Sieg der Verlierer

Der Kriegsfilm »Indigènes« rührt Frankreich und seinen Präsidenten. von bernhard schmid

In der Trabantenstadt Rosny ist das Kino brechend voll. Im Publikum sitzen Leute, die ansonsten eher selten ins Kino gehen – viele ältere und alt gewordene Franzosen nordafrikanischer Herkunft. Gezeigt wird das Kriegsdrama »Indigènes« über Soldaten aus den ehemaligen Kolonien und ihre Beteiligung an der Befreiung Frankreichs. Mitte voriger Woche zählte der am 27. September angelaufene Film bereits 1,89 Millionen Kinobesucher. Vielerorts ­verzeichnete er Eintrittsrekorde, wie etwa das Lyon Mag für die Stadt Lyon vermeldet: »50 000 Zuschauer in 14 Tagen, das ist eine Rekordzahl. Ein verdienter Rekord, denn dieser Film ist außerordent­lich.«

Jamel Debouzze spielt den gebrochenen Helden dieses Films. Der Schauspieler ist so etwas wie der offizielle Clown des französischen Kulturbetriebs. Der Franzose marokkanischer Herkunft ist klein und seit einem Unfall leicht körperbehindert. Er versteht es, durch clownesques Auftreten und schnellen Redefluss – mit betontem Akzent – die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

In dem Film spielt er die Rolle des Saïd, eines Soldaten, der aus bitterstem Elend in einem algerischen Dorf kommt und das besetzte Frankreich befreien hilft. Die Filmhandlung setzt im Italien von 1943 ein und stellt die berüchtigte Schlacht am Monte Cassino einige Kilometer südlich von Rom nach, bei der sich die Truppen der Achsenmächte und die zäh vorrücken­den alliierten Streitkräfte monatelang gegenüber lagen. Es ist die Schlacht, in der zehntausende von »eingeborenen Soldaten« und afrikanischen tirailleurs der französischen Kolonialtruppen verheizt wurden.

Der Film zeigt das sehr genau: Die französischen Kommandeure schicken die »ein­geborenen« Soldaten, Welle um Welle, immer wieder den Berg hoch. Ohne wirkliche Deckung sind sie schutzlos dem Maschinen­gewehrfeuer der Deutschen ausgesetzt. Die unterhalb des Gipfels sitzenden Nazitruppen mähen ein ums andere Mal die Truppen am Berg nieder. Eine Vernichtung von Menschenleben, an deren Ende der Sieg über die Nazis steht. Und bevorzugt waren es Soldaten aus den französischen Kolonien oder Protektoraten in Nord- und Westafrika.

Wer hat Frankreich befreit, und unter welchen Umständen? Diese Frage ist geeignet, dem lange gehegten heroischen Geschichtsbild eines »Volkes aus lauter Widerstandskämpfern« einige Risse zu­zufügen. Man wusste ja, dass es die Lage im besetzten Frankreich unzulässig beschönigt: Auch wenn die verschiedenen Bewegungen der Résistance und ihr Umfeld zeitweilig vier Millionen Menschen umfassten, so gab es auch zahllose Anpasser und Kollaborateure während der Nazibesatzung. Aber dass Frankreich sich auch unter Aufopferung tausender Kolonisierter befreit hat, war bisher nur ungenügend ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.

Die Motivation der Soldaten war unterschiedlich. Manche, aus bitterarmen Verhältnissen und kolonialer Rechtlosig­keit kommend, engagierten sich für den Sold und die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg. Andere, wie der Protagonist im Film namens Abdelkader, waren aus politischen Motiven dabei. Sie erhofften sich einen längerfristigen politischen Effekt: Wir helfen den Franzosen, ihre Unterdrücker zu vertreiben, dann wird man danach auch unsere For­derungen nach »Freiheit auch für die nordafrikanischen Völker, wie für die europäischen« anhören müssen. Bekannt­lich kam es anders, und der französische Kolonialismus trat keineswegs freiwillig ab. Was man im Film nicht sieht – die algerische Presse moniert es energisch –, sind Zwangsrekrutierungen, die es auch gegeben hat.

Äußerst nüchtern dargestellt, aber sehr bewegend ist die Schlussszene. Man sieht, was später aus Abdelkader geworden ist. Seine Kameraden sind gefallen. Denn seine Gruppe war als erste in das Elsass eingerückt – Ende 1944 – und wurde dort von der Übermacht der Naziarmee massakriert. Zu­vor hatte sie noch einige Minuten lang heldenhaft widerstehen und einige Stahl­helmträger ins Jenseits schicken können. 60 Jahre danach besucht er ihre Gräber, und man erahnt die ausgedehnte Weite des Soldatenfriedhofs. Dann sieht man Abdelkader, alt, gebrechlich und vereinsamt, in sein winziges Zimmer in einem Immigrantenwohnheim zurückkehren. Man bekommt eine Vorstellung von dem materiellen Elend, in dem er lebt. Einblendungen informieren den Zuschauer, mit welch lächerlichen Pensionen die ehemaligen »eingeborenen« Befreier abgespeist werden.

Von 350 000 »Eingeborenen« in den französischen Truppen der alliierten Streit­kräfte, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, leben heute noch 84 000. Ihre Pen­sionen sind zum letzten Mal vor 50 Jahren angehoben und dem Preis­anstieg angepasst worden; seit Dezember 1959 wurden die Beträge nicht mehr erhöht. Französische Veteranen, die nach 1945 keine militärische Karriere einschlu­gen, erhalten für ihre Jahre im Zweiten Weltkrieg ein paar hundert Euro im Jahr, für die »Eingeborenen« sind es unter 100 Euro jährlich. Diese Ungerechtigkeit war seit langem bekannt, 2001 verurteil­te der Oberste Gerichtshof deswegen sogar die Regierung. Dennoch rührte sich bis in diesem Jahr nichts.

Offenkundig musste erst ein Film in die französischen Kinos kommen, um an diesem Tabu zu rütteln. Die politische Legende will jedenfalls, dass Präsident Jacques Chirac – der einer Vorpremiere Seite an Seite mit dem Darsteller Jamel Debbouze beiwohnte – derart emotional bewegt war, dass er nach dem Kinobesuch beschlossen habe, jetzt müssten sich die Dinge ändern. Seine Ehefrau Bernadette soll ihm bei der Aufführung ins Ohr geflüstert haben: »Jacques, man muss etwas tun!«

In Wirklichkeit war der Beschluss aber schon vorbereitet, durch den amtierenden Veteranenminister Hamlaoui Mekachera – selbst ein ehemaliger Soldat, allerdings nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern im französischen Kolonialkrieg in Algerien. Die algerische Presse argwöhnt deshalb, es handele sich um eine gut inszenierte Publicity-Show. In Wirklichkeit, so kritisieren jedenfalls der Quotidien d’Oran und die algerische Tageszeitung La Tribune, wolle Chirac sechs Monate vor seinem Abtreten von der politischen Bühne mit einem positiven Akt in die Geschichte eingehen. Die ehemaligen »eingeborenen« Soldaten erhalten nun genau so viel wie ihre damaligen französischen Mitkämpfer.