Filmbetrachtung mal anders

Ein Sammelband widmet sich dem Filmklassiker »The Night of the Hunter«. Und zwar jeder einzelnen Minute.

Das Buch »Minutentexte. The Night of the Hunter« besteht aus 93 Texten zu dem 93 Minuten langen Film »The Night of the Hunter« (USA 1955) von Charles Laughton. Die einzelnen Minuten des Films wurden im Frühjahr 2005 unter 93 Autorinnen und Autoren verlost. Die Texte sind von Filmhistorikern, Filmwissenschaftlern und -theoretikern, von Regisseuren, Cutterinnen, Kameramännern, Schauspielerinnen, Filmmusik-Komponisten, Produzenten, Schriftstellern, Webloggern und Künstlern. Die Idee stammt von Michael Baute und Volker Pantenburg, die das Buch gemeinsam herausgegeben haben. Die Jungle World druckt hier drei von den 93 Texten, zur 6., 13. und 18. Minute.

6. Min. Wahnsinn im Gericht

Harry Powell ist uns als fahrender Prediger der Misogynie bekannt gemacht, des Wortes mächtig wie der zupackenden Tat. Ein pa­tho­logischer Raubmörder, witwenschlachtend durch die Provinz vagabundierend, stets auf der Suche nach dem nächsten arglosen ­(­Spar-)Strumpf, der seiner Mission den gehörigen Vortrieb verschafft. Zu Einkehr und Besinnung hat er ein kleinstädtisches Varieté aufgesucht, die lockend-lasziven Posen einer platinblonden Tänzerin sollen ihm vergegenwärtigen, warum er tut, was er tut, und das Messer geht ihm folgerichtig in der Tasche auf. Aber er allein vermag nicht, für Ordnung in der Welt zu sorgen, das Übel der Freizügigkeit zu eliminieren, dies klagt er einer Instanz, die, folgen wir seinem Blick, irgendwo oberhalb des Bildrands angesiedelt sein muss. Die anderen Gäste des Varietés, offenbar bloß niedere Geilheit statt aufrichtig hassende Verachtung suchende Männer, sind als Individuen nur schemenhaft erahnbar. Ihre Schatten aber geben den Hintergrund, vor dem Harry Powell seine Klage spricht, eine frisch rasierte und sauber gekleidete Lichtfigur inmitten einer Masse willfähriger Komplizen der moralischen Verschwommenheit.

Nun legt sich kräftig eine Hand auf Powells Schulter, die Kamera folgt, die Schatten unter sich lassend, dem zugehörigen Arm nach links oben und verharrt auf der Büste eines Mannes, den seine Uniform als Polizisten ausweist. Ein hagerer Typ, wir sehen nur eine Hälfte seines Gesichts, im horizontal von rechts einfallenden Licht steht sein Ohr wie fluoreszent ab. Das kantige Kinn und der Konus des Rangerhuts befinden sich in komischer Äquidistanz zur schäbig-welligen Krempe, die Stirn und die Ordnungshüterplake­te stechen ab vom opaken Bildhintergrund. So, als Vertreter einer heruntergekommenen, aber immer noch mächtigen Objektivität markiert, spricht der Polizist von oben herab unsern Helden außerhalb des Bildes schroff an: Ob der Tourenwagen mit Nummernschild aus Moundsville drau­ßen zu ihm gehöre. Von einem Polizisten gestellt, ist diese Frage der erste Satz einer Anklageschrift. Wir lassen also gerade eine Etappe der Exposition hinter uns. Das wird dadurch noch betont, dass das Ende der Frage mit dem Schlussakkord der Tanzmusik zusammenfällt, bevor wir nach einer Wischblende in einen Gerichtssaal hineinsehen. Aber was für ein merkwürdiger Gerichtssaal ist das? Während wir wieder das horizontal einfallende Licht bemerken, registrieren wir die allernötigsten Kennzeichnungen filmischer Justiz: Als berobte Figur ein fülliger älterer Herr auf dem getäfelten Podest, davor ein Gerichtsschreiber an seinem Tischchen. Im Bild links vom Richter schlaffen die Stars and Stripes von der Standarte, rechts schaut Abraham Lincoln aus einem Bilderrahmen heraus, und er sieht irgend­wohin, jedenfalls sieht er nicht zu, wie hier Recht gesprochen wird. Eine Zufälligkeit der Requisite vielleicht, oder eine Vorgabe Davis Grubbs oder James Agees, der einige Jahre zuvor ein Drehbuch für eine Lincoln-Biographie geschrieben hat.

Dass in der spärlichen Kulisse Honest Abe, Modellathlet eines geschichtlich bereinigten Fortschrittsgedankens amerikanischer Prägung, nicht vergessen wurde, wird aber mit dem Ort der Handlung zu tun haben. Bei West Virginia, zumal seinem nördlichen Zipfel, in dem Moundsville liegt, können sie sich heute noch nicht entscheiden, ob es Nord ist oder Süd. Der Bundesstaat liegt unverrückbar unterhalb der Mason-Dixon-Linie und ist doch gerade im und durch den Bürgerkrieg entstanden, ein Renegatenstaat des sklavenhalterischen Südens, letztlich also zwielichtig wie offenbar seine Gerichtssäle, in denen deshalb ein Lincoln-Bildnis als Fetisch politisch-moralischer Geradlinigkeit nicht fehlen darf. In bemerkenswerter Gegenüberstellung dazu der Schatten der Flagge, der die Silhouette eines Ku-Klux-Klan-Hutes sein könnte. Und so beginnt dieser Prozess mit seinem Ende. Für 30 Tage, deklamiert der Richter, soll Powell im örtlichen Gefängnis einsitzen, weil er den Wagen mit Nummernschild aus Moundsville gestohlen hat. Der Gerichtsschreiber, der bisher zum Richter hochgeschaut hat, macht sich eifrig daran, das Resultat zu notieren, das scheint das einzige zu sein, worum es hier geht. Ist das alles, weil es ein Bagatelldelikt ist oder weil die Szene vornehmlich ein Plotvehikel ist – täuschen wir uns also, wenn wir einen Kommentar auf das Justizsystem heraussehen? Nach den ersten Minuten wissen wir, dass Powell eine ganz andere Strafe zustände, dieser Prozess muss uns eine juristische Farce bleiben. An der Oberfläche wird in einer einzigen Einstellung eine dramaturgisch notwendige Information transportiert, aber durch Bildkomposition und knappen Dialog erhält die Szene philosophische Resonanz: Eine Niedertracht in sexy-metaphysischen Dimensionen, wie sie Powell verkörpert, ist mit der positivistischen Pedanterie einer auf Lincoln in Öl angewiesenen Rechtsprechung nicht zu fassen. Dem Verurteilten ist nicht das Urteil wichtig, sondern dass seinem Namen in der Urteilsschrift der selbstverliehene Titel (Preacher) vorangesetzt werde. Den Hassprediger interessieren nicht die Maßstäbe weltlicher Gerechtigkeit, aber er legt Wert auf die Kohärenz von Wahn und Lebensweise.

Die Widerrede, die die Szene beschließt, bestreitet dem Delinquenten die erforderliche Glaubwürdigkeit wg. Autodiebstahls und Varietébesuchs. Der Richter gerät hier etwas aus der Rolle und ins Moralisieren über bürgerliche Reputation. So scheinen, als wollte der Film eine Verwandtschaft von Wahnsinn und bourgeoisem Wertesystem nahe legen, der Richter und Powell am Ende doch noch auf einer Ebene zu kommunizieren. Eine Überblendung rückt einen Gebäudekomplex ins Bild, in etwas verwackelter Luftaufnahme wie aus dem Flugzeug. Es muss dies, wir erinnern uns des Urteilsspruchs und werden von einem schicksalsschweren Glockenschlag bestätigt, das Moundsville State Penitentiary sein.

Das Internet ist voller Beschreibungen, wie es in den neogotischen Gemäuern spukt. Man kann nächtliche Führungen buchen, der berüchtigte Knast ist seit zehn Jahren stillgelegt. 1955 war hochgewaltsamer Betrieb und der elektrische Stuhl gerade eingeführt. Aber Laughton ist nicht Wiseman, und die nächste Überblendung führt in eine weitere Luftaufnahme, diesmal aus der Senk­rechten. Damit wir das suburbane Idyll aus Einfamilienhäusern und Vorgärten am Ufer des Ohio noch leichter als solches identifizieren können, setzt mit Harfenklang erbauliche Familienfilmmusik ein, die Kamera krant nach einer weiteren Über­blendung zu zwei Kindern auf eine blütenübersäte Wiese herab. Der Junge hat dem Mädchen gerade gezeigt, wie man die Puppe Miss Jenny anzieht, da hat die Musik wieder aufgehört. Ein Umschnitt, es kommt ein Automobil in rascher Fahrt den Zuweg entlang, aber nicht spurgetreu, es wackelt ein wenig hin und her. Bis es auf unserem Grundstück stehen bleibt und der Fahrer eilig herausspringt, fragen wir uns, ob es daran liegt, dass das ein sehr altes und technisch weit überholtes Modell ist. Der Mann, den die Kinder als ihren Vater identifiziert haben, ist in seiner Bewegung eingeschränkt, er hält einen Arm an den Körper gepresst, beim Sprung aus dem Wagen stürzt er fast. Was wir zuletzt bemerken, ist ein hell schimmernder Gegenstand in seiner linken Hand, ohne dass zu sagen wäre, was es ist.

marco vogts

13. Min. Leben mit dem Fluch

Jetzt, mit gewaschenen Händen, ist der Henker bereit, die Küche zu verlassen und an das Bett seiner schlafenden Kinder zu treten, als bewege er sich nach der rituellen Reinigung vom Vorhof eines Tempels in dessen Allerheiligstes. Seine Kinder – ein Mädchen mit Locken, daneben ihr blonder Bruder – ähneln John und Pearl. Auch ihr Vater ist sich wohl dieser Parallele bewusst – auf dem Weg zu seinem Haus hat er erfahren, dass der Gehenkte zwei Kinder zurücklässt; die Information hat er mit einem knappen, abwehrenden »I never heard« beantwortet. Beide Kinder sind zugedeckt, unter ihren geschlossenen Lidern bewegen sie die Augen. Träumen sie? »Fear is only a dream«, hatte der Titelsong behauptet, »so dream, little one, dream.«

Der Vater beugt sich über das Bett und nimmt zwei winzige Justierungen an der Decke vor: Bei dem Mädchen schiebt er sie etwas höher, bei dem Jungen zieht er sie ein wenig tiefer. Die Decke soll bis zum Kinn reichen, aber nicht das Gesicht berühren – sie muss schützen, darf aber die Atmung nicht behindern. Mit einer Geste des Behütens hat er die verrutschte Linie neu gezogen, nur die Köpfe der Kinder schauen jetzt unter der Decke hervor.

Er richtet sich auf, sein Blick gleitet langsam über das Kinderbett in die Horizontale und verharrt dort. Sein Gesicht ist immer noch so unbewegt wie in den Szenen davor. Wir sehen es jetzt fast frontal, sehen seinen Blick, aber wissen nicht, wohin er schaut. Einen Moment lang scheint es so, als blicke er in die Richtung auf, aus der ein nun plötzlich einsetzender Chorgesang zu hören ist. Die Stimmen klingen feierlich und akzentuiert, doch Melodie und Text deuten darauf hin, dass es sich um ein Kinderlied handelt: »Hing, hang, hung, see what the hangman done« – eine kindlich-makabre Aneignung der Zeile »Sing, sang, sung« in den Lehrgesängen, mit denen in der Schule die Konjugation unregelmäßiger Verben eingeübt wird.

Der Henker weiß um den Fluch, der von seiner Tätigkeit ausgeht – in seinem früheren Beruf als Minenarbeiter hatte er sich weniger beschmutzt gefühlt als jetzt. Aber die Umstände zwingen ihn, Henker zu bleiben, und so hat er sich ein Reinigungsritual zugelegt, mit dem er den Fluch ablegen und als fürsorglicher Vater seinen Kindern gegenübertreten kann.

Die Überblendung führt uns zu den Urhebern des Spottgesangs. Es sind Kinder, die auf einem Spielplatz in einer Reihe stehen. Im Rhythmus des Lie­des wippen sie mit ihren Körpern, sie überlassen sich ganz dem Vergnügen ihrer ausagierten Häme. Aus dem Gesang ist der sakrale Hall verschwunden, er hat ungestümeren Stimmen Platz gemacht. »Hung, hang, hing, see the robber swing«, singen die Kinder weiter, eine Schaukel pendelt leicht im Wind. Die Sonne scheint, es ist der Mor­gen nach der Vollstreckung des Todesurteils.

Die Kinder des Gehenkten stehen ab­seits und beobachten stumm die Szene. Pearl trägt ein Kleid, sie verzieht scheu ihr Gesicht. John trägt eine Latzhose, ein kurzärmliges kariertes Hemd und einen Strohhut, er ist eines von vielen Südstaatenkindern. Äußerlich unverändert, sehen sich die beiden zum ersten Mal mit ihrer beginnenden Stigmatisierung konfrontiert. Der Fluch der Hinrichtung trifft nicht die Kinder des Henkers, sondern die des Gehenkten.

Die singenden Kinder stehen mit dem Rücken zu ihren Adressaten, ein Junge und ein Mädchen schauen sich amüsiert zu ihnen um. John bemüht sich, seine Gefühle zu verbergen, aber in seinem Gesicht zuckt es. »Hing, hang, hung, now my song is done«, endet das Lied, und die Kinder stimmen es noch einmal von vorne an. Einer der Jungen läuft aus der Reihe heraus und beginnt, mit Kreide einen stilisierten Gehenkten an einen Zaunpfosten zu malen. Auf der Zeichnung schwingt der Strick zur Seite, die Arme des am Galgen baumelnden Delinquenten sind wie im Krampf angewinkelt. Wieder ist John zu sehen. Immer noch ringt er damit, seine Regungen nicht preiszugeben, er atmet tief ein und aus.

In der Totale zeigt sich die zum Fluss führende Dorfstraße, an der sich die Szene zugetragen hat. An der linken Straßenecke sehen wir John und Pearl weitergehen. Gegenüber, an der rechten Straßenecke, befindet sich der Spielplatz, auf dem nun die Kinder nach Beendigung ihres Liedes lachend auseinander laufen.

John und Pearl steuern auf ein Haus zu, sie bleiben vor einem Schaufenster stehen. Die Kamera fährt hinein und direkt auf einen Gegenstand zu: eine Taschenuhr. An einem Stab aufgehängt ragt sie aus dem Panorama der sie umgebenden kunsthandwerklichen Gegenstände heraus, hebt sich als modernes Präzisionsinstrument von der Folie des Vergangenen ab. In einem diffusen Kontinuum macht sich hypnotisierend die Zeitlichkeit bemerkbar. Die Uhr zeigt eine Minute nach Neun. Das Ende von Johns Kindheit hat begonnen.

mirko driller

18. Min. Unten am Fluss

Die Achtzehn ist eine schöne Minute, die erste, in der das Verhängnis eine Lücke hat.

Davor ist ein Raubmörder zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Davor hat sich ein falscher Priester mit einem Schnappdolch in seinem Kreuz und mit Love & Hate-Tätowierungen an den Fingern auf den Weg gemacht, um sich die Beute des Raubmörders zu holen. Davor hat der Sohn des Erhängten lernen müssen, sich seinen Schmerz nicht anmerken zu lassen, wenn er durch die Stadt ging und keiner in ihm einen Jungen sah, der seinen Vater verloren hatte, sondern nur noch den Sohn eines Hingerichteten. Davor ist der falsche Priester in der Stadt angekommen und hat Witterung aufgenommen, ein Schatten vor dem Haus. Die Schrecken der Kindheit sind zahllos, ein Wunder, dass man überlebt.

Doch nun ist die achtzehnte Minute angebrochen, die erste, in dem der Schrecken Ruhe gibt. Ein trügerischer Frieden vielleicht, das Böse nimmt nur einen neuen Anlauf, aber in jedem Film, der vom Schrecken erzählt, gibt es diese erste Minute, in der man durchatmen kann, als wäre der Spuk schon ausgestanden. Die Minute, in der ein Schiff vorbeifährt, als gäbe es einen Ausweg, die Minute, in der eine Berglandschaft aufgeht, als dürfte der Blick weit werden, in der sich Pferde ins Zeug legen, als könnte man entkommen, in der Kellner stolpern, Paare tanzen, Fremde Lokalrunden schmeißen, Taxifahrer Weisheiten verkünden, als wäre alles wieder in Ordnung. In den Filmen gehen Fenster auf, die aus den Filmen hin­aus­ge­hen, und über jedem von ihnen könnte ein Schild sagen: bei Gefahr Ruhe bewahren und Scheibe einschlagen. In diesem Film sind es ein Fenster auf den Ohio River, auf dem gerade ein Raddampfer vorbeigleitet, und ein Foto auf dem Tisch Uncle Birdies, auf dem die Frau zu sehen ist, die er geliebt und nach deren Tod er zum Trinker heruntergekommen ist, und wenn man sich jetzt etwas wünschen dürfte, dann wäre es, dass der Film an genau dieser Stelle aus seinem Alptraum aufwacht, sich kurz räkelt und mit etwas anderem als dem Schrecken weitermacht. Ein paar Augenblicke lang sieht es auch danach aus: Uncle Birdie gibt dem Jungen einen Kaffee und ein paar freundliche Sätze, für die der Junge noch viel zu jung ist, aber genau deswegen sind es die richtigen Sätze, aber dann geht es doch gleich wieder weiter mit dem Schrecken, der Junge muss wieder zurück in sein eigenes Leben, in dem ein Jäger auf ihn lauert.

Später, sehr viel später, nachdem alles gut ausgegangen ist, wird sich wahrscheinlich niemand mehr erinnern können an diesen alten Mann, ohne den es kein Entkommen gegeben hätte. Aber das weiß man in der achtzehnten Minute noch nicht. In der achtzehnten Minute weiß man nur: Es gibt einen, zu dem man gehen kann, wenn man nirgendwohin sonst gehen kann. Da unten am Fluss ist ein Notausgang.

peter praschl

Michael Baute und Volker Pantenburg (Hg.): Minutentexte. The Night of the Hunter. Verlag Brinkmann und Bose, Berlin 2006, 288 S., 30 Euro.

Das Buch wird am 1. Dezember um 21 Uhr im Berliner Arsenal-Kino vorgestellt, Laughtons Film läuft dort am selben Tag um 19 Uhr. Eine weitere Buchpräsentation findet am 5. Dezember im Hamburger Metropolis-Kino statt. Informationen unter www.minutentexte.de