Lob der Provinz

Die Republik ist voller bezaubernder, in der Regel unterschätzter Orte und Landstriche. Lassen Sie sich in einige entführen, genießen Sie ihre Menschen, Mythen und Mundarten.

Schrrrrrmmmmm

In einer Gegend im Schwabenland, in der die Orte zu Recht Namen tragen wie »Zweif­lingen« oder »Flehingen«, ist eine Ortschaft gelegen, deren verborgene Schönheiten noch zu entdecken sind: Kirchhausen heißt der Landstrich, in dem 3 842 Einwohner vor sich hinsterben. Friedlich reiht sich Ein- an Zweifamilienhaus. Die Garagen, in denen Karossen aus Stuttgart stehen, sind geheiligte Orte. Mein Haus, mein Auto, meine Frau. Zierteiche, Vorgärten, Marienstatuen am Wegesrand. Ordnung ist das halbe Leben, die andere Hälfte besteht aus Arbeit.

Kinder wachsen auch dort auf, ihren Erzeugern wie aus dem Gesicht geschnitten, aus dem die immergleiche pausbäckige Unbedarftheit und Indolenz strahlt, Ergebnis jahrhundertelanger inzestuöser Fortpflanzungspraxis. Wenn sie erwachsen sind, werden sie Versicherungskaufmann oder Bäckereifachverkäuferin und zeugen Kinder, die ihnen aus dem Gesicht geschnitten sind. So geht alles seinen Gang.

Am Horizont ein Wäldchen. Aus der Ferne, bei geöffnetem Fenster sich dem hingebungsvoll Lauschenden ins Ohr schmeichelnd, erklingt das zarte, beständige Grund­rauschen der nahe am Ort vorbeiführenden Autobahn. Schrrrrrrmmmmm. Schrrrrrmmmmm. Die verstörende Zivilisation, sie ist weit entfernt, und nimmermehr wird sie hierher kommen.

Die Ortschaft liegt zwischen öden Getreide- und Kartoffelfeldern. Hier wird nicht nur gearbeitet, hier schafft man unentwegt. Vorgärten umgraben, Zäune errichten, Hecken stutzen, Häusle bauen. Aggressives Nichtstun, offensives Herumstehen auf der Straße und anderer Schlendrian sind hier nicht gern gesehen. Wer keinen Rasen zu mähen, kein Auto zu waschen oder nicht wenigstens einen Hund auszuführen hat, kann als verdächtig gelten.

Milder, unverkrampfter Rassismus, der allüberall still waltet: »Von denne Ausländer hamma scho’ g’nug, gell? Die solle’ fortbleibe’. Mir ganget ja au’ net nach Afrika.« Einverständiges Kopfnicken und rotwangige Heiterkeit. Am Abend schlägt sanft die Kirchturmuhr. Ein Viertele Trollinger zum Schinkenlandbrot. Zeit für die Tagesschau, danach sieht man sich »Aktenzeichen XY ungelöst« an.

»Denn jeder hat was zu schützen … « lautet der Slogan einer hier ansässigen Firma für Sicherheitssysteme, Alarmanlagen und Videofernüberwachung.

thomas blum

Ohne viele Worte

Im Siegerland sind die Berge keineswegs zahlreicher oder höher als in anderen Mittelgebirgen, sie stehen bloß dichter zusammen. Auch zwischen den Häusern ist kaum Platz. Denn wegen der diversen Anbauten und Eigenheime im Garten oder Vorgarten, die im Laufe der Jahre für die Sprösslinge und ihre Familien an und um die ursprünglichen Gebäude gezimmert wurden, sind die Grundstücke randvoll.

Weil die Luft zum Atmen aus den genannten Grün­den knapp ist, geht man besonders sorgsam damit um. Die Siegerländer haben sich eine Luft sparende Sprechtechnik angeeignet, die ihre Stimmen deutlich tiefer und ein wenig ruppiger klingen lässt. Sie haben endemische Sparlaute entwickelt, zum Beispiel einen, der »a« und »o« zugleich ist, sowie eine Hand voll Universalwörter, von denen jedes nach wissenschaftlichen Erkenntnissen mindestens 7 000 verschiedene Bedeutungen haben kann und eine Unterhaltung von wenigstens 22 Minuten vollständig ersetzt. Weil die Siegerländer nicht so viel quasseln, ist die Gegend angenehm ruhig.

Begegnen sich etwa zwei gute Bekannte, die sich länger nicht gesehen haben, so nicken sie einander mit einem angedeuteten Lächeln zu und schweigen erst einmal eine Weile.

Siegerländer 1: »Un’?«

Siegerländer 2: »Hö-öh.«

Siegerländer 1: »Ennääh, woa?«

Siegerländer 2: »Enjoh.«

Eine weitere kleine Pause entsteht, in der beide Personen von Zeit zu Zeit mit dem Kopf nicken oder den Kopf schütteln.

Siegerländer 1: »Hö-öh. ’Njoh. Nodda.«

Siegerländer 2: »Nodda.«

Die Übersetzung aus dem Siegerländer Platt ins Hochdeutsche kann hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden. Stellen Sie sich eine etwa dreistündige Unterhaltung vor, in der es nach dem großen Hallo um Tennisarme und Bluthochdruck geht, um das von Westen heranziehende Regentief, um die Trunkenheit der Gattin des Vereinsvorsitzenden beim Gauturnfest, um die Preise von Rasenmähern, die Verspätung des Bürgerbusses, um die Qualität der frisch geernteten Kartoffeln, den Konkurs der Firma Flender & Söhne, um das Fernsehprogramm, Kunst, Politik und Philosophie.

regina stötzel

Die Metropole der Freibeuter

»Was haben die Autonomen jetzt wieder vor?« frag­ten sich die friedensbewegten Demonstranten entsetzt, als sie unsere Flugblätter sahen. Doch die Überschrift »Um fünf Uhr werden die Wachen gestürmt« war keine Aufforderung, sondern eine Erinnerung an den 60. Jahrestag des Hamburger Aufstands von 1923.

Alle Hamburger Linken sind Lokalpatrioten und pflegen den Mythos vom »roten Hamburg«. Ja, es ist ein Mythos, beispielsweise waren die Hamburger 1923 nicht von besonderer revolutionärer Ener­gie erfüllt. Die Nachricht, dass die KPD-Führung den Aufstand abgesagt hatte, war nicht rechtzeitig eingetroffen. Aber wen interessiert’s? Im sozialis­tischen Städtewettbewerb geht es nicht um banale Fakten, vielmehr will man einander zu subversiven Höchstleistungen anspornen.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hamburg immer die Nase vorn hatte. Mögen die Berliner sich am schalen Ruhm ihrer Plünderungen am 1. Mai 1987 erfreuen. Wir gingen damals täglich zum proletarischen Einkauf, und nachdem die Polizei bei der unter dem Namen »Jahresendabrechnung« bekannten Demonstration im Dezember 1986 ihre Lektion gelernt hatte, wagte sie es gar nicht erst, im November 1987 die Hafenstraße anzugreifen.

Übrigens war die Hamburger Linke im eigentlichen Sinne des Wortes antideutsch, bevor es den Begriff überhaupt gab. »Altona muss zurück an Dänemark«, war lange Zeit eine zentrale Forderung. Die Pfeffersäcke haben unsere Unabhängigkeit an Bismarck verkauft, doch in Wahrheit gehört Hamburg gar nicht zu Deutschland. Deshalb konnte sich Hamburg auch zur Weltstadt entwickeln, was in Deutschland ja eigentlich unmöglich ist.

Mit der Ära der Likedeeler (Gleichteiler) um 1400 begann die stolze Hamburger Tradition der Piraterie und des Aufstands: weltoffen, egalitär, keine Grenze und keine Autorität respektierend. Deshalb sind sogar die Walddörfer und das Hamburger Umland, wo 1923 die Sowjet­republik Storman gegründet wurde, metropolitaner als Berlin, wo der Stumpfsinn des Rübenbauern mit dem Militarismus des preußischen Beamten verschmolzen ist und man für Urbanität hält, was nur räumliche Enge ist.

jörn schulz

Wo der europäische Gedanke wurzelt

Herzogenrath, nahe Aachen gelegen und mit vielen, vielen Vorgärten ausgestattet, ist so kosmopolitisch, wie es ein seit rund 1 000 Jahren mit Stadtrechten und seit wenigen Jahrzehnten mit der vorschriftsmäßigen Fußgängerzone, Dönerbuden und einem Hallen­schwimm­bad ausgestattetes Nest nur sein kann. Herzogenrath, dessen Stadtteile exotische Namen wie Bierstraß, Maubach und Feld tragen, liegt nämlich gleich an der Grenze zu den Niederlanden, neben Kerkrade, und natürlich lernt jeder, der dort aufwächst, automatisch zwei Sprachen. Die beiden nestigen Städtchen bildeten schließlich, bis sie vom Wiener Kongress geteilt wurden, den Ort »’s Hertogenrode«.

Abfinden wollten sich die Grenzstädter mit dieser Teilung, die noch in den sechziger Jahren durch einen Stacheldrahtzaun mit Postenhäuschen manifestiert wurde, jedoch nicht. Gemeinsam ging man seinem jeweiligen Nationalstaat so lange auf die Nerven, bis die Grenzanlagen Ende der sechziger Jahre zunächst durch ein kniehohes Mäuerchen ersetzt wurden, das die niederländische Nieuwstraat von der deutschen Neustraße trennte, mittlerweile ist die Grenze komplett abgebaut.

Darauf ist man noch immer sehr stolz in Herzogenrath und Kerkrade, der europäische Gedanke, so betonen die jeweiligen Würdenträger nicht nur bei offiziellen Anlässen immer wieder gern, sei in den Grenzstädtern tief verwurzelt.

Bedauerlicherweise ist dies auch der Dialekt, der die Leute eint. Für Außen­stehende kaum verständlich, besteht er aus einem Konglomerat aus Nieder­ländisch und Aachener Platt, am formvollendetsten dargeboten vom Personal der leider mittlerweile verblichenen Kerkrader Videothek »Anna«, lange Jahre der bevorzugte Ort für Deutsche, die Videofilme lieber im Original oder Sexfilmchen gucken wollten. Die Betreiber des Geschäfts verfuhren mit der Einordnung ihrer Ware äußerst großzügig, so dass vermutlich eine ganze Generation Herzogenrather Männer Pasolinis »Bett der Gewalt« gesehen hat, denn natürlich war die Video­kassette unter der Rubrik Porno eingestellt.

Irgendwann ging »Anna« pleite und wurde ein Coffeeshop, die Herzogenrather bekamen eigene Videotheken, und dann reichte es auch mit dem Leben in der Provinz.

elke wittich

Erschaffen aus Ödnis

Vielfach wird behauptet, eine betriebsame Umgebung fördere den Einfallsreichtum. Der Würzburger legt Zeugnis ab vom Gegenteil. Er lebt an einem schnarchfaden Ort. Schon in jungen Jahren ist er nach nicht allzu vielen Besuchen der wenigen örtlichen Tanzlokalitäten schnell überdrüssig. Er muss das Wochenende aus eigener, schöpferischer Kraft heraus bestreiten. So stürzt er sich zum Beispiel des Nachts von einer der Brücken in den Main, in diese trübe, braune Brühe, und jauchzt dabei, als nehme er ein Bad in Milch und Honig. Er gewährt Trampern ein Plätzchen im Wagen, um die verdutzten Gestalten unter einem teuflischen Lachen an den entlegensten Ecken der Stadt abzusetzen. Er begibt sich mit Freunden in die umliegenden Käffer, prügelt sich mit den Dorfstiernacken und macht ihren Freundinnen Avancen. Und wenn sich rein gar nichts ereignen möchte, stiehlt der Heranwachsende mit Brecheisen und allerlei anderen Werkzeugen ausgestattet Zigarettenautomaten von Häuserwänden.

Im fortgeschrittenen Alter treibt es der Würzburger nicht mehr so wild. Er ist aber nicht minder rührig. So denkt er sich Beinamen für seine Stadt aus. Mal heißt Würzburg »Europastadt«, ein anderes Mal »Universitätsstadt«, aber auch die »Perle am Main« oder das »Weinfass an der Autobahn«. Auch der erwachsene Unterfranke wendet erheblichen Einfallsreichtum auf, die ihn umgebende Langeweile zu bezwingen. Gern feiert er Bier-, Wein- oder Bratwurstfeste. Noch der hinterletzte katholische Aushilfsheilige ist gut genug, sich ihm zu Ehren ins Delirium zu saufen.

Doch nicht nur aus feierlichem Anlass kommt der Erfindergeist zum Tragen. Er färbt den Alltag, der in Würzburg noch grauer ist als anderswo, quietschbunt ein. So heißt ein Sexshop »Fachgeschäft für Ehe­hygiene« und ein China-Restaurant »Mainkuh«. Welcher kosmo- und metropolitische Großstädter wäre zu derlei Schöpfungen fähig? Keiner! Denn nur in der Langeweile der Provinz regt sich der kreative Geist des Lebens.

markus ströhlein