Alle reden vom Aufschwung

Dem Kapital geht es schon länger wieder blendend. Weil die Mehrheit der Bevölkerung davon wenig hat, soll sie sich jetzt an geringfügig besseren Wirtschaftsdaten erfreuen. von michael heinrich

Anscheinend ist ein Wunder passiert. Der »Aufschwung« ist über Deutschland gekommen. Die Wirtschaft wächst wie lange nicht mehr, die Arbeitslosenzahlen sinken, die Steuereinnahmen steigen. Vielleicht kann schon in diesem Jahr das Maastricht-Kriterium eingehalten werden: eine staatliche Nettoneuverschuldung von weniger als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und das alles nicht, weil die deutschen Exporte florieren, sondern weil die Binnennachfrage zunimmt. Michael Glos, ein ansonsten eher unauffälliger Wirtschaftsminister, verkündete lauthals, nun sei der »konjunkturelle Knoten endgültig geplatzt«. Die CDU ruft Merkel als Kanzlerin des Aufschwungs aus, und die SPD versucht verzweifelt, daran zu erinnern, dass sie es doch eigentlich war, die mit den Hartz-Reformen und der Agenda 2010 diesen Aufschwung möglich gemacht hat. Was ist los mit Deutschlands Ökonomie?

Im zweiten Quartal ist die deutsche Wirtschaft um 0,9 Prozent gewachsen (nach 0,7 Prozent im ersten Quartal). Für das gesamte Jahr wird nun ein Wachstum von etwa 2,1 Prozent erwartet. Das ist nicht besonders viel, aber mehr als in den vergangenen fünf Jahren. Für einen dauerhaften Rückgang der Arbeitslosigkeit wäre ein Wachstum nötig, das weit stärker über dem Produktivitätszuwachs von durchschnittlich zwei Prozent liegt.

Aber scheinbar hat auch der Abbau der Arbeits­losigkeit schon eingesetzt. Bei einer offiziellen Arbeitslosenzahl von knapp 4,39 Millionen waren im Juli 450 000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet als im Juli 2005. Das heißt nicht, dass im Laufe eines Jahres 450 000 Arbeitslose Arbeit gefunden hätten. Die Zahl der Erwerbstätigen hat im Vergleich zum Vorjahr lediglich um ca. 260 000 zugenommen. Das heißt, bei vielen früher arbeitslos Gemeldeten dürften die Abschreckungsmechanismen der Agentur für Arbeit gegriffen haben. Insbesondere diejenigen, die keinen Anspruch mehr auf Hartz IV haben, dürften sich den Aufwand einer Arbeitslosmeldung gespart haben, was gut für die Statistik ist.

Unter den neuen Jobs finden sich nach vorläufigen Schätzungen lediglich 54 000 sozialversicherungspflichtige Stellen. Die Mehrzahl der neuen Stellen ist prekär. Wer das Arbeitslosengeld II erhält und zu einem Ein-Euro-Job gezwungen wird, gilt nicht mehr als arbeitslos, sondern zählt zu den »neu Erwerbstätigen«.

Fast schon Jubelstürme haben die höheren Steuereinnahmen ausgelöst – in den ersten sieben Monaten waren es 20 Milliarden Euro mehr als im selben Zeit­raum des Vorjahres. Bei einem höheren Wachstum ist dies nicht verwunderlich. Neu ist, dass die von den Unternehmen gezahlte Körperschaftssteuer so hoch ist wie seit Jahren nicht mehr. Die Ursache dafür liegt zum einen in der deutlichen Steigerung der Profite, zum anderen darin, dass die im Jahr 2003 beschlossene Mindeststeuer, welche die Verrechnung von Gewinnen mit vergangenen Verlusten beschränkt, nach den Übergangsfristen nun voll zum Zuge kommt. Mit anderen Worten: In Deutschland müssen auch Unternehmen wieder anfangen, Steuern zu zahlen, für manche eine ganz neue Erfahrung. Mit der geplanten »Reform« der Körperschaftssteuer sind aber schon neue »Entlastungen« geplant.

Neu ist auch, dass das Wachstum nicht in erster Linie von der Exportkonjunktur getragen wird, sondern von der Inlandsnachfrage. Der Konsum der privaten Haushalte hat deutlich zugenommen. Wie das, wird sich so manche(r) Linke fragen. Haben wir nicht die ganzen Jahre betont, dass die geringen Lohnerhöhungen sowie die Kürzungen der Sozialausgaben genau dieses Ansteigen der Inlandsnachfrage verhindern? Dass niedrige Löhne und Hartz IV die Konsummöglichkeiten der großen Mehrheit einschränken, ist nach wie vor richtig. Allerdings sind sie nicht die einzigen Determinanten des Konsums. Die privaten Haushalte hatten ihre durchschnittliche Sparquote von neun Prozent (2001) bis auf 10,5 Prozent (Ende 2005) erhöht. Wird wieder etwas weniger auf die hohe Kante gelegt, dann erhöht sich auch bei gleich bleibenden Löhnen der Konsum. Irgendwann lassen sich größere Anschaffungen nicht mehr aufschieben, und dann wird eben weniger gespart bzw. ein Kredit aufgenommen. Und in diesem Jahr empfehlen sich Anschaffungen schon deshalb, weil nächstes Jahr die Mehrwertsteuer steigen soll.

Neben den Konsumausgaben der privaten Haushalte hängt die Inlandsnachfrage vor allem von den Investitionen ab. Im zweiten Quartal nahmen sowohl die Ausrüstungsinvestitionen der Industrie als auch die Bauinvestitionen zu. Das Wachstum der letztgenannten ist zum Teil nur vorübergehend. Da die Eigenheimzulage zum 1. Januar 2006 wegfiel, wurden kurz vor Jahresende noch viele Neubauten in Auftrag gegeben, mit denen erst nach der Winterpause begonnen wurde. Ein Boom, der sich nicht wiederholen wird.

Was längerfristig Bestand haben könnte, ist das Wachstum der Ausrüstungsinvestitionen. Bereits in den Jahren 2004 und 2005 sind die Gewinne, insbesondere der Großunternehmen, stark angestiegen. An­gesichts der seit Jahren boomenden Exporte wurde ein Teil dieser Gewinne in vermehrte Ausrüstungsinvestitionen gesteckt, um noch mehr Gewinne machen zu können.

Damit sind wir beim Kern der Sache. Wie schon im 19. Jahrhundert ein bekannter alter Herr betonte, ist »der unmittelbare Zweck und das bestimmende Motiv der kapitalistischen Produktion« die Produktion von Profit, nicht etwa die Befriedigung von Bedürfnissen oder die Bereitstellung von Arbeitsplätzen. Von einer kapitalistischen Krise kann man daher nur sprechen, wenn der kapitalistische Zweck beeinträchtigt ist. In den Jahren 2001 bis 2003 hatten wir eine solche Krise – nicht weil die Arbeitslosigkeit zunahm, sondern weil die Profite einbrachen. Eine kapitalistische Krise hat zwar stets eine steigende Arbeitslosigkeit und mehr Armut und Elend zur Folge. Behoben ist sie jedoch, sobald die Profite wieder steigen, und das tun sie bereits seit zwei Jahren.

Insofern war der »Aufschwung« schon längst da, nur hatte kaum jemand etwas davon. Ein kapitalistischer Aufschwung, ein Wachstum der Profite, kann ohne weiteres mit steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Einkommen der Beschäftigten einhergehen. Das ist den politischen und medialen Verfechtern des Kapitalismus, die stets betonen, »die Marktwirtschaft« sei für alle gut, zwar mehr oder weniger peinlich – insbesondere dann, wenn sich Unternehmensvorstände so dämlich anstellen und Rekordgewinne gleichzeitig mit dem Abbau von Arbeitsplätzen bekannt geben, anstatt zwischen beiden Informationen ein paar Wochen verstreichen zu lassen. Doch es war noch nie der Zweck der kapitalistischen Produktion, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren oder die Lebensverhältnisse zu verbessern. Das kann zwar passieren, muss es aber nicht.

Was zurzeit als »Aufschwung« bejubelt wird, ist lediglich diejenige Phase des Aufschwungs, in der die gestiegenen Profite zu mehr Beschäftigung und höheren Steuereinnahmen führen. Die Ideologen des Kapitals sind erleichtert, denn jetzt können sie verkünden, dass sich die erbrachten Opfer gelohnt hätten. Umgekehrt sieht es bei dem Teil der Linken aus, der glaubt, die kapitalistische Entwicklung kenne nur noch eine Richtung, nämlich abwärts. Auch wenn die bisherige Erholung ziemlich bescheiden aussieht und ihre Fortsetzung ungewiss ist, wer den reinen Absturz fantasierte, hat sich bislang genauso an der Wirklichkeit blamiert wie Politiker, die Vollbeschäftigung versprachen.

Und wie wird es weitergehen? Das Wachstum der Weltwirtschaft ist in diesem Jahr etwas schwächer geworden, in der EU hat es hingegen angezogen. Besonders stark sieht es im Moment in Frankreich aus, dessen Wirtschaft im zweiten Quartal um 1,2 Prozent gewachsen ist. Da das Nachbarland für die deutschen Unternehmen ein wichtiger Markt ist, werden diese von der gestiegenen Nachfrage profitieren.

Angesichts des riesigen Leistungsbilanzdefizits der USA wird immer wieder ein Absturz des Dollars prognostiziert. Ein gewisser Wertverlust gegenüber dem Euro lässt sich nicht ausschließen; ein starker und plötzlicher Absturz scheint aber genauso möglich wie ein starkes Anziehen des Dollars wegen einer politischen Krise oder eines neuen Krieges. Hier lassen sich zwar wilde Vermutungen anstellen, aber keine ernsthaften Prognosen abgeben.

Etwas mehr lässt sich über die Entwicklung der Inlandsnachfrage aussagen. Wegen der Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent, höherer Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung (lediglich die Arbeitslosenversicherung soll etwas billiger werden), der Einschränkung der Pendlerpauschale etc. werden die verfügbaren Einkommen der Haushalte sinken. Da außerdem teure Konsumgüter wegen der Mehrwertsteuererhöhung vermehrt in diesem Jahr gekauft werden, wird die Konsumnachfrage genauso wenig weiter wachsen wie die Investitionen in der Baubranche. Beide werden eher zurückgehen. Mit einer weiteren »Lohnzurückhaltung«, die den Gewerkschaften bereits gepredigt wird, »um den Aufschwung nicht zu gefährden«, könnten die hohen Profite zwar stabilisiert werden, mit einem stärkerem Wachstum und einem Rückgang der Arbeitslosigkeit wäre es aber wieder vorbei.

Angesichts dieser unsicheren Lage gerät die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer immer mehr in die Kritik gerade der Unternehmer und ihrer politischen Interessenvertreter. Mit der höheren Steuer sollen die Finanzlücken gestopft werden, die entstanden sind, weil die Einkommenssteuer in den letzten Jahren sank. Während die Einkommenssteuer einen progressiven Tarif hat – das heißt: höhere Einkommen werden prozentual stärker belastet als niedrigere –, ist die Mehrwertsteuer für alle Einkommen gleich. Die Senkung der einen mit einer Erhöhung der anderen zu finanzieren, hat daher einen starken Umverteilungseffekt: Die Bezieher niedriger Einkommen (einschließlich der Arbeitslosen) zahlen jetzt mehr Steuern, die Bezieher hoher Einkommen deutlich weniger.

Auch wenn die Umverteilungsmaßnahme Mehrwertsteuererhöhung aufgeschoben werden sollte, wird sie uns sicher nicht erspart bleiben. Genauso wenig wie die nächste Krise. Und dann heißt es wieder: den Gürtel enger schnallen, damit es dem Kapital endlich besser gehen kann.