Wie ein Lottogewinn

Türkei, Armenier und die EU

von jan keetman

Diesmal war der nationale Schulterschluss in der Türkei vollständig. Dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan der empörten Volksseele entsprechend wetterte, in Frankreich machten sie eine Lüge zum Gesetz, es seien »Lügenmaschinen« am Werk, war nicht anders zu erwarten. Doch auch bekannte Kritiker der Regierung standen fest zur Nation. Unter ihnen befanden sich etwa die Schriftstellerin Elif Safak, deren Bild jüngst öffentlich verbrannt worden war, weil sie ihre Romanfiguren über Massaker an den Armeniern sprechen lässt, aber auch der Verleger Ragip Zarakoglu, der sich seit Jahrzehnten für die Minderheiten in der Türkei engagiert, und der armenische Patriarch. Der Schriftsteller Orhan Pamuk und der wegen Verunglimpfung des Türkentums rechtskräftig verurteilte armenische Journalist Hrant Dink wollten sogar nach Frankreich fahren, um, sollte es in Frankreich ein Gesetz gegen die Leugnung des Völkermords an den Armeniern geben, demonstrativ gegen dieses zu verstoßen.

Das, was sich in Frankreich abspielte, war tatsächlich ungewöhnlich. Vor fünf Jahren hatte das französische Parlament den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Nun legte man noch einmal symbolisch nach, obwohl jedem klar war, dass die Regierung die endgültige Verabschiedung des Gesetzes durch den Senat verhindern würde. Also nichts weiter als eine Ohrfeige für die Türken? Wegen der französischen Bedenken gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei, die zwar weniger vehement und offen als die von Angela Merkel vorgetragen werden, ist man am Bosporus auf Frankreich ohnehin nicht gut zu sprechen.

Für die türkische Regierung kam die Sache wie ein Lottogewinn. Mit der anhaltenden Empörung über Frankreich konnte man die vom Militär initiierte Debatte über reaktionäre religiöse Tendenzen in der Regierungspartei überdecken. Damit war Erdogan seine wohl größte Sorge zunächst einmal los.

Außerdem wäre es möglich, dass das französische Gesetz, obwohl nicht verabschiedet, der Türkei moralisch den Rücken gegen die EU stärkt. Diese verlangt die Abschaffung oder Korrektur des Paragrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuchs (Verunglimpfung des Türkentums, der Regierung etc.). Die Regierung Erdogan hat zwar prinzipiell Bereitschaft signalisiert, dem zu entsprechen, sie unternimmt aber nicht das Mindeste in dieser Richtung.

Mit der Empörung über das französische Gesetz im Rücken könnte es der Türkei gelingen, den beanstandeten Paragrafen von einer Bringschuld in Verhandlungsmasse umzuwandeln und damit mehr auf der Hand zu haben, wenn über die Öffnung der Verkehrswege zur Republik Zypern verhandelt wird. Die Regierung weiß zwar, dass sie letztlich dazu gezwungen ist, sich gegenüber Zypern zu öffnen, wenn die Türkei der EU beitreten will, möchte aber im Gegenzug das Ende der internationalen Blockade gegen Nordzypern erreichen. Die Opposition wirft der Regierung eine Politik des »nationalen Ausverkaufs« vor. Sie stünde bei den Parlamentswahlen aber mit ziemlich leeren Händen da, wenn Erdogan dieser Zypern-Coup gelingen oder er bei der Zypern-Frage zumindest standhafter bleiben würde.

Der empörte Aufschrei in der Türkei über die Verletzung der Meinungsfreiheit, für die man sich zuhause bei weitem nicht so stark macht, führt auch weit weg von der Frage, was im Ersten Weltkrieg mit den Armeniern passiert ist und warum ihr Bevölkerungsanteil in Anatolien von über zehn Prozent vor 100 Jahren unter 0,1 Prozent gefallen ist. Manche der türkischen Kritiker, die jetzt in den empörten Chor gegen Frankreich einstimmen, mögen insgeheim hoffen, die Meinungsfreiheit werde nun auch für sie gelten. Doch das muss sich erst noch zeigen.