»Trottelige Parolen sind etwas für Trottel«

Nils Selzer

Wann der Punk entstand, ist nicht eindeutig zu sagen. Doch wenn es gilt, alle musikalischen und kulturellen Vorläufer beiseite zu lassen und sich auf ein Geburtsjahr zu verständigen, war es 1976. Am 23. April jenes Jahres veröffentlichten die Ramones ihr erstes Album, am 1. Dezember beschimpfte ­Steve Jones, der Gitarrist der Sex Pistols, den Moderator einer Fernsehshow als »dreckigen Ficker«. Irgendwann dazwischen entstand der Punk.

Eine der ersten und einflussreichsten deutschen Punkbands waren die »Strassenjungs« aus Frankfurt, die mit Songs wie »Ich brauch’ meinen Suff (wie der Spießer den Puff)« brillierten. Nils Selzer (aka Mario Nett) war Bassist und später Gitarrist der Band und ist der einzige, der aus der Startforma­tion verblieben ist. Zuletzt erschien das Album »Jubeljahr« (2002). Mit Nils Selzer sprach Markus Ströhlein.

Wann haben Sie zum ersten Mal von Punk gehört?

Ende 1976 habe ich in einem Musikmagazin über Punk gelesen, es ging um die Sex Pistols.

Wie groß war der Einfluss der Sex Pistols oder der Ramones auf Ihre Band und auf die damalige Musikszene in Deutschland?

Es hat einige Zeit gedauert, bis Punk richtig wahrgenommen wurde. Zunächst galt er nur als ein Musikstil, bei dem der Sänger nicht singen und die Bandmitglieder keine Instrumente spielen konnten, aber von der Bühne pissten. Zumindest stand das so in Bild. Diese Darstellung hat sich erst einmal festgesetzt bei den Menschen. Deshalb waren unsere ersten Konzerte sehr chaotisch. Die Besucher dachten nämlich, sie müssten auch auf die Bühne pissen, weil es dazugehört. Erst ein oder zwei Jahre später haben mehr Leute gemerkt, was hinter Punk stand. Es wurde ihnen klar, dass Punk Selbstbestimmung bedeutete, sowohl musikalische als auch persönliche. Allmählich wurde der Anteil der Menschen größer, die nicht vollkommen bescheuert waren.

Die Strassenjungs werden oft als erste deutsche Punkband bezeichnet. Als Sie anfingen, gab es jedoch auch andere Gruppen, zum Beispiel die Hamburger Band Big Balls & The Great White Idiot.

Es gab bestimmt noch viele andere. Die Bands waren aber sehr regional beschränkt. Da hat keiner von dem anderen gehört. Wir waren einfach unter den ersten Bands, die eine Platte veröffentlicht haben.

Ihre Platte »Dauerlutscher« erschien 1977, im selben Jahr wie die erste LP der Big Balls. Wer war denn nun erster?

Keine Ahnung. Wir haben auch erst später erfahren, dass es diese Band aus Hamburg gab, die eine Platte herausgebracht hatte.

Kein anderer Musikstil ist derart mit Bedeutung aufgeladen wie Punk. Spielten Auflehnung und Rebellion wirklich eine große Rolle, oder war Punk nur eine weitere Sparte im Regal des Plattenhändlers?

Die Sex Pistols waren ein Produkt, das äußerst geschickt vermarktet wurde, das ist ja bekannt. Dennoch gab es immer wieder Bands, die schlicht das gemacht haben, was sie wollten. Und das ist der Kern von Punk. Mit dieser Haltung sind immer wieder Gruppen an die Musik herangegangen. Das Motto war: Das ist unsere Musik. Die nehmen wir in unserem Keller mit zwei Mikrofonen auf. Das mag schlecht klingen, ist uns aber egal. Die Ergebnisse wurden meistens auf Kassetten überspielt und unter die Leute gebracht. Diese Szene gab es und gibt es immer noch. Heutzutage nimmt man aller­dings CDs und brennt sie selbst.

Was ist aus den Bandmitgliedern der Strassenjungs geworden?

Es gab über die Jahre unzählige Besetzungs­wechsel. Ich kann nur für die derzeitige Besetzung sprechen. Alle außer mir spielen noch in anderen Bands und verdienen so ihr Geld. Unser Schlagzeuger beispiels­weise arbeitet in Köln bei einem Musical, in so einer Queen-Revivalshow. Ich betreibe immer noch das Label Tritt Records.

Hat ein früheres Mitglied der Band die klassische Punkkarriere eingeschlagen? Erst an der Nadel, dann tot?

Für uns war Heroin nie ein Problem. Eher der Alkohol.

Was ist aus Punk geworden?

Ich denke, dass seine Wirkung nach wie vor noch spürbar ist. Im Musikgeschäft gibt es immer Wellenbewegungen. Zuerst entsteht ein massenhaftes Interesse an einer Richtung. Beim Punk begann das 1977 und steigerte sich. Dann kam die Neue Deutsche Welle, und die ganze Sache ebbte ab. Sie brach aber nie vollständig zu­sammen, auch wenn das große Interesse der Medien wegblieb. Aber in irgendwelchen Nischen hat sich Punk gehalten. 2004 brachte die Band Green Day ihre Platte »American Idiot« heraus, die sich etliche Millionen Male verkauft und der Band einen Grammy eingebracht hat. Die Band gibt es ja auch schon seit 15 Jahren. Punk kann also nach wie vor ein großes Publikum erreichen.

Sie haben relativ bald Ihr eigenes Label gegründet. Geschah das aus der Punkattitüde heraus, alles selbst in die Hand nehmen zu wollen, oder hatten Sie nach den Erfahrungen mit einer großen Plattenfirma keine Lust mehr, abgezockt zu werden?

Beide Aspekte kamen zusammen. Viele Bands machen wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen mit Plattenfirmen. Es gibt große Versprechungen. Getan wird we­nig. Die Leute aus den A & R-Abteilungen, also den Abteilungen, die unter anderem dafür zuständig sind, neue Künstler einzukaufen, erzählen unglaublich viel Scheiße. Ich hatte damals recht gute Kontakte zu anderen Bands, die schon vor der Entstehung von Punk ihre Sachen in die eigenen Hände genommen hatten. Ich habe mich erkundigt, wo man Platten pressen lassen kann. Danach hieß es: Selbermachen!

Auf Ihrer Platte »Los!« von 1981 gibt es das Stück »Uniform«. Auch die Punks kommen in dem Text nicht gut weg. War Punk bereits damals ­erstarrt?

Je größer die Aufmerksamkeit wurde, desto mehr Mitläufer kamen hinzu. Sie wussten nicht, worum es ging, und wollten einfach dabei sein. Wichtig war nur noch, schicke Buttons an der Jacke zu tragen. Uns war das zu blöd. In mei­ner Auffassung von Punk waren Äußer­lichkeiten egal. Da trugen Leute Buttons mit der Aufschrift: »Haut die Bullen platt wie Stullen!« ­Picklige brave Bübchen waren das meistens.

»Haut die Bullen platt wie Stullen!« ist ein Zitat aus einem Song der Band ­Slime. Die zweite Generation deutscher Punkbands gab sich sehr politisch. Bei Ihnen war das noch anders.

Die Bands, die nach uns kamen, haben oft politische Parolen und Phrasen gedroschen. Mir hat das nie sonderlich gefallen. Uns ging es eher um Satire, Humor und Provokation. Die vermeintlich echten Punks haben oft zu uns gesagt: Ihr seid gar keine richtigen Punks. Das war uns aber scheißegal. Trottelige Parolen sind eben etwas für Trottel.

Die meisten Menschen verbinden mit Punk vor allem Leute, die mit ihren Hunden am Bahnhof sitzen, saufen und Passanten um Kleingeld anschnorren. Wann ist die Erscheinung des Elendspunks aufgetaucht?

Gleich am Anfang.

Wer stand auf der Bühne, und wer ­endete am Bahnhof?

Wer sich ähnlich war, fand früher oder später zueinander. Zwar lautete die über­geordnete Idee: Wir sind alle Punks, und man konnte sich darauf einigen, unter keinen Umständen Boney M. zu hören. Aber es gab große Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen. Zu welcher man gehörte, hing stark davon ab, aus welcher Schicht man kam.

Wen würden Sie eher als Punk bezeichnen, den Alkoholiker, der von Hartz IV lebt, oder Malcolm McLaren, der sich mit der Musik eine goldene Nase verdient hat?

Wenn man Punk wörtlich nimmt, ist es nur konsequent, vollkommen fertig und abgehalftert zu enden. Aber wie ein Wrack herumzulaufen, ist doch platt und hat wenig mit Punk zu tun. Hartz IV oder Malcolm McLaren? Ich würde irgendetwas in der Mitte nehmen.