Ich bin so frei

Individualität und Eigentum sind zwei Grundbegriffe der Moderne. Christian Schmidt untersucht ihren Zusammenhang

Die Freiheit des Individuums ist ein Wert, mit dem sich der Kapitalismus ein menschliches Antlitz verleiht. Die Autonomie der Einzelnen galt schon früher als ein Merkmal, an dem die Überlegenheit der westlichen Lebensweise gegenüber dem Sozialismus offenbar wurde, und sie ist auch heute wieder ein Gut, das den Kapitalismus gegenüber den islamischen Despotien zur besten aller gesellschaftlichen Ordnungen werden lässt.

Die überwältigende Deutlichkeit, mit der sich die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums gerade im Kontrast zu den gesellschaftlichen Gegenentwürfen zeigt, lässt leicht vergessen, dass Individualität auch unter den Vorzeichen des west­lichen Kapitalismus ein höchst schillerndes Konzept ist. Im Rahmen der Kritischen Theorie wurde immer wieder davon gesprochen, dass die wahren Individuen der kapitalistischen Gründerzeit im entwickelten Kapitalismus nicht mehr zu finden seien. Dort überwiegt eine Analyse des Kapitalismus, die betont, wie sehr die Einzelnen in die gesellschaftliche Struktur eingegliedert sind, die ihr Handeln, ihr Denken und Fühlen und schließlich sogar ihre Bedürfnisse erzeugt.

Solche Analysen stützten sich auf die Erfahrungswelt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf das Aufgehen der Individuen in den Massen, wie auf die allgegenwärtige Empfindung, der einzelne Mensch sei nur noch ein Anhängsel von Maschinen und Apparaten, sei es in der Fabrik, auf dem Kasernenhof oder in den Mühlen der Bürokratie. Diese Auflösung des Individuums im öffentlichen Leben und im Arbeitsprozess wurde mit den Studien zur Kulturindustrie um die Darstellung der Nivellierung individueller Besonderheiten in der Konsumtionssphäre ergänzt. Individualität erschien nur noch vorstellbar als dissidenter, unintegrierbarer Rest. Als etwas, das so widerspenstig wäre wie die Natur, auch wenn es selbst als gesellschaftlich geformt erfasst werden müsste. Aber Individualität wäre nicht so ambivalent und evident, wenn sie nur noch im vereinzelten Leiden an der Gesellschaft auftauchen würde.

Um die Rolle der Individualität in den westlichen Gesellschaften zu verstehen, ist es nötig, ihre tiefe Verbindung mit der ökonomischen Ordnung des Kapitalismus zu begreifen. Diese Ordnung ist geprägt vom Eigentum, das es Personen ermöglicht, exklusive Verfügungsrechte über Teile der Welt für sich zu reklamieren, sowie von einem System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, das auf der abstrakten Vergleichbarkeit von Tätigkeiten beruht und in der Lohnarbeit seine allgemeine Form findet.

Eigentum und Lohnarbeit hängen eng miteinander zusammen – und zwar viel enger, als das in der heute gängigen Rekons­truktion der marxschen Wertanalyse ausgedrückt wird. Das System der Lohnarbeit funktioniert nur im Kontext einer Aufteilung der Welt in Eigentumsbereiche, die die Eigentumslosen bzw. -armen von den Mitteln abschneidet, aus denen sie ihr Leben bestreiten könnten.

Mit der sozialen Praxis des Eigentums, d.h. der exklusiven Zuordnung von Teilen der Welt zu Personen, entsteht nicht nur ein Bereich des Eigenen für diejenigen, die über Eigentum verfügen. Auch für jene ohne (ausreichendes) Eigentum erwächst aus dem Mangel eine Zurückgeworfenheit auf ihr Selbst. Es entsteht der Zwang zur materiellen Reproduktion der eigenen Existenz. Um sich diesem Zwang beugen zu können – dessen gesellschaftliche Natur schon vor Augen tritt, wenn beachtet wird, dass er für Kinder nicht existiert, weil diese noch nicht den Status von Personen haben und von ihren Familien mitzuversorgen sind –, bleibt den bei der Verteilung der Ressourcen der Welt leer Ausgegangenen nur ein Mittel, das nicht unmittelbar zum Eigentum werden kann: sie selbst.

Erst durch den Ausschluss der Menschen aus der Welt der eigentumsfähigen Gegenstände kann die kapitalistische Ökonomie entstehen. Andernfalls höben die Abhängigkeiten der Armen deren Freiheit vollständig auf und ließen sie zu Leibeigenen oder Sklaven werden.

Das merkwürdige Eigentum an sich selbst – für das die Einzelnen der Gesellschaft nichts schulden, das sie aber im Gegensatz zum gewöhnlichen Eigentum auch nicht verkaufen oder beleihen können, weil es ihnen unveräußerlich gehört – ist die Quelle der Arbeitskraft, die, zeit- oder stückweise veräußert, den Zugang der strukturell Armen zur Welt des Eigentums eröffnet. Doch um in den Prozess der allgemeinen Tauschbarkeit eingeführt werden zu können, muss die verausgabte Arbeitskraft als eine einzelne, quantifizier- und zurechenbare Wesenheit gedacht werden.

Die moderne Evidenz der Individualität beruht auf den Praxen der Vereinzelung, die sich bei der Bewertung und Zurechnung von erbrachten Leistungen sowie der Prognose zukünftiger Arbeitsleistungen ergeben. Unabhängig davon, wie komplex die kooperative Organisation einer produktiven Tätigkeit auch sein mag, die Erfahrung, dass es im Lohnarbeitsverhältnis um die Arbeit Einzelner geht, die von anderen bewertet und eingeschätzt wird, ist der kapitalistischen Logik immanent. Sie überträgt sich sogar auf das Erleben des Produktionsprozesses, in dem sich die Produzierenden selbst in Teams immer auch als Vereinzelte wahrnehmen müssen. Und sie wird besonders verinnerlicht, wenn sich die auf Lohnarbeit Angewiesenen anpreisen müssen, um in ein Lohnarbeitsverhältnis eintreten oder in einem bleiben zu können.

Dann wird die Individualität zu einem breiten Konzept, in das Fähigkeiten und Fertigkeiten eingehen, über die das Subjekt sich und anderen Rechenschaft ablegen muss. Wobei sich die Rechenschaft auf die Erzählung einer eigenen biografischen Geschichte stützt, in der sich das Individuum als etwas entwirft, das über konstante Eigenschaften verfügt, zu denen auch die Fähigkeit zur flexiblen Fortentwicklung zählen kann.

Es liegt auf der Hand, dass die Entstehung der Individualität aus den Erfordernissen der ökonomischen Ordnung der Autonomie der Einzelnen enge Grenzen setzt. Sie ist in der marxistischen Analyse direkt mit den Phänomenen der Verdinglichung und Entfremdung verknüpft. So kann es auch nicht verwundern, dass die Freiheit, die der Kapitalismus so stolz gegen andere Gesellschaftsentwürfe ins Feld führen kann, in seinem Inneren immer nur ein unzureichend erfülltes Ideal bleibt.