Ein vager Verdacht

Gefühlte Sicherheit in Mexico-Stadt. Über die Ausstellung »Suspicious Setting«. Von Diana Artus

Bei meiner Ankunft in Mexico-Stadt schärft mir eine Freundin ein, dass ich niemals nach Einbruch der Dunkelheit allein auf der Straße sein dürfe (Überfälle) und dass ich sie immer erst fragen solle, bevor ich in ein un­bekanntes Viertel fahre (Belästigung, Überfälle). Sie warnt mich vor Märkten und Stadt­gebieten (Schießereien und Überfälle), vor leeren Straßen (Überfälle) und überfüllten (Diebstähle). Sie erklärt mir, dass ich in der Metro am Abend die Frauenwaggons benutzen solle (Schutz vor Belästigung), dass ich nie ein grünes Taxi auf der Straße stoppen dürfe (Entführungen). Ich soll nichts Ess­bares an den Straßenständen kaufen (Krank­heiten) und um die Mittagszeit keine langen Fußmärsche unternehmen (Smog). Sie bereitet mich darauf vor, dass Männer mir gewisse Worte nachrufen (Belästigung).

Am besten solle ich mich so unauffällig wie möglich kleiden und alles vermeiden, was mich irgendwie in Schwierigkeiten bringen könne. Sie warnt mich insbesondere vor Menschen in Polizeiuniform, denn die Uniformen kann man angeblich an jeder Ecke kaufen (Entführungen, Überfälle, Belästigungen).

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Fast jeder, mit dem ich mich während meines Aufenthaltes unterhalte, erzählt mir eine Überfallgeschichte, seine eigene oder die eines Freundes. Ich treffe Leute, die, ob­wohl sie sich an die Vorsichtsmaßnahmen gehalten haben, mehrmals Opfer von Taxi-Crimes wurden oder deren Bekannte entführt oder die vor ihrer Haustür mit Waffen bedroht wurden. Insbesondere zugewander­te Europäer und US-Amerikaner erzählen diese Geschichten gerne. Es kann der Eindruck entstehen, dass man so eine Geschich­te haben muss, um mit Recht sagen zu kön­nen, man lebe in dieser Stadt.

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Eine Neubausiedlung, Sozialwohnungen. Mein Bekannter Juanjosé meint, dass wir vom Dach des 15stöckigen Gebäudes einen guten Blick über die Stadt haben. Wir fahren nach oben, aber die Tür zum Dach ist verschlossen. Juanjosé schlägt vor, an der nächstbesten Wohnung zu klingeln und zu fragen, ob wir von dort fotografieren dürfen. Ich bin skeptisch. Wer sollte in einer solchen Stadt fremde Menschen in seine Wohnung lassen? Wir tun es trotzdem. Ein Mann um die 30 öffnet die Tür und lässt uns sofort hinein. Bereitwillig öffnet er al­le Fenster, erklärt uns, welche Gebäude wir sehen. Ich fotografiere, bleibe aber nervös. Wir beeilen uns, wieder wegzukommen. Der Mann scheint sich über den Besuch gefreut zu haben.

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Wir wollen eines der Randgebiete der Stadt besichtigen. Es zählt zu den so genannten marginalisierten Vierteln. Juanjosé erklärt, dass wir das Auto nicht verlassen dürfen. Als wir ins Viertel fahren, betätigt er die Zentralverriegelung, die Schlösser rasten hörbar ein. Wir kreuzen in Siedlungen, in denen es viele Häuser ohne Strom und fließendes Wasser gibt oder wo Strom illegal von vorhandenen Leitungen abgezweigt wird.

Juanjosé sagt, dass ich bei eventuellen Stopps mein Fenster nur einen Spalt breit herunterlassen dürfe. Es gäbe hier viele mobile Händler, die durch geöffnete Scheiben Kontakt aufzunehmen versuchten, was nicht immer freundlich verliefe. Er erzählt von einer Frau, die bei geöffnetem Fenster einen dieser Händler abgewiesen habe. Der Händler habe ihr daraufhin mit der Hand über die Wange gestrichen. Beim Weiterfahren habe die Frau gefühlt, wie ihr Flüssig­keit übers Gesicht lief, sie habe an die Stelle gefasst, wo der Mann sie berührte, und ihre Hand sei voll Blut gewesen. Er habe offenbar eine Rasierklinge in seiner Hand gehabt.

Wir durchqueren eine Gegend, die in der Nähe von Juanjosés Wohnung liegt. Arme und mittelständische Viertel liegen oft nahe beieinander oder gehen fast nahtlos ineinander über. Er erzählt, als Kind hier umhergestreunt zu sein, ohne dass er je Angst gehabt hätte. Dann sei er jahrelang nicht mehr hierhergekommen. Nun verspüre er ein Unbehagen, ein Gefühl von Unsicherheit, ohne zu wissen warum. Er meint, weil er das Viertel nicht mehr kenne, käme es ihm wegen seiner Erscheinung gefährlich vor, obwohl es sich wahrscheinlich kaum verändert habe. Vielleicht sei er auch mit den Jahren generell ängstlicher oder vorsichtiger geworden.

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In den kommenden Tagen missachten Juanjóse und ich etliche Sicherheitsmaßnahmen. Wir fahren in grünen Taxis, durchqueren Ge­­biete, die mir andere als No-Go-Areas auf der Karte eingekreist haben, besichtigen Müllkippen, Märkte und provisorische Siedlungen am Stadtrand. Endlich gewinne ich inte­ressante Eindrücke, anstatt wie am Anfang in den immer gleichen Straßen zu krei­sen, meine Tasche verkrampft umklammernd.

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Die Ausstellung »Suspicious Setting« von IMPEXunlimited kreist um die Frage der Konstruierbarkeit vermeintlicher Krisen­situationen und Gefahrenzonen sowie um die Produktion von Bedeutungen und Projektionsflächen.

Zwei Wahrnehmungsebenen stehen sich gegenüber. Zum einen zeigen kleinforma­tige Farbfotos Wachtürme in Mexico-Stadt, die eine gewisse Sicherheit suggerieren sollen, wo objektiv gesehen keine ist. Die Wach­türme vermitteln nicht nur das Gefühl einer besonderen Kontrolle durch eine wenig ver­trauenswürdige Polizei, sondern unterstützen grundsätzlich die Annahme, es handele sich um eine wirklich gefähr­liche Gegend. Die Einschätzung eines Ortes wird nicht selten auf die seiner Nutzer übertragen: Auch sie werden so zu suspekten Gestalten.

Die scheinbare Sicherheitsmaßnahme ruft eine Verunsicherung beim Passanten hervor. Er beobachtet den Raum genauer und reagiert misstrauischer auf seine Gestaltung und auf gewisse Situationen. Solche »gefährlichen Gegenden« bieten einen idealen Nährboden für self-fulfilling prophecies. Damit schaffen sie eine scheinbare Legitimation für noch mehr einschüch­ternde Sicherheitsbauten und -installationen.

Zum anderen illustrieren großformatige Schwarzweiß-Bilder kollektive Vorstellungen von suspekten Räumen. Sie bleiben dabei undeutlich und vage, genau wie der ihnen zugrunde liegende Verdacht.