Vom Aufstieg zum Fall

Die Bewegung der französischen Kulturprekären und die Kritik des Spektakels, Teil 2. Von Bernd Beier

Die Kulturprekären bleiben somit zunächst allein auf weiter Flur zurück. Aber ihre Bewe­gung kommt erst jetzt richtig in Schwung. Barbara Serré-Becherini (1) schreibt: »In der Nacht des 26. Juni wird, wie vorhergesehen, das neue Protokoll über das Statut der Kulturprekären gegengezeichnet, dank der Kollaboration des Gewerkschaftsapparats CFDT (gegen die Stimme der CFDT-Gewerkschafter selbst!), einige Stunden nach einer Demonstration in Paris mit mehr als 10 000 Personen. Vom nächsten Tag an reorganisiert sich die Masse, die an den Versammlungen und den Aktionen der CGT beteiligt war und zu der nun zahlreiche Neuankömmlinge stoßen, spontan außerhalb jeder Gewerkschaft und bildet die ›Koordination der Intermittents und Prekären – Île de France‹ (›CIP-IdF‹). Diese Selbstorganisation der IM ist zunächst Folge ihrer (relativen) Radikalisierung, aber auch der Treffen und Aktionen, die in den vorangegangenen Wochen ohne die CGT von PAP und der CNT-spectacle organisiert worden waren.«

Die Bezeichnung als »Koordination der In­termittents und Prekären« reflektiert eine politische Strategie, die insbesondere von den Assoziierten Prekären von Paris vertreten wird. Die Koordination soll nicht allein den Interessenskampf der Kulturprekären gegen die Verschlechterung ihrer Sonderregelungen führen, vielmehr soll sie prinzipiell offen sein für alle, die prekären Beschäftigungs- und Überlebensbedingungen unterworfen sind und sich gegen diese wehren wollen.

Die Kulturprekären stellen in den Augen der Assoziierten Prekären nur ein Beispiel dar für die generelle Prekarisierung, der immer mehr Arbeiter unterworfen sind. Insofern soll über den Abwehrkampf der Kulturprekären hinaus versucht werden, die Sonderregelungen potenziell auf alle Prekären auszuweiten; die andere politische Klammer soll die Forderung nach einem garantierten Einkommen darstellen, unter der auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sich in die Auseinandersetzungen integrieren sollen. Aber diese, die Grundkategorien des Kapitalismus wie Geld, Arbeit, Staat affirmierende Strategie funktioniert nicht. Man wird sehen, warum.

Zunächst aber schwappt eine Welle direk­ter Aktionen durch den Sektor des Spektakels. Auf den Vollversammlungen der Pariser Koordination sind Hunderte von Kulturprekären versammelt, oft finden nach dem Ende der Versammlung Aktionen statt, die von der Aktionskommission vorbereitet wurden. Eine Aufführung in der Comédie française wird sabotiert, indem Hunderte vor dem Gebäude laut klatschen und Parolen rufen, an einem Abend wird das Lido blockiert, an einem andern ein Kino, wilde Arbeitsniederlegungen finden statt oder Inter­ventionen in TV-Liveshows. In der Provinz etablieren sich nach dem Pariser Muster weitere Koordinationen, insgesamt 28 werden es schließlich sein. Zudem werden die großen kulturellen Sommerfestivals bestreikt und fallen aus – ein harter Schlag für die Tourismusindustrie, die vor allem in der Provinz von diesen kulturellen Spektakeln abhängig ist. (Politiker und Medien schwadronieren angesichts solcher Aktionen gerne von »Geiselnahme«. Das Publikum würde von den Künstlern, die Schüler von den streikenden Lehrern und die Passagiere von streikenden Transportarbeitern als Geisel genommen.)

Regression

Doch die direkte Demokratie in der Pariser Koordination währt nur kurze Zeit. »Schnell organisiert sich die Koordination in ›Kommissionen‹, die gehalten sind, der Generalversammlung Rechenschaft von ihren Aktivitäten abzulegen (…): In einigen dieser Kommissionen werden die Neigungen von Künstlern und Politikern zur Paranoia, zum Egozentrismus, zum Sektenwesen, zur aktivistischen Meritokratie etc. Gestalt annehmen, die mehr und mehr Leuten missfallen werden«, schreibt Serré-Becherini und fährt fort:

»Eine ›Kommission Vorschläge-Forderungen‹ wird sofort zum Ziel von Manövern der Politiker, die für ein garantiertes Einkommen plädieren, und die Schaffung einer ›kommissionsübergreifenden Kommission‹, die aus jeder Kommission je einen Repräsentanten vereint und über die Tagesordnung der Versammlungen entscheidet, lässt schnell voraussehen, dass bestimmte Entscheidungen von einer kooptierten Minderheit getroffen werden könnten, zum Schaden der besten demokratischen Willensäußerungen. Als die Aktivisten der ersten Tage erschöpft ihre Mandate niederlegen, werden sie von den Künstlern und den Politikern ersetzt, die der direkten Demokratie und der Souveränität der Versammlung ein Ende bereiten werden: In der zweiten Hälfte des Juli wird so hinter dem Rücken der Versammlung eine ›Kommission Beziehungen zu den Abgeordneten‹ geschaffen, und man munkelt, dass die schauerliche so genannte sozialistische Partei die ›branchenübergreifende Kommission‹ unterwandert. In den Versammlungen muss man künftig schon dafür kämpfen, dass vor den Abstimmungen überhaupt eine Debatte stattfindet.«

Auch inhaltlich regrediert die Bewegung. Unwidersprochen wird bereits Ende Juni auf einer Vollversammlung der Pariser Koor­dination zur Verteidigung der »exception culturelle française«, der berühmten »französischen kulturellen Ausnahme«, aufge­rufen – ein Instrument des französischen Staats zur Programmierung seiner Kulturpolitik.

Im Juli spiegelt ein Text der »commis­sion lien-Europe« (etwa: Kommission Verbindung-Europa) das ganze Elend affirma­tiven Denkens wider: »Liebes Publikum, liebe Künstler und Bühnentechniker! Wir, Künstler und Bühnentechniker aus Frankreich, wenden uns heute an Sie, denn wir sind in einer Notstandssituation: Am 26. Juni wurde ein vom französischen Arbeitgeberverband (Medef) initiierter Vertragsentwurf, der unsere berufsspezifische Arbeitslosenversicherung betrifft, von drei minderheit­lichen Gewerkschaften unterzeichnet. (…) Doch die Logik, auf die sich dieser Vertragsentwurf stützt, ist nicht nur ein ›französisches Problem‹, sie geht viel weiter: Es ist eine Logik der Kulturvermarktung, die die Produktion materiellen Reichtums zum einzigen Wert erhebt. (…) Sie ist auch Symptom einer politischen Tendenz, die ganz Europa betrifft, das bis jetzt die so genannte ›europäische kulturelle Ausnahme‹ bewahrt hat. Diese ›kulturelle Ausnahme‹ besteht darin, durch Gesetze der Europakonvention das Prinzip der Subventionierung von Kultur zu schützen, und wehrt sich dagegen, die Kultur als einfaches Handelsgut zu betrachten. Trotzdem existiert in vielen europäischen Ländern immer noch so gut wie keine soziale Absicherung für Künstler. (…) Wir rufen Sie alle auf, Sie alle, die wie wir das Theater lieben, Sie alle, die wie wir den­ken, dass die Produktion menschlichen und intellektuellen Reichtums ein Grundwert ist, den es zu verteidigen gilt – wir rufen Sie auf, solidarisch zu sein mit dem Kampf der Künstler für den Schutz der Kreation und der in ihr Wirkenden, in Frankreich wie in allen anderen Ländern Europas auch.« (2)

Natürlich handelt es sich bei diesem Text um einen Versuch, die Bewegung zu internationalisieren, aber lediglich als »Kampf der Künstler für den Schutz der Kreation und der in ihr Wirkenden«, was ein wenig an Appelle zum Schutz bedrohter Tierarten erinnert. Verschwunden sind die Prekären außerhalb der spektakulären Kulturproduktion, welche die Koordination ihrem Namen nach ja auch organisieren will.

Die »französische kulturelle Ausnahme« wird großzügig zur »europäischen« erklärt und als »Subventionierung von Kultur« verstanden – kein Gedanke an die Kritik des Spektakels und der Kommodifizierung der »Kultur«; vielmehr erinnert die der Europakonvention untergeschobene Absicht, die Kultur nicht »als einfaches Handelsgut« zu betrachten, an die monatlich von Le ­Monde diplomatique verbreitete staatsfetischistische Ideologie: der »regulierende« Staat als Bündnispartner im heldenhaften Kampf gegen den angelsächsischen Ultraliberalismus, Hollywood und den amerikanischen Kulturimperialismus. Im Übrigen wird der »Produktion materiellen Reichtums« umstandslos die »Produktion menschlichen und intellektuellen Reichtums« entgegengesetzt, während beide doch von der Logik der Ware kommandiert werden.

»In dieser Periode«, schreibt Serré-Becherini, »können alle Debatten in der strategischen Frage zusammengefasst werden: Soll man angesichts der Unflexibilität der Regierung die Aktionen radikalisieren, indem man sie anderen im Kampf befindlichen Sektoren öffnet? Oder soll man eher versuchen, die Gunst der Öffentlichkeit und der Kulturwelt zu gewinnen? Anfangs denkt die übergroße Mehrheit, dass diese beiden Strategien zusammen verfolgt werden können, und wir sind nur einige vereinzelte Individuen, die versichern, dass der Einheitsdiskurs über die ›Rettung der französischen Kultur‹ jede praktische Solidarität mit den anderen Sektoren außerhalb einer pseudo-privilegierten sozialen Nische, für welche die ›französische Kultur‹ speziell bestimmt ist, verhindert: Die große Masse der Bevölkerung, und insbesondere die anderen prekären Arbeiter, war nicht im geringsten von der ›Zukunft‹ dieser verfaulten Ware betroffen.«

Zwar teilen nicht alle diese Sichtweise, aber »die ›kulturelle‹ Strategie wird regelmäßig durch Interventionen von Lehrern verstärkt, die sich, als Publikum der Theatersäle und Festivals, mit den Forderungen der Kulturprekären solidarisch erklären. Im Vertrauen auf diese Unterstützung gelingt es den Künstlern nach und nach, ihre Ideologie durchzusetzen. Sie verteidigen eine vorgeblich ›engagierte‹, ›wahre Kultur‹ gegen die Angriffe einer ›Massensubkultur‹, der sie misstrauen (ich habe nie begriffen, wo diese ›engagierten Künstler‹ die Grenze ihres Misstrauens ziehen. Der Inhalt ihrer ›Werke‹ – die ohne die Subventionen des Kulturministeriums oder zumindest der Stadt Paris nicht existieren würden – überschreitet selten den Moralismus eines Einführungskurses in Staatsbürgerkunde).«

Auch auf der Ebene der Aktionsformen sind gewisse Defizite zu verzeichnen. Die Gruppe »Temps critiques« bemängelt, dass in dem Streik »nie die Kritik der Tätigkeit als solcher ausgedrückt wurde«, und ana­lysiert: »Was ins Auge gefasst wurde, war somit nicht die Abschaffung des Spektakels als getrennter menschlicher Tätigkeit, sondern seine Suspendierung. (…) Die Kulturprekären haben ein weiteres Mal die Erfahrung gemacht, dass es nicht möglich ist, die ›Öffentlichkeit‹ hinter den Forderungen und Aktionen zu sammeln, ohne die Existenz des Spektakels selbst aufzulösen, ohne mit bestimmten Funktionen und Rollen zu brechen. Angesichts von Reaktionen wie ›Amüsiert uns und haltet die Klappe!‹, die eine Nichtanerkennung des Künstlers als menschliches Individuum signalisieren, kann dieser dann mehr oder weniger bewusst antworten: Wenn ihr mir diese An­erkennung verweigert, werdet ihr keinen Zugang zu meiner Kunst haben. Alle Welt verbleibt dann in der ursprünglichen Trennung, der des Tauschvertrags zwischen Verkäufer und Käufer, Schaffenden und Konsumenten.«

Zumindest in anderer Hinsicht aber enthält die Bewegung der Kulturprekären auch sprengende Momente. Serré-Becherini bemerkt: »Die endlosen Debatten, ob die Blockade bestimmter ›Off‹-Festivals oder ›engagierter‹ Theateraufführungen nun angemessen sei, die manchmal von den Direktoren und Organisatoren selbst abgeschnitten wurden (…), die Frage, ob man die Öffentlichkeit mit Hohngelächter empfangen sollte oder nicht, wenn sie ihre Unzufriedenheit kundtat, des Spektakels beraubt zu sein, sind der Beweis, dass die Bewegung der Kulturprekären auch eine illusionslose Revolte gegen die sehr simple Perspektive ausgedrückt hat, mehr arbeiten zu müssen, um weniger Geld zu verdienen: Auf dieser elementaren Grundlage hätte sich die Bewegung explizit als ›sommerliche‹ Folge der sozialen Bewegung des Frühjahrs entwickeln können und müssen.«

Diese hier vorgestellte »elementare Grund­lage« beschränkt die Kritik jedoch auf die ökonomischen Zumutungen der kulturellen Warenproduktion, auf die Verteilung des Mehrwerts. Insofern stellt sie auch einen Rückzug vor den subjektiven Mängeln der Bewegung dar. Das kommt nicht von ungefähr, denn »das Gesetz des Schweigens zu brechen, das die Produktionsweise der ›Kultur‹ verdeckt, d.h. den kulturellen Markt zu sabotieren, erscheint vielen als ›selbstmörderisch‹ … So siegt die ›kulturelle‹ Strategie schließlich schnell, unter der Führung linker Künstler und der ›Vertreter eines Garantierten Einkommens‹. Daher der beschleunigte Verfall der Bewegung der Kulturprekären, vom lächerlichen Happening (…) über die Transformation der Koordina­tion der Intermittents und Prekären der Île de France in einen Verein nach dem Gesetz von 1901 bis zur letzten Forderung nach einer ›Debatte über die Zukunft der Kultur‹ auf einer öffentlichen TV-Kette zur besten Sendezeit … All das, um letztlich nichts zu erreichen: Was also konnten die Kulturprekären bei der Sabotage der ›Kultur‹ verlieren, was sie nicht mit ihrer feigen ›kulturellen‹ Strategie verloren haben?«

Im Hinblick auf die angeblich subversiven Qualitäten der Kultur oder auch der Kunst aber ist zu konstatieren: »So präsentiert sich die ›Kultur‹ (oder die ›Kunst‹) nicht nur als eine Ideologie von Possenreißern, sondern auch als ein Deckmantel der Mä­ßigung. Die Situationistische Internationale (da in dieser Geschichte sich so viele, explizit oder insgeheim, auf Guy Debord und seine Genossen beziehen) folgerte dennoch vor bereits 40 Jahren, dass es in der Perspektive der Subversion dieser Gesellschaft perfekt vergeblich ist, sich einer ›künstlerischen‹ Logik zu verschreiben, als sie alle ihre Mitglieder ausschloss, die noch diese Illusion teilen konnten: und das in einer Epoche, in der die künstlerische ›Avantgarde‹-Aktivität noch nicht allein das reine Plagiat, oder bestenfalls die platten Imitationen, der zeitgenössischen Scharlatane war!«

Das Nachspiel

Im August findet erneut ein Treffen der globalisierungskritischen Bewegung statt. 250 000 Personen treffen sich auf dem Lar-zac, wo Mitte der siebziger Jahre die Errichtung eines Truppenübungsplatzes verhindert wurde. Jacques Nikonoff bleibt es vorbehalten, das Totenlied auf die Bewegung vom Frühjahr 2003 anzustimmen, indem er versichert: »Tatsächlich ist Larzac 2003 das wichtigste Treffen, das bis zu diesem Tage in Frankreich von den Altermondialisten verwirklicht wurde. Eine Macht ist geboren. Das Larzac 2003 bezeugt die Kontinuität der sozialen Mobilisierung des Frühlings und bekräftigt das Aufsteigen der altermon­dialistischen Bewegung als größerem Akteur in der Debatte von sozialen und politischen Ideen.« Nebenbei erinnert er an »die positive Rolle, die der Staat spielen könnte«.

Die Rolle des linksradikalen Hofnarren übernimmt José Bové, dem die französische Justiz einen veritablen Märtyrerstatus verschaffte, als sie ihn im Juni brachial verhaften und für einige Wochen ins Gefängnis sperren ließ. Bei dem Treffen auf dem Larzac ruft er auf vollständig illusionäre Weise zu einem »brennenden Herbst« auf: Ab 6. September solle die Bewegung auf die Straße gehen, um gegen ein Treffen der Welthandelsorganisation im mexikanischen Cancún, gegen Privatisierungsvorhaben der französischen Regierung usw. zu demonstrieren.

Einige Tausend folgen dem Aufruf, aber die von Gewerkschaftern angekündigte »Wiederaufnahme des Streiks, die dem Mai ’68 würdig« sein sollte, bleibt selbstverständlich aus: Ist die Dynamik einer Streikbewegung erst einmal gebrochen, lässt sie sich nicht einfach auf Knopfdruck wieder herstellen. Und so bezeugt das spektaku­läre Treffen auf dem Larzac weder die Nikonoffsche »Kontinuität der sozialen Mobilisierung«, noch trägt es zu einem Bovéschen »brennenden Herbst« bei.

Immerhin veranschaulicht im Februar 2004 ein »Appel contre la guerre à l’intel­li­gence«, der innerhalb kurzer Zeit von mehr als 20 000 Kopfarbeitern unterschrieben wurde, dass die Unruhe im Bereich der intellektuellen Produktion weiter besteht. Aber dieser Aufruf hat keine praktischen Konsequenzen, und inhaltlich ist er von mehr als zweifelhafter Qualität.

Nachdem die Verfasser lang und breit erklären, dass einer Universität ohne Kredit nichts näher stehe als ein stillgelegtes wissenschaftliches Labor, einem Kulturprekären ein prekärer Doktorand, einem Architekten ein Anwalt oder ein Arzt, dessen Freiheit zur Ausübung seines Berufs mehr und mehr eingeschränkt werde, einem Arbeitslosen ohne weiteren Anspruch auf Arbeitslosenallokation ein Künstler auf Sozial­hilfe, einem Lehrer seine Schüler, nachdem sie also alles und jedes miteinander vermen­gten, stellen sie großartig fest: »All diese Sektoren des Wissens, des Forschens, des Denkens, des sozialen Bandes, Produzenten von Kenntnissen und der öffentlichen Debatte sind heute Objekt massiver Angriffe, die einen neuen Anti-Intellektualismus des Staats enthüllen. Wir erleben die Umsetzung einer extrem kohärenten Politik. Einer Politik der Verarmung und der Prekarisierung aller Räume, die für kurzfristig unproduktiv, nutzlos oder dissident gehalten werden, der ganzen unsichtbaren Arbeit der Intelligenz, aller Orte, an denen sich die Gesellschaft denkt, träumt, erfindet, pflegt, beurteilt, repariert.«

Dieser angebliche »Anti-Intellektualismus des Staats« ist aber nichts anderes als die Entwicklung des Kapitalismus selbst: Die neuen Produktivkräfte, die durch die dritte industrielle Revolution zur Verfügung gestellt werden, entwerten einen großen Teil der geistigen Fähigkeiten, auf eine ähnliche Weise, wie früher das handwerkliche Geschick durch die industrielle Produktion entwertet wurde. Auf die Entwertung der Handarbeit folgt die Entwertung der Kopfarbeit, und das unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit, wie sie sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in den vergangenen 30 Jahren durchgesetzt hat.

Das sorgt für eine Beunruhigung unter den Führungskräften, der Metamorphose des selbständigen städtischen Kleinbürgertums aus dem 19. Jahrhundert, das lohnabhängig wurde und nunmehr von Arbeitslosigkeit bedroht ist. Als Kompensation für diese Entwicklung stellt die spektakuläre Gesellschaft die Ideologie der«Selbstver­wirklichung« in und durch die Arbeit zur Verfügung, die insbesondere bei den Kulturprekären, die sich gerne als »kreativ«, »schöpferisch«, »unabhängig« und »flexibel« bezeichnet sehen, auf fruchtbaren Boden fällt.

So ist bei ihnen eine ähnliche Grenze festzustellen wie bei den Lehrern, die das Abitur boykottieren wollten, ohne es zu kritisieren. Die eigene Tätigkeit, die eigene Rolle und Funktion in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird von der Kritik weitgehend ausgenommen, die Kritik der Arbeit bleibt rudimentär. Was umso bedauerlicher ist, als der Kulturprekäre in einem gewissen Sinn ein Modell des Arbeiters der Zukunft ist, wie es Pierre-Michel Menger beschreibt: »In den gegenwärtigen Repräsentationen steht der Künstler neben einer möglichen Verkörperung des Arbeiters der Zukunft, mit der Figur des erfinderischen, mobilen Professionellen, störrisch gegen-über Hierarchien, wesentlich motiviert, gehalten in einer Ökonomie des Ungewissen und den Risiken individueller Konkurrenz und den neuen Unsicherheiten beruf­licher Laufbahnen stärker ausgesetzt; (alles verläuft, als ob) die Kunst ein Prinzip der Fermentation des Kapitalismus geworden sei«. (3)

Gerade die radikale Kritik dieser neuen Rolle und Funktion, welche die Gesellschaft des Spektakels dem »Künstler« zugedacht hat, könnte einem Interessenskampf der Kulturproduzenten, der ansonsten leicht Gefahr läuft, in der Isolation zu verenden, eine universalisierbare Dimension verleihen. Generell gilt für die Streikbewegungen im Bereich der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft zwar die Prognose von »Temps critiques«: »In dieser Gesellschaft, in der die Kenntnisse, die Informa­tion, die Kommunikation, die Kultur, die Technowissenschaften die Hauptfaktoren in der ›Schaffung von Wert‹ sind, werden die Lohnabhängigen der Reproduktion, die die kapitalistische Dynamik umkehren, sich notwendigerweise in der ersten Linie künftiger revolutionärer Erschütterungen finden.« Aber die Anhänglichkeit der Kopfarbeiter an die Ideologien der middle class von »kreativer« Arbeit und »Autonomie« im Dienste des Warenfetischs stellt ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dafür dar.

Die Rezeption in Deutschland

War bereits bei den Kämpfen der französischen Kulturprekären die Fetischisierung der »französischen kulturellen Ausnahme« mit ihrem impliziten Bezug auf den Staat ein maßgebendes Element zur Neutralisierung radikaler Kritik, so stellt sich das Problem in der »deutschen Kulturnation« in doppelter Schärfe. Zu Recht hat Marx bereits vor 160 Jahren festgestellt: »In Frankreich genügt es, dass einer nichts sei, damit er alles sein wolle. In Deutschland darf einer nichts sein, wenn er nicht auf alles verzichten soll«, womit er das Problem zunächst auf der individuellen Ebene fasste, um fortzufahren: »In Frankreich ist die partielle Emanzipation der Grund der universellen. In Deutschland ist die universelle Emanzipation conditio sine qua non der par­tiellen.«

Die Wahrheit dieses Ausspruchs ließ sich im Spätsommer 2004 in den Protesten gegen die Hartz-IV-Reformen erneut bewundern. Das partielle Interesse – die Abschaffung der Hartz-IV-Reformen – wurde bereits auf den ersten Demonstrationen, die überwiegend in Ostdeutschland stattfanden, von der Parole »Wir sind das Volk« konterkariert. Ein Appell an die Verwalter des Staats ersetzte den Interessenskampf. Anders gesagt: Noch bevor sich ein partielles Interesse Geltung verschaffen konnte, waren die Protestierenden bereits in den Höhen der Abstraktion angelangt.

Von dieser gesellschaftlichen Umgebung sind auch die Diskussionen unter deutschen Linken und Kulturprekären geprägt. Die Bewegung der Intermittents in Frankreich wurde von ihnen eifrig rezipiert, und am 1. Mai 2005 wurde ein »Euromayday« organisiert, der den Startschuss zu Mobilisierungen gegen die generelle Prekarisierung der Überlebens- und Arbeitsverhältnisse geben sollte. Aber mangels nennenswerter Interessenskämpfe blieben die entsprechen­den Demonstrationen am 1. Mai klein. Von einer Dynamik in der Mobilisierung konnte keine Rede sein.

Symptomatisch für die Debatten unter deutschen Kulturprekären ist ein Interview mit der Gruppe »kpD/kleines postfordistisches Drama«, bestehend aus Brigitta Kuster, Isabell Loreley, Marion von Osten und Katja Reichard. Sie haben »15 Leute in Berlin« (»inklusive uns selbst«) interviewt, »die nicht nur kulturelle Produkte, sondern auch kritische Diskurse und gesellschaftspolitische Handlungsfelder erarbeiten« (4). Eine »Standardfrage« lautete: »Sollten Kulturproduzentinnen sich auf Grund ihrer gesellschaftlichen Vorzeigerolle mit anderen sozialen Bewegungen zusammentun, um an neuen Formen der Organisierung zu arbeiten?« Mit den Interviews sollte »das Verhältnis zwischen der Prekarisierung der jeweiligen Lebensverhältnisse und der Widerspenstigkeit von Kultur- und Wissensproduktion« untersucht werden.

Statt über die generelle »Widerspenstigkeit von Kultur- und Wissensproduktion« zu grübeln, das heißt über die Widerspenstigkeit des Spektakels, ließe sich ebenso gut über die Widerspenstigkeit des Gefängnisses sinnieren, das seine gesellschaftliche Funktion ebenso gut erfüllt wie das Spektakel. Und die Widerspenstigkeit dieser Kulturproduzentinnen scheint von einem ähnlichen Kaliber zu sein wie die von Gefängniswärtern, die über die Prekarisierung ihrer Arbeitsverhältnisse klagen, ohne einen Gedanken an ihre gesellschaftliche Funktion zu verschwenden. »Der Wunsch nach Kontinuität (der Arbeit) war der am meisten formulierte«, stellen sie fest. »Die Arbeit sickert in dein Leben«, beschreibt eine Interviewte, aber, so stellt kpD fest, »ein ›gutes Leben‹ sickert scheinbar nicht genug in unsere Arbeit, wodurch diese dann wiederum zu etwas transformiert werden könnte, mit dem man kollektiv zufrieden wäre«. Zudem scheinen die Gedanken der Interviewten durch das Spektakel bereits dermaßen stark geprägt zu sein, dass sie in ihrem »Vorstellungshorizont kaum alternative Lebenskonzepte« auffinden.

Die Perspektive aber, »gutes Leben« und ihre eigene entfremdete Arbeit im Spektakel zum Zwecke kollektiver Zufriedenheit zu versöhnen, ist allem, was an Kritik der Kunst, der Ideologie, des Spektakels, der Arbeit, des Staats, des Kapitals in den letzten 200 Jahren auf theoretischer wie praktischer Ebene hervorgebracht wurde, radikal entgegengesetzt. Sie spüren deutlich, dass sie als prekäre Kopfarbeiter nicht glücklich sind, wollen aber als Kulturproduzenten an­erkannt werden. Das unglückliche Bewusstsein als spektakuläre Kopfarbeiter kompensieren sie durch die phantastische Vorstellung einer gesellschaftlichen »Vorzeigerolle«, auf deren Grundlage sie sich auch noch mit anderen Arbeitern organisieren wollen, anstatt diese Rolle mitsamt den in ihr steckenden Mystifikationen theoretisch wie praktisch zu kritisieren. Selten hat sich der Anspruch auf eine gesellschaftliche Führungsrolle, und sei es nur auf dem Gebiet der pseudoradikalen Kontestation, derart verschämt dargestellt.

Darin zeigt sich erneut, in den Worten von Marx, jener »bescheidene Egoismus, welcher seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich geltend machen lässt«, der dazu führt, dass in Deutschland »jede Sphä­re der bürgerlichen Gesellschaft (…) ihre Niederlage erlebt, bevor sie ihren Sieg gefeiert, ihre eigne Schranke entwickelt, bevor sie die ihr gegenüberstehende Schranke überwunden, ihr engherziges Wesen geltend macht, bevor sie ihr großmütiges Wesen geltend machen konnte, sodass selbst die Gelegenheit einer großen Rolle immer vorüber ist, bevor sie vorhanden war«.

Diese Beschränktheit der Kritik aber hat in der spezifischen Verfasstheit der »deutschen Kulturnation« ihren Kulminationspunkt. Das »integrierte Spektakuläre, das heute dazu tendiert, sich weltweit durchzusetzen« (Guy Debord), findet in seiner deutschen Form, in jener Form, die das Staatssubjekt Kapital in Deutschland in der Folge der friedlichen »deutschen Revolution« von 1989 angenommen hat, eine besondere Qualität.

Die Vormachtstellung im Augenblick der Installierung des integrierten Spektakulären schien Debord zufolge Frankreich und Italien zugefallen zu sein, und zwar »durch das Zusammenspiel einer Reihe von histo­rischen Faktoren«: »die bedeutende Rolle der stalinistischen Partei und Gewerkschaft im politischen und geistigen Leben, die schwache demokratische Tradition, die lange Monopolisierung der Macht durch eine Regierungspartei, die Notwendigkeit, überraschend aufgetretener revolutionärer Kontestation ein Ende zu bereiten«.

In Deutschland aber, das in Ost wie West von einer überaus »schwachen demokratischen Tradition« und der »langen Monopolisierung der Macht durch eine Regierungspartei« geprägt war, haben sich die zwangs­demokratisierten Nachfolger der nazistischen Konterrevolution mit den Erben der stalinistischen Konterrevolution aus der DDR zur Verwaltung der Waren produzierenden Gesellschaft vereinigt. Es handelte sich also hierzulande nicht um die Fusion einer Partei der Macht mit einer Partei der Opposition, wie kläglich deren Rolle als oppositionelle Kraft, geschweige denn als revolutionäre, auch immer ausgesehen haben mag.

Die DDR-Stalinisten waren nicht Opposi­tion wie die so genannten kommunistischen Parteien im restlichen Westeuropa, sondern unmittelbar als Staatspartei organisiert, und zudem waren und sind sie ebenso wie ihre feindlichen Brüder aus dem Westen zutiefst vom deutschen Nationalismus geprägt, der aus einer romantisch-völkischen, gegen die Aufklärung und gegen die französische Revolution gerichteten Tradition stammt. Das von der bürokratischen Klasse in der DDR ebenso wie von der herrschenden Klasse der BRD immer wieder beschworene gemeinsame »kulturelle Erbe« – von Luther bis Bismarck – erleichterte den Ostbürokraten die Integration in die großdeutsche »Kulturnation«.

Die wiederum speist sich aus den trüben Quellen der »deutschen Kultur« als Ausdruck einer imaginierten deutschen Volksseele. Das zeigte sich bereits im 19. Jahrhundert, als in den ökonomisch fortgeschrittenen Nationen England und Frankreich die Weltausstellungen für das Establishment zu »Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware« (Walter Benjamin) wurden, während in Deutschland den Platz des entsprechenden Wallfahrtsortes Bayreuth eingenommen hat, wo bis heute zum Entzücken des deutschen Establishments alljährlich Richard Wagners mystisches Germanentum zelebriert wird, und sei es in einer vorgeblich ironisierten Form wie bei den infantilen Inszenierungen von Christoph Schlingensief in den vergangenen Jahren unter rot-grüner Regentschaft.

Die Ideologie von der »deutschen Kulturnation« aber hatte und hat vor allem eine kompensatorische Funktion. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemäntelte sie die ökonomische wie politische Rückständigkeit Deutschlands und war ein Placebo für das deutsche Bürgertum, das seine politische Emanzipation der Kollaboration mit den feudalen Mächten opferte. In Krisenzeiten eignet sich die »deutsche Kultur« perfekt dazu, mit ihren roman­tisch-kulturellen »Werten« aus vorkapitalistischen Zeiten dem durchmarschierenden Kapitalismus ein mystifiziertes Bild der Vergangenheit entgegenzusetzen, um jede den Verhältnissen angemessene, moderne Kritik zu neutralisieren. Das ist ein Verfahren, das die sich traditionell regressiv-antikapitalistisch gebärdende deutsche Intelligenzija zu einer gewissen Perfektion gebracht hat, vom »Kulturpessimismus« im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur so genannten Konservativen Revolution in der Weimarer Republik. Mal ist es die Ständegesellschaft, mal ein puritanisches Preußentum, mit dem die Intelligenzija dem Kapitalismus zu Leibe rücken will.

So ist es in den heutigen Krisenzeiten wenig überraschend, dass sich auch in den Debatten deutscher Dichter und Denker erneut ein regressiver »Antikapitalismus« Bahn bricht, der nach bewährtem Muster alle Übel der Warenproduktion dem spekulativen Finanzkapital, dem »raffenden« im Gegensatz zum ehrlich »schaffenden«, deutschen Kapital, und den USA als Protagonisten eines schmarotzenden »Heuschrecken«-Kapitalismus zuschreibt, um den sozialen Frieden zu retten und im deutschen Nationalismus die Rettung vor einer mystifizierten Globalisierung zu suchen.

Ergänzt wird dieses Szenario von deutschen Kulturschaffenden in zweierlei Hinsicht: in der um sich greifenden Forderung nach einer »Deutschquote« im Radio, mit der ihnen der deutsche Staat unliebsame Konkurrenz aus aller Welt vom Hals halten soll, und im ungenierten Ranschmeißen an jenen rot-grünen Neo-Nationalismus, der die deutsche Kulturnation als gut bewaffnete »Weltfriedensmacht« gegen den US-amerikanischen »Kulturimperialismus« in Anschlag bringt, was bereits schöne, in den deutschen Nationalfarben schillernde Popbands hervorgebracht hat, die bei den großen parastaatlichen Spektakeln wie »Live Aid« im Fernsehen zu bewundern sind.

Ist die deutsche Ideologie auf diese Weise runderneuert, stellt sich für jede kritische Strömung die Frage nach den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Eine Antwort, die der Aktualisierung bedürfte, formulierte Richard Huelsenbeck, nachdem der deutsche Kulturbetrieb die Massaker des Ersten Weltkriegs mit seinem Gesäusel von Geist, Kultur und Innerlichkeit begleitet hatte. Damals stellte Huelsenbeck fest, dass von Seiten der Dadaisten »zum ersten Mal aus der Frage: Was ist die deutsche Kultur? (Antwort: Dreck) die Konsequenz gezogen worden ist, nun mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs, der Ironie, am Ende aber auch mit Gewalt gegen diese Kultur vorzugehen. Und zwar in gemeinsamer gro­ßer Aktion.« (5)

Anmerkungen

(1) Serré-Becherini, Barbara: Lettre aux Amis de Nemesis, http://www.geocities.com/nemesisite/lettrebsb.htm.htm

(2) Commission lien-Europe: Liebes Publikum!, 16. Juli 2003, http://www.cip-idf.org/article.php3?id_article=135

(3) Menger, Pierre-Michel: Portrait de l’artiste en travailleur. Métamorphoses du capitalisme, Seuil, 2003. Zitiert nach: Temps critiques: The show must go on!, Fußnote 3. Zu Recht wird an dieser Stelle Mengers Konzeption kritisiert: »Auch wenn die Beschreibung des Prozesses scharfsinnig bleibt, teilen wir doch nicht seine Interpretation, die in dieser ›Fermentation‹ letztlich positive ›Enzyme‹ sieht, weil sie ›Autonomie‹ und Vektoren von ›Kreativität‹ schaffen … die beiden hauptsächlichen Faktoren der kapitalisierten Gesellschaft! Umso aktivere Faktoren, solange keine historische Bewegung diese Tendenzen dialektisch fasst, um aus ihnen Waffen der Kritik zu machen.«

(4) Prekäre Subjektivierung, Interview mit der Gruppe kpD/kleines postfordistisches Drama. www.malmoe.org/artikel/verdienen/889. »Kleines postfordistisches Drama« ist zugleich ein »Projekt«, das »zuletzt im Kunstverein München zu sehen war«, heißt es dort.

(5) Huelsenbeck, Richard: En avant Dada: Die Geschichte des Dadaismus (1920). In: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Ostfildern/Ruit, 2003, Band 1, S. 306

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus Stephan Grigat / Johannes Grenzfurthner /Günther Friesinger (Hg.): Spektakel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale. Verbrecher Verlag, Berlin 2006. Ca. 180 Seiten, 14 Euro. Das Buch erscheint Ende März.