Der sträflichst Vergessene

Zum Tod des Publizisten Walter Boehlich. von jörg sundermeier

Walter Boehlich ist tot. Er verstarb am Donnerstag voriger Woche in Hamburg, er wurde 84 Jahre alt. Aus den Nachrufen, die bereits erschienen sind und die, man ist erstaunt, doch verhältnismäßig kurz waren für Feuilletons, in denen sonst jeder Hummel, die einst den Kopf Ernst Jüngers umschwirrt hat, auf mindestens einer Seite nachgerufen wird, geht hervor, dass den Nachrufern offenbar nicht viel über Boehlich bekannt war. Daran ist leider nichts Bemerkenswertes, denn die anderen literarischen Protagonisten seiner Generation, also etwa Helmut Heißenbüttel und Walter Höllerer, sind gleichfalls vergessen, oder aber sie sind, siehe Grass und Walser, vollends verrückt geworden. Der hiesige Literaturbetrieb, darin der Popindustrie sehr ähnlich geworden, vergisst schnell, und von Boehlich war in den letzten Jahren nichts mehr zu lesen gewesen.

Alle jedoch erinnerten sich an das legendäre Kursbuch 15 von 1968, in dem ein Beitrag von ihm neben den letzten publizierten Gedichten von ­Ingeborg Bachmann, neben Samuel Beckett und Donald Barthelme, neben vielen anderen bedeutenden literarischen Beiträgen stand, denn Boehlich erklärte in dieser Ausgabe, so heißt es heute, gemeinsam mit Karl Markus Michel und Hans Magnus Enzensberger den »Tod der Literatur«. Boehlichs Text »Autodafé«, der dem Kursbuch als Poster beilag und heute in den meisten der auffindbaren Ausgaben nicht mehr enthalten ist – viele dieser Kursbuch-Poster zierten damals die WG-Küchen der studentischen Jugend und wurden, als sich die Zeiten und das »revolutionäre Denken« änderten, weggeworfen –, bricht jedoch nicht mit der Literatur, sondern mit dem Bürgertum und seiner Literaturkritik.

»Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende. Sie ist ­gestorben an sich selbst, gestorben mit der bürgerlichen Welt, zu der sie gehört, gestorben mit der bürgerlichen Literatur, die sie schulterklopfend begleitet hat, gestorben mit der bürgerlichen Ästhetik, auf die sie ihre Regeln gegründet hat, gestorben mit dem bürgerlichen Gott, der ihr seinen Segen gegeben hat …« An ihre Stelle wollte Boehlich ein Textverständnis setzen, das »endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt«.

Er ließ, im Unterschied zu den meisten der damals revolutionär tönenden Kolleginnen und Kollegen, den Worten auch Taten folgen und versuchte – immerhin war er damals der Cheflektor des Suhrkamp-Verlags –, ein Lektorenstatut durchzusetzen, durch welches Siegfried Unseld, der sich jovial gebende, doch auch autokratische Leiter des Verlages, sich zu Recht in seiner Macht angegriffen sah. In einer legendären Sitzung, in der Unseld Autoren um sich versammelte, um den Lektoren zu demonstrieren, wer hier wen für welche Literatur bezahlt, wurde den oppositionellen Lektoren ihr Statut um die Ohren gehauen, einige von ihnen, nämlich Peter Urban, Urs Widmer und eben Boehlich, verließen daraufhin konsequent den Verlag. Die Stelle des Cheflektors wurde abgeschafft, Unseld hatte gelernt und duldete nun niemanden mehr neben sich, der eine derartige Machtfülle erlangen könnte. Bis heute schmollt der Verlag und äußert sich sogar zum Tode des Mannes, dem der Verlag nicht nur die äußerst maßgebliche Edition Suhrkamp und viele literarische Coups verdankt, mit keinem Wort, auch in den offiziellen Verlagsgeschichten wird Walter Boehlich bestenfalls als Randfigur erwähnt.

Andernorts macht man ebenfalls nicht viel Aufheben um diesen Mann. Die Autorenvita, die sich unter dem Stichwort Walter Boehlich auf den Verlagswebsites finden lässt, ist meistens leer geblieben. Boehlich ist ein Name unter vielen, wird hier suggeriert, ein »einfacher« Übersetzer und Herausgeber. Als Übersetzer brachte der mit dem Dänischen, dem Spanischen, dem Französischen und dem Englischen vertraute Intellektuelle Virginia Woolfs »Mrs. Dalloway«, Maguerite Duras, Hermann Bang, Jean Giraudoux oder Giambattista Basile in den deutschen Sprachraum. Der He­rausgeber Boehlich kümmerte sich um Gutzkow und Gervinus und editierte in den sechziger Jahren einen Band zum Antisemitismusstreit des 19. Jahrhunderts, in welchem der Historiker und Nationalist Heinrich von Treitschke, der von Boehlichs damaligem Suhrkamp-Widersacher Martin Walser verehrt wird, mit dem berüchtigten Satz »Die Juden sind unser Unglück« an die Öffentlichkeit trat.

Den Jüngeren ist Boehlich, der als Kritiker für die Zeit, die FAZ und konkret schrieb, vor allem durch seine Kolumne in der Titanic bekannt, die er seit der ersten Titanic-Nummer, die 1979 erschien, bis zum Jahr 2001 Monat für Monat verfasste. Seine Kolumnen dort waren mal angriffslustig, mal resigniert und nie witzig, wohl aber ironisch.

»Wir trauern um den brillanten Kolumnisten, der gestern in Hamburg verstarb«, heißt es nun ­etwas knapp auf der Website des Magazins, wenigstens aber ist die Startseite mit einem Porträt des Verstorbenen versehen. In der Frankfurter Redaktion weiß man, trotz aller Witze, die es dort immer über die manchmal auch etwas belehrenden Texte des Kolumnisten gegeben hat, um den Verlust. Die egozentrisch-abwesenden Texte Eckhard Henscheids, die eine Zeit lang anstelle der Kolumnen Boehlichs zu lesen waren, leisteten nichts anderes, als dass sie jedes Mal aufs Neue die moralische Integrität und politische Weitsicht des Vorgängers bewiesen.

Mit Walter Boehlich ist nicht, wie einige Nachrufer anzudeuten wagten, die Phase der kritischen und feingeistigen Literatur- und Kulturkritik beendet worden, sie spielte schon lange, bevor er starb, keine Rolle mehr im deutschen Sprachraum. Mit der »bürgerlichen Kritik« nämlich, das konnte Boeh­lich 1968 beim besten Willen nicht ahnen, verstarb zugleich auch die antibürgerliche Kritik an ihr. Was übrig geblieben ist, ist eine unkritische Antibürgerlichkeit, die sich von den Äußerungen der studentenhassenden Vorstadtjugend nur noch dadurch unterscheidet, dass sie überhaupt keinen Anlass hat und dass sie freundlichere Worte wählt.

Wer aber von Walter Boehlich Literaturkritik und das Vertreten einer eigenen Meinung lernen möchte, die oder der gehe, da es von ihm kaum Bücher gibt, in die Archive. Es lohnt sich.