Unsere Afghanen

Afghanistan und die Linke. Ein Rückblick auf 25 Jahre voller Irrtümer. von deniz yücel

Nach dem 11. September 2001 begab es sich, dass ich in Archiven nach Material suchte, das dokumentierte, wie die west­deutsche Öffentlichkeit und die westdeutsche Linke in den achtziger Jahren über den Krieg in Afghanistan diskutierten. Dabei stieß ich auf eine farbige Broschüre mit dem Titel »Afghanistan today«. Nun, da ich für diesen Artikel dieses Material sichte, fällt mir diese Publikation mit dem Untertitel »Organ of Peace, Solidarity and Friendship Organization of the Democratic Repu­blic Afghanistan« wieder in die Hände. Datiert ist sie auf Juli/August 1985, es ist die erste Ausgabe, und mich beschleicht das Gefühl, dass eine zweite Nummer niemals folgte.

Gezeigt werden die »Fortschritte beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft«, wie Staatspräsident Babrak Karmal im Geleitwort verkündet. Man sieht Schulen, Krankenstationen, Reis- und Baumwollfelder. Ein Bild zeigt zwei Frauen bei einer Militärparade. »Afghanische Frauen dienen der Gesellschaft nicht nur im Produktionssektor, sondern verteidigen auch die Errungenschaften der Revolution mit der Waffe«, heißt es in der Bildlegende. Auf einem anderen Foto ist ein sowjetischer Ingenieur zu sehen, der einer Gruppe von Afghanen etwas zu erläutern scheint, im Hintergrund steht ein Kran. Der Ingenieur wirkt souverän, er scheint in dem, was er gerade tut – anderen Leuten einen Bauplan zu erklären und oder dies für die Kamera nachzustellen –, geübt zu sein, im Gegensatz zu den verunsichert wirkenden Afghanen. Und dann gibt es noch ein Foto von einer coolen Frau Anfang, Mitte 20. Das Bild ist aus der Froschperspektive aufgenommen, die Frau trägt eine locker gestrickte Wolljacke und eine passende Mütze. Sie steht seitlich, eine Hand keck an die Hüfte gelehnt, im Halbprofil kommen ihre vollen Lippen besonders zur Geltung, während ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille verborgen sind. »Fashion Exhibition Kabul« steht darunter.

Propagandamaterial, gewiss. Trotzdem. In mir, der ich niemals in Afghanistan war und keinen einzigen Afghanen zu meinen Bekannten zähle, weckt diese rührende Publikation eine merkwürdige Melancholie. Aber sind diese Dinge heute noch von Bedeutung? Vielleicht nicht. Dennoch vermittelt diese Broschüre, in welch propagandistisch verzerrter Form auch immer, einen Eindruck davon, worum es den afghanischen Kommunisten ging: um eine Bodenreform, die Millionen von land- und mittellosen Afghanen zugute kommen sollte, um die Alphabetisierung eines der rückständigsten Länder der Welt, um die Gleichstellung der Frauen in einer extrem patriarchalen islamischen Stammesgesellschaft, um staatliche Gesundheitsversorgung und Wohnungen mit Wasseranschluss. »Nachholende Modernisierung« lautet der Fachbegriff.

Diesem Programm sagten afghanische Pfaffen und Stammesfürsten den Kampf an, wobei sie, das sei nicht verschwiegen, auf eine breite Unterstützung der armen und ungebildeten Afghanen rechnen konnten. Neben den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion war es dieses Programm, dass die Soldaten der Roten Armee in Afghanistan zu verteidigen und die Amerikaner zu sabotieren suchten.

Deren Unterstützung für die Mujaheddin ist Legion. »Ihre Sache ist unsere Sache«, erklärte Präsident Ronald Reagan, Sylvester Stallone machte sich in »Rambo III« auf den Weg, um so viele Rotarmisten abzuballern, dass er damit einen Rekord im Kino aufstellte, und noch in der Zwischenkriegszeit, im Jahr 1998, brüstete sich Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Berater des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, damit, welch großartiger Coup den USA gelungen sei, als sie die Sowjets in die »afghanische Falle« lockten.

Doch hierzulande wurden die Mujaheddin nicht weniger hofiert. Damals verging kaum eine Sendung des ZDF-Magazins, in der nicht über den gerechten Kampf der »afghanischen Freiheitskämpfer« berichtet und zu Spenden aufgerufen wurde. Bei keiner anderen Gelegenheit notierten die Protokollanten des Bundestags so oft den »Beifall bei allen Parteien« wie bei den Debatten über Afghanistan. Schließlich war es »dieselbe Macht, die Afghanen und Deutschen das Recht auf Selbstbestimmung« verweigerte, wie es in einer Broschüre des konservativen »Bonner Friedensforums« aus dem Jahr 1984 hieß.

Im Rückblick lässt sich sagen, dass der Krieg in Afghanistan zu einem Wendepunkt für eine radikale Linke wurde, die jede noch so grausame und rückständige Form von »Selbstbestimmung« und »kultureller Identität« für bewahrenswert hielt. Damals wurde formuliert, was heute zum Standardrepertoire der gemeinen Globalisierungskritik gehört. Professoren kritisierten den »offenen Angriff auf die traditionelle Autonomie des Landes«, die Autonomenzeitschrift radikal forderte eine »Toleranz den Emanzipationsbewegungen gegenüber, die für unsere Begriffe falsche oder Umwege zu gehen scheinen«, und Maoisten und Spontis prügelten auch schon einmal, wie im Januar 1980 in Frankfurt, eine trotzkistische Veranstaltung auseinander, die um Verständnis für das sowjetische Vorgehen werben wollte.

Dabei waren die Absichten der Mujaheddin durchaus bekannt. So bekundete Gulbuddin Hekmatjar, damals der Führer der radikalsten Miliz, die heute mit den Taliban zusammenarbeitet, im November 1985 im Spiegel, dass in Afghanistan nach dem Sieg der Mujaheddin »allein der Islam das bestimmende Gesetz« sein werde. Eine Nachfrage wollte dem Interviewer nicht einfallen, dafür aber der Hinweis, dass die kommende Generation »dem Islam verloren zu gehen« drohe, weil sie in den Schulen atheistisch erzogen werde.

Im Wesentlichen blieb es der DKP und ihrem Umfeld vorbehalten, die Mujaheddin als das reaktionäre Pack zu kritisieren, das sie waren. Doch manchmal ist die Geschichte gütig und gibt einem, der einmal im Recht war, eine zweite Gelegenheit, sich doch noch zu irren. Im Oktober 2001 war es soweit, als auch diejenigen Linken, die es hätten besser wissen können, die US-amerikanische Invasion in Afghanistan verurteilten. Im Namen des »Antiimperialismus« natürlich, genauer: aus jener im krudesten Sinne materialistischen Sichtweise, über die Uli Krug einmal sagte, sie verstehe unter Materialismus bloß die Suche nach Material, also nach Bodenschätzen. Allzu treffsicher waren diese Analysen bislang jedenfalls nicht, die Pipeline durch Afghanistan lässt ebenso auf sich warten wie die durch das Kosovo.

Noch heute fordert diese Linke den sofortigen Rückzug aus Afghanistan. »Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt«, ließ jüngst Oskar Lafontaine wissen. Was die Verteidigung Deutschlands angeht, mag er Recht haben, was aber würde in Afghanistan passieren, wenn die Invasionstruppen sich zurückzögen? Und ist die Forderung, die Afghanen den Taliban und den übrigen – zumeist ebenfalls islamistischen – Warlords zu überlassen, irgendwie emanzipatorisch, progressiv, human?

Doch auch jene Linken, die nach den Anschlägen vom 11. September den militärischen Sturz des Taliban-Regimes befürwortet und sich Hoffnungen auf den Aufbau einer bürgerlichen Gesellschaft in Afghanistan gemacht haben, stehen nicht besser da. »Her mit dem schönen Leben!« hatte – man soll nicht immer nur auf andere zweigen – die Jungle World im Sommer 2002 getitelt. Doch für das »schöne Leben« gilt das gleiche wie für Pipeline; es empfiehlt sich eben nicht, das Wünschenswerte mit dem Möglichen zu verwechseln (so viel Materialismus muss sein).

Eine Agenturmeldung enthält das mir vorliegende Material, das die afghanische Tragödie in grotesker Weise auf den Punkt bringt. Sie stammt vom März 1989, kurz nach dem Abzug der Sowjets: »USA fordern von den Mujaheddin Stinger-Raketen zurück / Im Tausch Maulesel angeboten«. Bekanntlich lehnten die Mujaheddin ab.