Ich-Maschine, Büffel, Gnu

Blumfeld gibt es nicht mehr. Einen Rückblick auf eine der wichtigsten
deutschsprachigen Bands der vergangenen 15 Jahre liefert bertrand w. klimmek

Du hast bis jetzt noch nicht kapiert/was um dich rum geschehen ist/dass […] nichts mehr so wie vorher ist/Hast immer nur an dich gedacht/geglaubt, dass dir so nichts passiert/Du hast es dir bequem gemacht/Plötzlich bist du aufgewacht/in der Wirklichkeit.« Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, ist nicht der Autor dieser Zeilen, obwohl er bekanntlich der Überzeugung ist, dass man »den Menschen endlich die Wahrheit sagen« müsse. Die folgenden Worte stammen auch nicht vom deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler, für den es zum politischen Geschäft gehört, auch »unbequeme Entscheidungen zu treffen«: »Du hast die Zeichen ignoriert/und dich dabei verspekuliert/Jetzt stehst du da und tust schockiert/ […]/Jetzt macht die Zukunft dich verrückt/ […]/Du weißt, es führt kein Weg zurück/[…]/in der Wirklichkeit.«

Jochen Distelmeyer, der Sänger und Gitarrist von Blumfeld, hat sich den Text von »In der Wirklichkeit« ausgedacht. Und egal, was man von dem Stück hält, das 2003 erschienen ist: Blumfeld waren eine der wichtigsten und interessantesten Bands der neunziger Jahre. Seit ihrem Album »Ich-Maschine« von 1992 war die Platte »Monarchie und Alltag« von den Fehlfarben aus dem Jahr 1981 nicht länger die aufregendste, aufwühlendste und aufreibendste Platte mit deutschsprachigen Texten. 1992 verschärfte die CDU mit der Hilfe der SPD das Asylgesetz und belohnte die Horden, die kurz vorher ein Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen angegriffen und in Brand gesteckt hatten. Was in den Jahren zuvor noch ein sicheres Erkennungszeichen rechtsex­tremer Parteien gewesen war, nämlich ständig Wortmonster wie »Zuwanderungsstrom«, »Asylantenflut« und »Handlungsbedarf« von sich zu geben, gehörte auf einmal in den Medien, bei Politikern und im Alltag zur Normalität.

In dieser Zeit, in der die wiedervereinigten Deutschen erneut dem kollektiven Wahn zu verfallen schienen, tauchten die unversöhnlichen Intellektuellen der so genannten Hamburger Schule auf, allen voran Blumfeld. Sie waren nicht länger selbstgenügsam politisch und phrasenhaft, sondern betrieben Subjektkritik. Diese Selbstzermalmung war einfach nicht als kokette, selbstgefällige Pose zu neutralisieren. Eine zentrale Figur war Distelmeyer, ein Houellebecq der Independent-Szene.

Es hatte schon Vorläufer wie die Kolossale Jugend, Mutter und Cpt. Kirk gegeben. Es gab nun Huah! und Die Sterne, die damals noch recht bemüht funky wirken wollten. Tocotronic und Brüllen waren noch nicht gegründet. Bei Blumfeld war plötzlich zu hören von den »Zeittotschlägern«, von »Pickelface«, von einem »Penismonolog« und einem »Selbstbetrugsdezernat«: »Mach doch mal einer den Kulturkack aus/ach, geht ja nicht/lass bloß an, bin ja selber drin.«

Was wie das Lied eines jammernden Problemkinds anmutete, war allerdings das Gegenteil: eine sehr unbequeme Frontstellung, die selbstverschuldete Mündigkeit. Und es war bemerkenswert, wie abseitig und unzeitgemäß diese vermeint­liche Selbstspiegelung, die doch eine Auseinandersetzung mit einem objektiven und dringlichen Bezug war, in dieser Gesellschaft erschien.

Aber dann kam der Bruch mit der eigenen Haltung. »Es geht mir gut/Die Welt ist schön/Ich lebe gern«, sang Distelmeyer 2003. »Es gibt nur diese Welt«, verkündete er 2006. Seit dem Ende der neunziger Jahre vollzogen Blumfeld einen Schwenk hin zur musikalischen Konvention. Er unterstrich auf absurde Weise die einzigartige Ausnahmestellung der Band. Keine andere hätte es sich auf einmal erlauben dürfen, Schlager zu spielen, und wäre dennoch ernst genommen worden.

Um nun zu behaupten, man müsse Teil des Bestehenden sein, um es überhaupt verändern zu können, musste die Band natürlich die eigene radikale Vergangenheit als existenzialistisches Pathos abtun. Und genau das war das Problem: Man war auf einmal erwachsen. Auf der Platte »Ich-Maschine« hatte Distelmeyer noch »Von der Unmöglichkeit, Nein zu sagen, ohne sich umzubringen« gesungen. Er hat sich nicht umgebracht, sondern stattdessen auf das ausdrückliche Neinsagen verzichtet. Auf jeder nach 1995 erschienenen Platte waren noch ein bis zwei kritischere Lieder zu finden. Sie wollten auf den ersten Blick nicht so recht zu dem passen, was Blumfeld geworden waren. Stets gebrochen, kündeten etliche Lieder der Band noch immer vom Wissen um das eigene beschädigte Leben, dessen Zeuge man geworden war. Dies geschah aber nie sentimental, selbstgefällig, trotzig, trostspendend und ressentimentgeladen wie bei so vielen anderen deutschen Befindlichkeitskünstlern wie etwa Rosen­stolz. Der entscheidende Unterschied in der Musik und in den Texten zwischen dem neuen deutschen Befindlichkeitspop und Blumfeld schwand zusehends, aber natürlich nicht völlig.

Wie so viele große Kunst zeugt die Blumfelds von der Heftigkeit der Konfrontation zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Einen Kult der Innerlichkeit betrieben Distelmeyer und seine Band nie. Die Radikalität, die sich nicht zuletzt darin gezeigt hatte, eine schablonenhafte musikalische Formsprache nicht länger benutzen zu wollen, war aber irgendwann dahin. Doch einer der namhaften Spex-Chefideologen erfand glücklicherweise das Schlagwort von der »Subversion durch Überaffirmation«.

Es ist ja nichts dagegen zu sagen, eine Szene zu verlassen. Die Frage ist, was danach kommt. Der musikalische Songwriting-Konventionalismus, dem Blumfeld und der geläuterte Dissident Jochen Distelmeyer seit dem Ende der neunziger Jahre so demonstrativ und oft genug mit dem Hang zur Kontemplation frönten, erschien nicht nur als die Rückkehr der verlorenen Söhne in die Gesellschaft, sie war es auch. Was zuvor als »Indie« kategorisiert worden war, war nun tatsächlich Pop, war Gebrauchsmusik, war Schlager geworden. Nicht mehr zu hören waren die von Disharmonien durchsetzten Sonic-Youth-Gitarren, die auf Blumfelds ersten Platten dominiert hatten. Im Vordergrund stand immer öfter der Dur-Akkord, zumeist ein Anzeichen musikalischer Ideologieproduktion. Er wurde auch nicht mit Moll-Harmonien dialektisch konterkariert. Die Band streute vielmehr gezielt zweifelnde Akkorde ein, weder unbekümmert Dur noch sentimental Moll, und schuf so eine ganz eigene Ästhetik. Das war also diese vermeintliche Reife, dieses auffällige Abwenden vom musikalischen Manierismus. Möglicherweise hat die Band auf diese Weise sogar mehr Menschen nicht nur erreicht, sondern auch konfrontiert oder gar verändert. Viele kultisch verehrte Rockstars landen irgendwann im Drogensumpf. Distelmeyers Weg führte zum Opium der Alltagsreligion, die zwar nun nicht mehr zurückgewiesen, aber immerhin noch reflektiert wurde.

Die ersten beiden Platten kann man hören wie ein Manifest: »Ich-Maschine« und »L’Etat et Moi«. Hatte man sich auf ihnen noch, wie die Titel schon andeuten, in zermürbender und damit adäquater Weise mit dem sich inmitten der vorgefundenen Zustände selbst entfremdenden Subjekt auseinandergesetzt, so wurde nun, wenn nicht die Versöhnung, so doch eine deutliche Light-Version der Subjektkritik aufgetischt.

Ein Schreiber zog vor Jahren sogar den Vergleich, Blumfeld seien zu dem geworden, was in den siebziger Jahren schon Ton Steine Scherben gewesen seien: ein popkulturelles Identifikationsangebot auf der Höhe der Zeit, auf das sich alle einigen und das alle weiterhin für links halten konnten. Doch einstiges Rebellenliedgut wie »Allein machen sie dich ein« wird mittlerweile genauso gern von Rechtsradikalen gehört oder gecovert. Ob Blumfeld mit ihren reflektierteren Tönen solchen nicht ganz zufälligen Vereinnahmungen wirklich etwas entgegenzusetzen haben oder aber gleichfalls von unappetitlichen Kreisen übernommen werden, wird die Zeit zeigen.

Blumfeld haben es in den über 15 Jahren ihres Bestehens geschickt verstanden, immer im Gespräch zu bleiben. Die stilistische Grenz­aus­lotung, die ganz bewusst betrieben wurde, geriet zunehmend gewagter und wurde gerade dadurch erfolgreich. Nach den sehr guten und im besten Sinne anstrengenden Platten »Ich-Maschine« und »L’Etat et Moi« blieb es erst einmal fünf Jahre still. Der Name Blumfeld war auf dem besten Weg, das zu werden, was viele Musikkäufer »Kult« nennen.

Doch dann kam die dritte Platte »Old Nobody«, und man war schon recht irritiert, wie seicht und irreal versöhnlich auf einmal so manches klang. War das subtilere Dialektik oder ein Opportunismus des Angekommenseins? »Old Nobody« zeigte, dass der so genannte Diskurspop sich einer Antwort auf diese Frage gerne verweigert hätte. Warum gab es auf einmal so viele Dur-Harmonien auf der Platte? War das eine Diskursfinte? Ironie war bei der überwiegend guten Laune keine zu finden. Aber war nicht gerade das in der postmodernen Rezeptionshölle die wahre Ironie? » Die Fans sind gespalten angesichts der neuen Platte«, war allenthalben zu lesen. Oder: »Blumfeld geben der Welt Rätsel auf.«

Im Jahr 2001 dann, auf »Testament der Angst«, schien sich ein Richtungswechsel abzuzeichnen. Hier war, und das abermals irritierend, eine relativ ausgewogene Mischung aus zermürbenden Reflexionen und unbeschwerter Liebes- und Lebensfreude zu hören. Das Kuriosum schlechthin auf der Platte war folgendes: Im linken oder doch bloß konsumkritischen Poprocksong »Diktatur der Angepassten«, der ein ansonsten recht düsteres Bild der Realität zeichnete, wurde in der Bridge gesungen: »Gebt endlich auf/Es ist vorbei«. Das klang, als stünde die Revolution unmittelbar bevor und nur eine umzingelte Minderheit von Reaktionären wehrte sich noch. Ähnliches hörte man zwei Jahre später: »Ihr Sklaven in der Überzahl/wie lang noch wollt ihr leiden?« Als wenn sich davon irgendjemand angesprochen fühlte! Der gesellschaftlichen Hermetik und dem allgegenwärtigen Fetischismus wie ein Globalisierungsgegner ausgerechnet mit wohlmeinenden Appellen begegnen zu wollen, war ein bemerkenswerter Realitätsverlust. Oder war es doch nur ein weiterer, mächtig raffinierter, aber misslingen müssender Versuch einer »Subversion durch Überaffirmation«? Vielleicht aber auch eine Selbstinszenierung, die großen Worte eines verkannten Messias?

Dann gab es mit den beiden letzten Alben noch eine Neuauflage des Spielchens, bei dem man sich fragen musste, ob Blumfeld es ernst meinten. Auf dem Album »Jenseits von Jedem« von 2003 sind bedeutungsschwangere Titel wie »Krankheit als Weg«, »Wir sind frei«, »Jugend von heute« oder »Die Welt ist schön« zu hören, Ironie hin oder her. Selbst unbeirrbare Blumfeld-Fans wurden auf einmal leiser. »Verbotene Früchte« von 2006 schließlich wurde das, was seit den beargwöhnten Zeiten des Kunstrock ein Konzeptalbum genannt wird. Es geht in possierlicher Heinz-Sielmann-Sprache um ein Naturidyll, und es ist dem Schelm Distelmeyer offenbar ein großer Spaß, eine Platte gemacht zu haben, über die man wirklich nicht mehr bei Verstand schreiben oder streiten kann. Das einzige, was über sie zu sagen wäre, klingt angesichts der naiven Bildersprache der Platte verkopft, neurotisch, kleinlich, mindestens aber sehr humorlos. »Siehst du den Büffel und das Gnu am Ufer stehn?« Das ist entwaffnend. Man kann es nur noch zitieren. Distelmeyer, Freund der Geschöpfe, triumphiert als Gewinner des Spielchens.

Unvergessen bleibt mir ein Erlebnis beim Hören der »Politik-Info«-Sendung eines Alternativradios. Es mag vor zehn Jahren gewesen sein, noch vor »Old Nobody«. Es lief ein bemüht-reflektiertes Liedchen in deutscher Sprache, unterlegt mit grüblerischer Musik, insgesamt eher prätentiös als künstlerisch souverän. »Ungeschickte Blumfeld-Epigonen!« dachte ich mir und musste über die geklont wirkende Gymnasiastenlyrik schmunzeln. Nach ein paar Minuten und genauerem Hinhören wurde ich bleich: Es waren tatsächlich Blumfeld. Oh Schreck!

Dass dies kein Fehltritt, kein Ausrutscher war, zeigten immer deutlicher die späteren Platten der Band. Da wurde auf der naturromantischen letzten Platte schon mal »Arbeit« auf »Wahrheit« gereimt. Dort und anderswo zeigte sich, auch wenn manche sich noch so sehr mit vermeintlicher Ironie der richtigen »Rezeption« zu versichern trachteten, nichts weiter als ein Abgleiten in die Lebensphilosophie. Am Jargon der Eigentlichkeit schrammten Blumfeld nicht mehr nur vorbei: »Er ließ Gott gewähren und atmete in seinen Schmerz.« Distelmeyer versprühte in solchen Momenten den hölzernen Charme eines anthroposophischen Bänkelsängers. Ein Kritiker schrieb gar von einem norddeutschen Protestantismus, den er mit der kantigen Art des Exil-Ostwestfalen Distelmeyer verbinde. Hatten Talk Talk in den achziger Jahren Titel wie »Life’s what you make it« gesungen, so verbreitete er nun dieselbe Botschaft anfangs verdruckster, später ganz unverhohlen: »Es gibt kein Müssen und kein Soll’n.«

Ein Ärgernis war es und geradezu verstörend, dass nun gerade dieser ideologisch-vitalistische Aspekt die Stärke der Band, ihres Schreibers und Sängers mit der sympathischen hellen Stimme ausmachen sollte. Manche Poptheoretiker sagen, so wie bei Distelmeyer »funktioniere« Poesie eben. Und auch Musik sei doch nicht Musik, wenn ihr nicht Leben innewohnen würde. Wer macht nicht immer wieder die Erfahrung, dass »das Leben« alle möglichen Stimmungen und Launen für einen bereit hält? Wer würde schon gern Musik hören, die kein offenes Bild der Welt bietet, sondern es nur mehr kritisch-philosophisch zerfasert? Wer wäre schon in der Lage, dem spätbürgerlichen Subjekt die existenzialistische Illusion seiner Autonomie zu nehmen und gleichzeitig Pop zu sein? In diesem Sinn: »Alles macht weiter.« Blumfeld nicht.