Flucht in die Berge

Angesichts der israelischen Luftangriffe rückt die libanesische Gesellschaft
zusammen. Die Hizbollah könnte aus dem Konflikt politisch gestärkt hervorgehen. von markus bickel, beirut

Walid Jumblatt ist einer der wenigen libanesischen Politiker, der an seiner Meinung aus Vorkriegszeiten festhält. Seit Beginn der israelischen Luftangriffe auf den Libanon sitzt der Vorsitzende der Sozialistischen Fortschrittspartei (PSP) und politische Repräsentant der Mehrheit der libanesischen Drusen in seinem Bergsitz Mukhtara, rund 50 Kilometer südöstlich von Beirut. Drei Wochen nach Beginn des neuen Libanon-Krieges sind hier mehr als 40 000 meist schiitische Flüchtlinge aus dem bombardierten Süden des Landes untergekommen.

»Es hängt nun davon ab, ob die Hizbollah ihren Sieg dem Libanon widmet oder den syrischen und iranischen Regimes«, sagte Jumblatt am Wochenende der Jungle World. Er fürchte jedoch, dass die von Generalsekretär Hassan Nasrallah geführte »Partei Gottes« sich gegen den Libanon entscheiden werde, mit dem Ergebnis, dass »ein schwacher libanesischer Staat aus dem Kon­flikt hervorgeht«. Dessen Politik würde »dann nicht von den Libanesen, sondern von den iranischen und syrischen Diktaturen diktiert«.

Eine Befürchtung, die vor allem Diplomaten teilen, die von Libanesen aber immer seltener geäußert wird. Eine im Auftrag der libanesischen Tageszeitung al-Safir vom Beirut Center for Research and Information durchgeführte Meinungsumfrage ergab Mitte voriger Woche, dass es eine überragende Zustimmung für den bewaffneten Kampf der Hizbollah gegen die israelischen Truppen gibt. 86,9 Prozent unterstützten den Krieg, selbst unter Christen und Sunniten lag die Zustimmung über 80 Prozent, unter der schiitischen Bevölkerungsgruppe sogar bei 96,3 Prozent

Zwar bezeichnete fast ein Drittel aller Befragten die Gefangennahme zweier israelischer Soldaten durch Hizbollah-Einheiten am 12. Juli als falsch. Doch je länger die Kämpfe andauern, umso mehr rückt der Alleingang der Hizbollah, der den Krieg auslöste, in den Hintergrund. Die sich verschärfende humanitäre Lage vor allem im Süden des Landes und die in allen Teilen des Landes zerstörte Infrastruktur lenken den Blick auf andere Probleme.

Auch die Rufe nach »nationaler Einheit« verklingen nicht – und das nachdem viele politische Beobachter unmittelbar nach Beginn des neuen Libanon-Krieges befürchtet hatten, die alten Unstimmigkeiten zwischen den rivalisierenden Bevölkerungsgruppen und politischen Fraktionen könnte dazu führen, dass interne Konflikte gewaltsam ausbrechen. Knapp drei Wochen nach Beginn des neuen Krieges hält jedoch die Solidarität der insgesamt 18 Konfessionen des Libanon. Angesichts der anhaltenden israelischen Lufttangriffe und der gewaltigen bevorstehenden Wiederaufbauleistung rückt die libanesische Gesellschaft zusammen.

»Unter diesen dramatischen Umständen müssen wir alles vergessen, was uns trennt«, sagte etwa der katholisch-maronitische Kardinal Nasrallah Boutros Sfeir. Die Libanesen müssten jetzt hinter ihrer Regierung stehen, um die gegenwärtige Krise bewältigen zu können. Die Maroniten, die den Papst als Oberhaupt anerkennen, aber von dem Patriarchen Sfeir geführt werden, sind die größte christliche Konfession im Libanon. Auch viele griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische, armenisch-orthodoxe, armenisch-katholische, koptische und syriaktische Gläubige leben in dem etwa vier Millionen Einwohner zählenden Land.

Zur Überraschung vieler stellt sich nicht nur die größte, auf etwa 40 Prozent geschätzte schiitische Bevölkerungsgruppe hinter die von Nasrallah geführte »Partei Gottes«. Nabil Dajani, Soziologe an der American University Beirut, konstatiert: »Je länger der Konflikt dauert, umso stärker wird der Rückhalt für die Hizbollah.« Das sei zu Beginn des Krieges noch nicht der Fall gewesen. Selbst im überwiegend von Sunniten bewohnten Stadtteil Hamra hört man dieser Tage Lobreden auf Nasrallah. Die israelischen Angriffe verdecken bis auf weiteres politische und konfessionelle Differenzen. Saad Hariri, der sunnitische Führer der antisyrischen Parlamentsmehrheit und Sohn des im Februar 2005 ermordeten früheren Premierministers Rafik Hariri, erklärte: »Ich rufe das libanesische Volk auf, vereint zu bleiben und die nationale Einheit zu wahren.«

Vor allem unter europäischen Diplomaten jedoch hört man Skeptiker, die bezweifeln, dass die Solidarität mit den überwiegend schiitischen Flüchtlingen den Konflikt überdauern wird. Schon bald dürften sich vor allem auf christlicher, aber auch auf sunnitischer Seite Absetzbewegungen bemerkbar machen. Mit möglicherweise fatalen Folgen: Viele fürchten, die in der Resolution 1 559 des Uno-Sicherheitsrats im September 2004 international erstmals geforderte, inzwischen auch von Israel als Bedingung für einen Waffenstillstand genannte Entwaffnung der Hizbollah werde unweigerlich zu internen bewaffneten Auseinandersetzungen führen.

Zumindest auf politischer Ebene stehen wahrscheinlich entscheidende Umwälzungen an. Zwei Minister stellt die prosyrische und proiranische Hizbollah im mehrheitlich antisyrischen Kabinett des sunnitischen Premierministers Fouad Siniora, im Parlament ist sie mit 14 Abgeordneten vertreten. Amal Saad-Ghorayeb, Autorin des Buches »Hizbollah – Politik – Religion«, rechnet damit, dass schon bald nach Ende des Krieges Neuwahlen ausgerufen werden und die Hizbollah ihren Einfluss in den politischen Institutionen des Landes stärken kann.

Eine Aufnahme Michel Aouns, des kurzzeitigen maronitischen Premierministers und Oberbefehlshabers in der Endphase des Bürgerkrieges (1975-1990), in die Regierung hält die Politikwissenschaftlerin für unumgänglich. Aoun hatte Nasrallah im Februar in einem spektakulären Pakt zugesichert, am Recht der Hizbollah auf ihre Waffen nicht zu rütteln. Ein knappes halbes Jahr später erweist sich das christlich-schiitische Bündnis als wichtiger Garant für die nationale Einheit. »Wenn die israelische Regierung glaubt, einen Keil zwischen die schiitische und die anderen libanesischen Bevölkerungsgruppen treiben zu können, irrt sie sich gewaltig«, sagt Saad-Ghorayeb.

In Bergorten wie Beit Meri, Broumana oder Mohaidsy, wo die Reichen des Landes seit Jahrzehnten die Sommerzeit verbringen, kann man die neue Allianz längst begutachten. Auf der Ausgehmeile Broumanas sind die Restaurants zumindest für zwei Stunden am Freitagabend gut besetzt, Johnny-Walker- und Havana-Club-Flaschen zieren ein paar der Tische im Restaurant »Ya’li Sahar«. Unter den Gästen sind Frauen mit Kopftuch ebenso zu sehen wie tanzfreudige, dem Genuss von Alkohol offensichtlich nicht abgeneigte Besucher. Der Reichtum sprengt hier alle konfessionellen Grenzen, zumindest vorübergehend.

Doch nur fünf Minuten Autofahrt weiter wird das ganze Elend dieses Krieges offenbar. In einer Schule in Mohaidsy sind über 200 aus dem Südlibanon kommende Flüchtlinge untergebracht. Den Kindern fehle es an Windeln und Medikamenten, 21 Leute müssten pro Raum untergebracht werden, erzählt Soha, eine Lehrerin, die sich hier gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Freiwilliger um das Wohl der Geflohenen kümmert. Was die Freiwilligen eint: Sie alle sind Anhänger von Aouns Freier Patriotischer Bewegung.