Altes Deutschland

Von Ivo Bozic

Das Neue Deutschland feierte seinen 60. Geburtstag. Die meisten Leser
haben ihren schon lange hinter sich. von ivo bozic

Um Anzeigen muss sich das Neue Deutschland keine Sorgen machen. Täglich inserieren in steifen schwarzen Rahmen zahlreiche Hinterbliebene, denn gestorben wird in der ND-Leserschaft fleißig. Allerdings bedeutet jede Traueranzeige auch das Ende eines Abonnements. Und neue, junge Leser zu gewinnen, gelingt schon anderen Zeitungen nur schwer – für das ND ist es ein hoffnungsloses Unterfangen.

Die meisten Leser des ND haben das schon längst hinter sich gebracht, was die Tageszeitung am letzten Sonntag tat: den 60. Geburtstag feiern. Man hatte sich die Volksbühne gemietet und lud rentnergerecht um elf Uhr morgens zu einer Matinee. Kultureller Höhepunkt war der Auftritt von Andrej Hermlin und seinem Swing Dance Or­ches­tra, einer Unterhaltungstruppe, die praktisch jeden Infotisch der PDS/Linkspartei seit der Wende musikalisch untermalt. »Wir sind Neues Deutschland«, lautete das launige Motto der Feierlichkeit. »Wir sind Ostdeutschland«, hätte es auch getan, aber so viel Selbstironie darf man beim ehemaligen Zentralorgan der SED nicht erwarten.

Vor 60 Jahren gründete sich in der sowjetischen Besatzungszone die SED, zwei Tage später wurden bereits die ersten Lettern auf die riesigen Papierseiten des Zentralorgans im Prawda-Format gedruckt. Nach der so genannten Wende im Jahr 1989 schmolz die Millionenauflage dahin, und doch kann das ND, heute im Besitz der Linkspartei und einer ihr nahe stehenden GmbH, immer noch eine Auflagenhöhe von fast 50 000 Exemplaren angeben. Damit ist sie nach wie vor die mit Abstand am meisten gelesene überregionale Tageszeitung in Ostdeutschland. Womit das Attribut »überregional« auch schon stark relativiert ist, denn im Westen sind es nur wenige Exemplare, die mit der Post verschickt oder am Kiosk ausgelegt werden.

Doch bei aller nahe liegenden Häme über den Ost- und Retro-Charme der Zeitung, gilt es doch festzustellen, dass man um das ND nicht herumkommt, wenn man im Westen hockt und etwas über die Befindlichkeiten jenseits des ehemaligen Mauerstreifens und über die Diskus­sionen in der ostdeutschen Volkspartei erfahren möchte. Und dass diese Befindlichkeiten und Debatten ein Recht auf eine mediale Aufarbeitung haben, lässt sich nicht bestreiten. Außerdem spielte die Zeitung eine historisch wichtige Rolle in der Umbruchsituation nach dem Mauer­fall, denn gedacht wurde in DDR-Funktionärskreisen immer stark entlang der ND-Berichterstattung.

Seit Oktober 2005 residiert die Redaktion wieder im alten ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz in Ostberlin. Zu DDR-Zeiten bevölkerten die Redaktion und der Verlag das gesamte Gebäude, jetzt sind es nur noch einige Räume, und auch die Kantine ist schon lange nicht mehr da. 1993 wurden dort noch jeden Tag verschiedene Menus ausgegeben, dazu lag Aluminium-Besteck bereit, das bei Kontakt mit der Zahnfüllung ein schreck­liches Ziehen verursachte. Selbstverständlich gibt es auch die Kleiderschränke nicht mehr, in denen vor der Wende die Anzüge hingen, die sich Redakteure anzogen, bevor sie zu einem Termin ins Zentralkomitee eilten.

Vieles andere aber ist geblieben. Kaum eine andere Zeitung verfügt über eine so starke Leser-Blatt-Bindung wie das ND. So wie man seine Gesinnung nicht kündigen kann, kann man das ND quasi nicht abbestellen Man nimmt es mit ins Grab. Ein Großteil der ergrauten Leser kämpft sich täglich tapfer von der ersten bis zur letzten Seite durch das Blatt, bei Treffen der Parteibasis wird über Artikel diskutiert, rund 700 Leserbriefe gehen jeden Monat bei der Redaktion ein. Die inzwischen parteilose ehemalige Bundestagsabgeordnete der PDS, Angela Marquardt, erinnert sich noch gut an die außerordentliche ND-Fixierung der Parteimitglieder. »Bei Basisversammlungen erlebte ich immer wieder, dass ein älterer Genosse aufstand und mir jahrealte Artikel aus dem ND vorhielt, nach dem Motto: ›Angela, du hast am 24. März 1996 im ND geschrieben … Wie erklärst du das?‹«

Die Autorität, die das Blatt in der DDR genoss, kommt auch in dem Pionierlied »Hab’n Se nicht noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa?« zum Ausdruck, wo es in der ersten Strophe heißt: »Sie lesen doch sicher, bestimmt das ND, was ich Ihrem klugen Blick sofort anseh’! Da geh’n Se mal bitte in Ihr Zimmer zurück und werfen ein wenig herum diesen Blick. Dann schneid’n Se das letzte Plenum sich aus, das braucht man ja oft im Betrieb und zu Haus. Und hab’n Se das alles dann bestens vollbracht, wird aus Ihrer Zeitung ’ne neue gemacht.« Immer noch genießt die »sozialistische Tageszeitung« ein klein wenig von dieser Autorität, doch gerade die alten Autoritäten hatten es schwer in der Nachwendezeit. Als Angela Marquardt, damals Mitglied im Parteivorstand, im Januar 1995 im ND schrieb, mit der DDR habe man »nichts verloren außer unseren Ketten«, ging ein Aufschrei durch die Partei. Nicht dass eine damals 23 Jahre alte Hausbesetzerin aus Greifswald so etwas sagte, war der Skandal, sondern dass im ND so etwas erscheinen konnte.

Sowieso war diese Zeit Anfang der Neunziger sicher die interessanteste und liberalste, die das ND durchlebte. Im geordneten Wendechaos war die erste Reihe der Redaktion abgesägt worden, und die zweite und dritte Reihe, die jüngere Generation übernahm die Leitung, ebenso orientierungslos wie viele im Osten und Linke im Westen auch. Man wollte als sozialistische Zeitung ernst genommen werden und war gleichzeitig von dem, was im Westen unter »links« verstanden wurde, schon allein kulturell, oft aber auch politisch Lichtjahre entfernt.

Kiffen? Ausländer? RAF? Hausbesetzungen? ­Feminismus? Kritik am Stasi-System? Jedes dieser Themen erregte Aufsehen, löste Kopfschütteln oder Empörung aus, oft aber auch ein Nachdenken über die eigenen Werte und Ansichten. Und weil das Bemühen der bis auf Ausnahmen allesamt schon zu DDR-Zeiten in Lohn und Brot stehenden Redakteure groß war, nicht als parteihörige SED-Büttel, sondern als seriöse Journalisten wahrgenommen zu werden, war der Freiraum für solche Ungeordnetheiten tatsächlich gegeben. Auch verspürten einige Redakteure sichtlich Lust an den neuen Freiheiten und gingen offensiv mit ihnen um.

Mit der Zeit wurde aus dem Ressort »Parteileben« das Ressort »Politik und Gesellschaft« und später das Ressort »Innenpolitik«. Das war nicht nur eine Umbenennung, sondern Ausdruck eines tatsächlich stattfindenden Prozesses, einer gewissen Entideologisierung, die sich sowohl bei den Redakteuren als auch im gesamten Blatt und praktisch in ganz Ostdeutschland damals vollzog. Das ND spiegelte zu jener Zeit den gesellschaftspolitischen Umbruch in der ehemaligen DDR höchst authentisch wider. Dazu gehörte, dass viele linke Themen aus dem Westen übernommen, aber auch die Ostidentität verteidigt wurde, was so weit ging, dass das ND im Juli 1995 eine Debatte eröffnete unter dem Titel: »Wie national muss die Linke sein?« Roland Wehl, Mitarbeiter der ultrarechten Wochenzeitung Junge Freiheit, knüpfte in ­einem Artikel im ND an die DDR-Nostalgie der PDS-Klientel an: »Vieles von dem, was in der DDR links war, gilt im vereinten Deutschland als rechts. Das betrifft nicht nur die Haltung zur Armee, Polizei und Recht und Ordnung. Es betrifft auch das gemeinschaftliche Denken, das in der DDR so stark entwickelt war.« Und weil er damit Recht hatte, wurde die Frage nach der Nation im ND wie auch in der PDS sehr lange, sehr ausgiebig diskutiert.

Die politische Sinnsuche der Zeitung hat noch nicht aufgehört. Zwischen antiimperialistisch daherkommenden nationalen Reflexen finden sich ebenso zünftige Abrechnungen mit dem nationalbolschewistischen Linksparteiflügel rund um die Kommunistische Plattform. Unter der Ägide des Geschäftsführers Dietmar Bartsch, der im vergangenen Jahr in den Bundestag zurückkehrte, und des westdeutschen Chefredakteurs Jürgen Reents wurden zuletzt u.a. mit der Seite »Außer Parlamentarisches« und der Anstellung einiger jüngerer Redakteure versucht, die Zeitung vorsichtig für die sozialen Bewegungen zu öffnen. Zumindest im Ansatz ist das spürbar. Dass man dann zum 60. Geburtstag Andrej Hermlin mit seinem Swing­orchester aufspielen ließ, ist allerdings nicht gerade ermutigend.

Ivo Bozic war zwischen 1992 und 1995 Redakteur des Neuen Deutschland.