aus der kommunistischen Kritik. Hier wird deutlich, dass die kategorischen Imperative in der Fassung von Marx und Adorno sich keineswegs widersprechen, dass also Adornos Forderung, alles Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe, nur dann entsprochen werden kann, wenn man sich der Marxschen Forderung verpflichtet fühlt, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Der zionistische kategorische Imperativ lautete dann, vom materialistischen Verständnis aus betrachtet, in etwa: Solange es Menschen gibt, die sich zwar dem Marxschen Imperativ verpflichtet fühlen, mit ihrem Anliegen aber keineswegs erfolgreich sind, versuchen wir dem Adornoschen Imperativ dadurch gerecht zu werden, dass wir mittels Gewalt die körperliche Unversehrtheit von Juden und Jüdinnen gewährleisten. Solange die emanzipative Überwindung von Staat und Kapital keine Aussicht auf Erfolg hat, gilt es, kritische Theorie als entfaltetes Existenzialurteil zu betreiben und an einem materialistisch zu interpretierenden zionistischen kategorischen Imperativ festzuhalten: alles zu tun, um die Möglichkeiten reagierender und präventiver Selbstverteidigung des Staates der Überlebenden der Shoah aufrecht zu erhalten.

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1942): Reflexionen zur Klassentheorie, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 8, Frankfurt/M. 1997

Adorno, Theodor W. (1959): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: GS, Bd. 10.2

Adorno, Theodor W./Tobisch, Lotte (2003): Der private Briefwechsel, Graz / Wien

Horkheimer, Max (1949–1969). Nachgelassene Notizen 1949-1969. Gesammelte Schriften (GS). Bd.14, Frankfurt/M. 1988

Horkheimer, Max (1949–1973): Briefwechsel 1949–1973, GS, Bd. 18

Horkheimer, Max (1967): Zur Ergreifung Eichmanns. In: GS, Bd. 8

Horkheimer, Max (1991): »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und »Notizen 1949–1969«, GS, Bd. 6

Initiative Sozialistisches Forum (2002): Der Kommunismus und Israel. In: Dies.: Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie. Freiburg

Krug, Uli (2003): Antiimperialismus und Antiamerikanismus. Warum der Vietkong nichts für die deutsche Friedensbewegung kann, in: Bahamas, Nr. 40/03

Kraushaar, Wolfgang (Hg.) (1998): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946 bis 1995, Bd. 2. Hamburg

Löwenthal, Leo (1990): Judaica, Vorträge, Briefe. Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M.

Marcuse, Herbert (2004): Nachgelassene Schriften, Bd. 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen, Springe

Nachtmann, Clemens (2004): Drittes Reich, Dritte Welt, Dritter Weg. Über Rassismus und Antirassismus. In: Bahamas, Nr. 43/03-04

Zuckermann, Moshe (2004): Kritische Theorie in Israel. Analyse einer Nichtrezeption. In: Ders. (Hg.): Theodor W. Adorno. Philosoph des beschädigten Lebens, Göttingen

Gekürzter Vorabdruck aus: Stephan Grigat (Hg.): Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus; Ça ira-Verlag, Freiburg 2005. Ca. 250 Seiten, 14 Euro. Inhaltsverzeichnis unter www.cafecritique.priv.at. Das Buch erscheint dieser Tage.