Die Choreografie des Eiertanzes

Ein bisschen fordern, was eh alle wollen, und der widerlichsten SPD aller Zeiten an den Karren fahren – ein Aufbruch ist etwas anderes, aber für Die Linke gibt es trotzdem etwas zu tun. Ein paar gemischte Aussichten für die neueste USPD und ihre FreundInnen. von dietmar dath

Zu den bescheuertsten Unzulänglichkeiten der Deutschen gehört ihr Hang, linke Organisationen unbedingt später zu gründen als gerade noch vertretbar. Der beschwerliche Weg des Genossen Karl Liebknecht von den Rockschößen der Sozialdemokratie zum Parteikommunismus hat die Erdrosselung der deutschen Revolution durch Ebert und Konsorten entscheidend mitbegünstigt. Die SED, also eine von Moskau angeordnete Zwangsehe von KPD und SPD, hätte man spätestens 1930 dringend gebraucht. Und selbst die RAF wäre 1936 eine nützliche Idee gewesen (über die Katastrophe ihres Bestehens zu einem späteren Zeitpunkt ist damit kein Wort zuviel gesagt; dass sie jedenfalls nicht besonders nützlich war, geben inzwischen so gut wie alle RAF-Alumni zu). Wenn es gegen Rechts geht, wird hierzulande gequasselt, gegrübelt, getrödelt, bis der Zug abgefahren ist. Und gerade in Situationen, in denen nur das Ergebnis zählt, nicht die Haltungsnote, stellt man sich an, als sei das schöne Scheitern eine politische, keine (übrigens weißgott fragwürdige) moralisch-ästhetische Kategorie.

Dass sich die hiesigen bürgerlichen, adligen, kirchlichen und sonstigen Kraut- und-Rüben-Eliten beim gelegentlichen Scharmützel mit komplett wahnsinnigen Ultrarechten eher noch traniger anstellen als die sozialistischen und links­anarchistischen SystemfeindInnen (wer denkt nicht gern an jene Edelmenschen, die schon im Juli 1944 auf den glorreichen Gedanken kamen, Hitler sei eventuell allmählich durch Vertreter einer eher gemäßigten Herrenvolkslinie zu ersetzen), ist dabei ein arg kümmerlicher Trost für letztgenannte.

Jetzt, im Sommer 2007, das heißt eine (unter halbwegs vernünftigen tagestaktischen Gesichtspunkten beurteilt) ganz verteufelt lange, laange, laaange Zeit nach der DDR-Beseitigung, der Asylrechtsabschaffung und der weitgehenden Liquidierung aller staatlich-altbundesrepublikanischen Verelendungsbremsen, haben wir also endlich eine leidlich bundesweit interventionsfähige Partei beisammen, welche Die Linke heißt.

Sie tritt erstens praktisch das Erbe der 1917 gegründeten, 1931 aufgelösten USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) an, die seinerzeit mehr oder weniger zur Vereitelung galoppierender sozialer Desintegration mittels aufrecht reformistischer Politik zusammenfand. Im Manifest ihres Gründungsparteitags vom 6. bis 8. April 1917 beschwerte sie sich wacker übers Unvermögen der SPD, Kriege zu verhindern oder wenigstens abzukürzen, und schimpfte auf einen frühen Testlauf des Modells Hartz IV: »Die elementarsten Rechte, das Recht auf Freizügigkeit und Freiheit der Berufswahl, haben die Regierungssozialisten (…) selbst preisgegeben, indem sie dem Hilfsdienstgesetz ihre Zustimmung gaben und bei seiner Durchführung ihre Unterstützung gewährten.«

Über die rein palliativen Funktionen der neuen USPD hinaus, solchen »regierungssozialistischen« Schweinereien in die Parade zu fahren (d.h. Kinder von Verkäuferinnen an die Uni zu hieven, ärmeren MigrantInnen eine halbwegs menschenwürdige Existenz und etwas Rechtsbeistand zu sichern, Massenentlassungen zu, naja, regulieren, die Schließung der letzten kommunalen Jugendzentren aufzuschieben, Todkranke vor der Müllkippe zu bewahren und den Reichsarbeitsdienst zu sabotieren), jenseits also von Aufgaben, welche Die Linke schon erfüllt, wenn sie bloß der widerlichsten SPD aller Zeiten (und das heißt wirklich viel) Angst macht, steht sie zweitens programmatisch ungefähr an dem Punkt, an dem Marx (Stichwort: »Kritik des Gothaer Programms«) die klassische deutsche Sozialdemokratie zu verfluchen begann.

Soll heißen: Man fordert ein bisschen, was eh alle wollen, die nicht zum dünnen Zuckerguss der besitzenden Klasse gehören. Wenn Springers Welt sich mopsig macht: »Die Mehrheit der Deutschen denkt wie Lafontaine«, dann bezieht sich das auf banale Umfragen, denen zufolge diese Deutschen neuesterdings immerhin wissen, dass man im Krieg leichter sterben kann als sonst und ohne soziales Netz nicht mal krank werden sollte.

Mehr ist nicht dran. Das Gelalle darüber, Lafontaine und Bisky stellten »die Systemfrage«, ist schon deshalb gegenstandslos, weil man dieselbe, wenn sie denn wirklich einmal wieder gestellt würde, in Kasernen, Fernsehanstalten, Fa­briken, auf den Gleisen, in den Universitäten, bei den Energieversorgern und auf der Straße stellen müsste, also an Orten, wo die neue Partei einstweilen eher marginale Präsenz zeigt (selbst wenn mal gegen ein G8-Treffen die Trillerpfeife ausgepackt wird).

Der Lärm, den die systemtreuen Meinungs­trottel schlagen, hat folglich eher nichts mit einem ominösen »linken Aufbruch« zu schaffen, dafür aber alles mit der Angst dieser Figuren davor, es möchte, 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, plötzlich auch in Deutschland (wie in Italien, Frankreich und anderen piefnormalen bürgerlichen Krisenmassendemokratien Europas) ein Verein existieren, der mit dem demagogischen Heuschreckengrusel, den inzwischen auch Müntefering und Beck draufhaben, halbwegs ernst gemeinte reformistische Anliegen verbindet. Wie, was, die schöne Berliner Galarepublik soll schon wieder zu Ende sein? Die neue Mitte gar tot? Das kümmert nun wirklich nur verwirrte MedienstricherInnen in Großberlin (inkl. Hamburg und Köln, bis zu den allfälligen Umzügen).

Dass der Saarländer kein Friedrich Engels ist und von ihm verfasste Werke wie »Das Herz schlägt links« oder »Die Wut wächst« nicht geeignet sind, »Staat und Revolution« oder »Die Verdammten dieser Erde« zu ersetzen, ist eine schöne Binse, aus der keinerlei handlungsleitende Idee folgt. Man muss ihm halt von links so lästig werden wie möglich; falls man sich’s leisten kann und Aussicht auf Gehör hat (aber wenn man schon aus der ewigen Not aller Intellektuellen, der direkt politischen Praxis aus Arbeitsteilungsgründen entsagen zu müssen, eine Tugend macht, dann bitte auf angemessenem zeitanalytischen und landeskundlichen Niveau statt im Namen irgendwelcher die eigene Ohnmacht schöndenkender Schutzzaubersprüche zwischen rrradikaler Wertkritik und Viereinhalbter Internationale).

Aufgrund biografischer Zufälle, für die ich nicht das Geringste getan habe und die vielleicht bei einem deutschen Publizisten mit meinen Neigungen und in meinem Alter (Jahrgang 1970) gerade deshalb einigermaßen typisch sind, kenne ich ein paar Leute, die sich in Freiburg, Frankfurt, Berlin und Bremen über die Bremer Wahlnacht vom Sonntag, dem 13. Mai, nicht bloß so ganz allgemein, im hohlen Hochgefühl von irgendetwas aufgeblasen Historischem oder wegen der schieren Überraschung, gefreut haben, sondern weil sie an dem dort erzielten Ergebnis mittelbar oder unmittelbar tatsächlich mitgewirkt hatten.

Es sind gescheite, einnehmende und tüchtige Individuen, die sich von keinem kritischen Dünkel aus den gottlosen Provinzen der hiesigen Politgeographie irgendetwas am Zeug flicken lassen müssen. Man verliere ihresgleichen nicht aus den Augen, wenn man sich ein Urteil darüber bilden will, was gerade los ist und was noch zu tun bleibt.

Die Choreographie für den anstehenden Eiertanz ist bekannt: Die SPD (von der wir, ceterum censeo, nicht vergessen sollten, wozu es sie gibt, Kriegskredite, Berufsverbote, Stammheimer Prozesse, Nato-Doppelbeschluss, erster Bundeswehreinsatz im Ausland nach 1945 usw. usf. etc. pp.) ist aufgefordert, Die Linke teils propagandistisch abzuwatschen, teils zu Neutralisierungszwecken in regionalen Koalitionen langsam aufzureiben; während umgekehrt Die Linke von der Tolerierung bis zur Kohabitation versuchen wird und muss, so viele von ihren maßvoll humanen Etappenzielen durchzudrücken, wie überhaupt nur möglich, ohne dabei an der Mitmachbörse mehr von diesen Etappenzielen preiszugeben als zum Zweck der Verzögerung des wegen sonst unvermeidlichen Wählerschwunds eintretenden Absinkens in die Bedeutungslosigkeit bewahrt werden müssen.

Die Original-USPD verteilte nach recht ähnlichen Vorgängen kurz vor der Auflösung ihre wertvollsten Aktiven auf die KPD und die SPD. Wohin die wackeren ReformistInnen diesmal gehen werden, ist klar, aber wenn’s am Stichtag dann doch auch einen flugtüchtigen Kampfstern gäbe, auf dem die ExtremistInnen landen können, wäre das, wenn ich mir hier mal was wünschen darf, schon schön (und von den Deutschen vermutlich, siehe oben, wie immer zu viel verlangt).

Bis dahin lohnt die Frage: Gibt es für Leute, die außer dem Kitzel des Rechthabens auch mal die unverächtliche Funktionslust wirksamer Betätigung erleben wollen, derzeit überhaupt einen löblicheren Vorsatz als den, in naher Zukunft wegen Linksabweichung aus einer bis dahin in möglichst vielen Verteidigungsausschüssen, parlamentarischen Untersuchungskommissionen und Rundfunkräten vertretenen Linkspartei geschmissen zu werden?