Für immer Punk!

alexander troll erklärt, wie eine Totgeburt unsterblich werden konnte

Die Frage, ob Punk tot sei, ist fast so alt wie der Punk selbst. Manche datieren den Tod des Punk auf sein vermeintliches Geburtsjahr 1976. Im November jenes Jahres erschien, nach dem Debütalbum der Ramones und lange nach den ersten Veröffentlichungen von Bands wie MC5 und The Stooges mit »Anarchy in the U.K.« die erste Single der Sex Pistols. Die Bandmitglieder hatten sichtbar Mühe, ihre Instrumente zu beherrschen, und waren von ihrem Manager Malcolm McLaren zusammengebracht worden. Dessen Lebensgefährtin, die Modedesignerin Vivienne Westwood, betrieb in London die subkulturelle Boutique »Sex« und inspirierte zu einer neuen Anti-Ästhetik aus kaputten T-Shirts, gefärbten und zerzausten Haaren, hässlichen Ketten und zerschlissenen Lederjacken. Dazu kam das renitente Auftreten der Band, und fertig war das Gesamtprodukt »No Future«. Provokation war Programm. Mit Songs wie »Good save the Queen« eroberten die Sex Pistols die Charts, obwohl oder gerade weil ein Drittel der Plattenläden in England den Verkauf der Single wegen der darauf enthaltenen Majestätsbeleidigung verweigerte.

Doch manche hielten die Sex Pistols für eine Art gecastete Boygroup, und spätestens an McLarens selbstverliebtem Kinofilm »The ­Great Rock’n’Roll-Swindle« monierte man, es handele sich bei den vermeintlichen Wegbereitern des Punk nur um ein cleveres, kulturindustrielles Produkt, das auf das schnelle Geld aus sei. Die Jugendbewegung, die gerade im Entstehen war, wurde für tot erklärt.

Ein Irrtum. Denn die Sex Pistols waren keine singuläre Erscheinung. Sie gehörten zu den wichtigsten Pro­ta­gonisten, die den Geist aus der Flasche ließen. Dieser Geist verselbständigte sich und ging um die Welt. Seine Ästhetik unterschied sich deutlich von damals dominierenden Musik­stilen wie dem Glamrock oder bereits existierenden Subkulturen wie den Mods oder Teds. Aufgrund seiner rebellischen und energiegeladenen Form sprach Punk insbesondere Jugend­liche aus der Unterschicht an. So entstanden unter dem anarchischen Motto »Do-it-Yourself« unzählige Bands, Projekte, Plattenläden, Labels, Clubs und Fanzines, kurz: die Infrastruktur einer Szene, die bis heute existiert.

Was hat Punk gegen den Tod immunisiert? Als ich in diesen Tagen eine auf der Straße lebende junge Punkerin an einem U-Bahnhof fragte, was Punk für sie bedeute, zeigte sie auf zwei Mittvierziger, die offensichtlich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit waren. Sie sagte: »Nicht so sein wie die.« Vielleicht ist in diesem einfachen Satz das Serum der Unsterblichkeit verborgen. Punks erklären im Hier und Jetzt ihr Anders­sein zum Prinzip. Und das funktioniert universell: gestern in der Hauptstadt der DDR, heute in einem erzkatholischen Dorf im Allgäu oder fiktiv in einer muslimischen Stammesgesellschaft im Osten Afghanistans – vorausgesetzt, man ließe die Punks dort am Leben. Gute Gründe, sich von der Mehrheit abzugrenzen, sind jedenfalls immer und überall vorhanden.

Das erklärt auch, warum in der Szene inzwischen alle Altersgruppen vertreten sind, denn, so sagte mir Patti von der Berliner Band Cut My Skin: »Alles, was ich weiß, kann ich nicht mehr rückgängig machen.« Da die Missstände in der Gesellschaft nicht weniger werden, gibt es stets Gründe, Punk zu werden und zu bleiben. Punk wurde erwachsen und wandelte sich von einer Jugendbewegung zu einer Lebenseinstellung. Für manche erweist er sich immer wieder als ein individueller Weg, der nicht einfach, aber lohnenswert ist. Deshalb kann es dem Punk auch nichts anhaben, wenn seine Symbole von Popstars vereinnahmt werden. Ein David Beckham könnte sich eine tote Ratte auf den Kopf schnallen, Punk wäre dadurch nicht erledigt.

Im Gegenteil. Wegen seines universellen Prinzips ist er unabhängig von jeder Mode und jedem Musikstil und erscheint heute lebendiger als noch in den neunziger Jahren. Er mutiert weiter und verschmilzt mit anderen Stilen zu neuen Formen. Während der Techno zu einer leblosen Hülle erstarrt, entdecken viele Musiker aus dem elektronischen Bereich den Punk. So entstand in den letzten Jahren Elektroclash, der zu älteren Spielarten wie Hardcore, Industrial oder Psychobilly hinzukam.

Beispiele dafür sind die Berliner Band Neonman oder der DJ T.Raum­schmiere, die neben ihrem elektronischen Equipment mit Gitarre und Bass arbeiten. Beide werden im Oktober auf der Record-Release-Party des Samplers »Berlin Insane IV« in der Berliner Volksbühne auftreten, wo auch ein gewisser Dr. Motte zu Gast sein wird. Vielleicht wird wieder jemand Punk für tot erklären. Aber ich bin mir sicher, dass wir in 20 Jahren Artikel über ein halbes Jahrhundert Punk lesen werden. The story will be continued.

Alexander Troll ist Herausgeber des Berliner Fanzines Der Wahrschauer – Magazin für Gegenkultur, das seit 1988 erscheint.