»Es wird viele Jahre dauern«

Was wird aus Afghanistan? Ein Gespräch mit dem Afghanistan-Kenner thomas ruttig

Thomas Ruttig lebt seit dem Jahr 2000 in Kabul und war bis vor kurzem in der Deutschen Botschaft beschäftigt. Zuvor hatte er für den UN-Sonderbeauftragten in Afghanistan gearbeitet und war stellvertretender Repräsentant der EU. Schon in den achtziger Jahren war er als Diplomat für die DDR im Land.

Warum zögern die europäischen Staaten, das Truppenkontingent in Afghanistan zu verstärken?

Am häufigsten hört man, dass die Kapazitäten nicht ausreichten, was mir, zumindest im Hinblick auf die Truppenstärke, nicht einleuchten will. Im Fall der Bundeswehr etwa sind nicht mehr als vier Prozent aller Soldaten im Ausland eingesetzt. In einigen EU-Staaten gibt es verständlicherweise Bedenken, in die gefährlichen Gebiete im Süden des Landes zu gehen. Und man sollte nicht vergessen, dass viele Staaten bereits in Afghanistan engagiert sind.

Was könnten die geforderten Soldaten bewirken?

Sie könnten etwa die britischen Truppen stärken, die im Süden unter enormem Druck stehen. Doch das Problem, dass die Taliban wieder erstarken, ist mit militärischen Mitteln allein nicht zu lösen.

Ist der »Krieg gegen Terror« in Afghanistan gescheitert?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten, immerhin wurden die Taliban gestürzt, was große Hoffnungen in der Bevölkerung geweckt hat. Aber der Wunsch nach Frieden und Sicherheit hat sich nicht erfüllt, was den Terroristen zugute kommt.

Deren Wiedererstarken hat zwei Gründe: Zum einen verfügen sie über Rückzugs­gebiete hinter der afghanisch-pakistanischen Grenze sowie über finanzielle Mittel, die aus der Drogenwirtschaft und aus Spenden stammen, die vor allem in den Golfstaaten gesammelt werden. Zugleich nutzen sie die Schwäche der Regierung. In vielen Teilen des Landes ist diese gar nicht präsent oder nur in Form korrupter Polizisten und Richter. Die Leute machen schlechte Erfahrungen, und manche wenden sich der Gegenseite zu – obwohl die Taliban immer weniger Rücksicht auf Zivilisten nehmen.

Was ist aus dem Ziel geworden, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen?

Das war nicht das Ziel aller westlichen Staaten, jedenfalls nicht von Beginn an. Die Bush-Regierung hat anfangs gesagt: Wir sind nicht in Afghanistan, um nation building zu betreiben, sondern um al-Qaida zu bekämpfen. Damals wurde die zivile Seite der Terrorbekämpfung vernachlässigt, zudem wurden die Taliban unterschätzt. Sicher gab es auch Erfolge, allen voran die Wahlen. Doch es kommt darauf an, die demokratischen Institutionen auch mit demokratischen Inhalten füllen. Und das geht nicht, wenn man die alten Warlords einbezieht.

Was würde passieren, wenn die internationalen Truppen heute aus Afghanistan abzögen?

Jede Strategie sollte sich an den Wünschen der afghanischen Bevölkerung orientieren. Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Menschen ein stärkeres internationales Engagement wünschen und zugleich fordern, dass wir konsequent mit der afghanischen Regierung umgehen und nachfragen, wo etwa die Milliarden für den Wiederaufbau geblieben sind. Die Menschen wissen, dass sie es aus eigenen Kräften nicht schaffen können. Das Land ist ja völlig verwüstet.

Was sind denn die auffälligsten Unterschiede zwischen dem Afghanistan der Gegenwart und dem der achtziger Jahre?

Damals wie heute ist Afghanistan ein Spielball fremder Interessen, internationaler wie regionaler. Die Sowjets kamen ungebeten, ihre Intervention wurde von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt. Der Krieg tobte damals eher in den ländlichen Gebieten und zerstörte die Landwirtschaft. In den Städten hingegen funktionierte der Staat weitgehend, woran sich heute viele wehmütig erinnern. Denn unter den Mujaheddin wurden auch die Städte platt gemacht. Nun sagen viele Afghanen, dass nach dem Kommunismus und dem Islam auch die Demokratie versagt habe. Sie befürchten, die letzte Chance sei vergeben.

Hat Afghanistan eine Chance, auf absehbare Zeit aus dem Jammertal herauszufinden?

Was meinen Sie mit »absehbarer Zeit«? Es wird viele Jahre dauern, bis das Land aufgebaut ist und man von Stabilität sprechen kann. Afghanistan braucht einen Neunanfang, der sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.

interview: deniz yücel