Eyes on the City

Großbritannien ist das am stärksten video­überwachte Land Europas. Ob Über­­wachungs­kameras so genanntes anti­social behaviour, Straßenkriminalität oder Terror­attentate verhindern können, ist höchst umstritten. In den No-Go-Areas der britischen Hauptstadt hat die allgegenwärtige Videoüberwachung eher eine psychologische Funktion: Sie soll die »gefühlte Sicherheit« der Bürgerinnen und Bürger erhöhen. von fabian frenzel, london

Die Adresse lautet Canonbury Square. Der ovale Park, mit englischem Rasen und englischen Rosen geschmückt, ist von renovierten viktorianischen Stadthäusern umgeben, die Straße ist kaum befahren, geparkt stehen hier ansehnliche Automodelle, die den ansehnlichen Häuserpreisen dieser Gegend entsprechen. In diesem Teil von Islington, im Norden Londons, ist es ruhig, und die Atmosphäre wirkt beinahe etwas dörflich. Ich frage einen älteren Passanten, ob er wisse, wo die Nummer 27a ist. »Drüben«, sagt er und zeigt auf die andere Seite des Platzes. In diesem Haus hat George Orwell gewohnt. »Da hängt eine Tafel dran, aber das ist auch schon alles. Reingehen können Sie da nicht.« Ob viele Leute herkommen, um das Haus zu sehen, weiß der Mann nicht, »aber Sie sehen ja, hier ist kaum was los«.

Er geht weiter, bevor ich ihn nach Orwells Büchern fragen kann, ob er sie gelesen hat, vor allem »1984«. Und ob er von den sprechenden Kameras gehört hat, die nach einer erfolgreichen Testreihe in der nordenglischen Stadt Middlesbourogh jetzt im ganzen Land eingeführt werden sollen. Oder von der Software, die derzeit in Luton getestet wird. Sie vermag Aufnahmen von Überwachungskameras automatisch nach verdächtigen Bewegungsmustern und Kleidungsstücken zu analysieren, sagt die lokale Polizei. Wenn jemand eine auffällig lange Zeit vor einem Geschäft steht und dann vielleicht auch noch einen Kapuzenpulli trägt, schlägt die Software Alarm, und die Kamera zoomt den Verdächtigen heran, um bessere Aufnahmen zu bekommen.

An Orwells ehemaligem Wohnhaus angekommen, möchte ich herausfinden, ob mein Verhalten als Tourist, der im am dichtesten überwachten Stadtteil Londons Fotos macht, für die Kiezbeobachter, für die Augen hinter den Kameras, bereits als »auffällig« eingestuft wird. Am Ort zu bleiben und aus verschiedenen Perspektiven Fotos zu machen, scheint jedoch nicht die richtige Methode zu sein, um die Aufmerksamkeit von Anwohnern oder von Sicherheitsbeamten zu erregen.

32 Closed Circuit Televisions (CCTV) befinden sich, dem Evening Standard zufolge, im Umkreis von 500 Metern um Orwells ehemalige Wohnung. 24 Stunden am Tag filmen die Überwachungsanlagen eines Tagungszentrums in der unmittelbaren Nachbarschaft ein Fenster der ehemaligen Wohnung Orwells. Der kleine Park in der Mitte der Straße wird von einer Verkehrskamera überwacht. Auch einige private Häuser haben Kameras installiert. Großbritannien ist das Land der Überwachungssuperlative. Bei der letzten Schätzung lag die Anzahl der CCTV bei 4,2 Mil­lionen, rund ein Fünftel aller weltweit installierten Über­wachungsanlagen, durchschnittlich kommt in Großbritannien auf 14 Personen eine Kamera.

Veröffentlicht wurde die Studie im Januar 2004 von Clive Norris, Professor für Kriminologie an der Universität Sheffield. Er hatte damals auch kalkuliert, dass man in britischen Städten täglich bis zu 300 Mal gefilmt wird. In den vergangenen dreieinhalb Jahren ist es nicht weniger geworden. Doch neuere Studien gibt es nicht, und auch keine offiziellen Zahlen. Nach Umfragen finden 70 bis 90 Prozent der Briten CCTV schlicht und einfach gut. In keinem Land der Welt gibt es so viel Zustimmung. Wenig überraschend ist es dann auch, dass Überwachungstechnologien hier am weitesten fortgeschritten sind, dass ständig neue Produkte entwickelt werden. Die automatische Gesichtserkennung sowie Kameras zur Überwachung des richtigen Recycling-Verhaltens wur­den in Großbritannien zuerst getestet. In Cambridge können Bürger, die etwas »Verdächtiges« auf der Straße beobachten, den Leuten im Kame­ra­kontrollraum eine SMS schreiben, in der benachbarten Stadt Peterborough veröffentlicht die Polizei regelmäßig Videostills von Menschen, die Abfall auf die Straße werfen.

Wieso sind ausgerechnet die Briten, die auf ihre angebliche liberale Tradition stolz sind, die keine Meldepflicht und bisher auch keine Ausweispflicht gegenüber der Polizei kennen, so auf Über­wachung versessen?

An Orwells Haus kommt kein Passant vorbei, den ich zu Orwells Dystopie fragen kann. Plötzlich allerdings fährt ein kleines Auto vorüber, eine lange Antenne ragt aus dem Dach, an deren oberem Ende eine Kamera befestigt ist. Es handelt sich, der Aufschrift zufolge, um ein mobiles Über­wachungsfahrzeug des Bezirksamtes Islington, möglicherweise auf der Jagd nach Parksündern oder vielleicht auf dem Weg zu einem Platz, wo es keine festen Überwachungskameras gibt. Isling­ton ist ganz vorne mit dabei, wenn es um Kameraüberwachung geht. Der kleinste Londoner Bezirk besteht nicht nur aus schicken Strassen, wie hier am Canonbury Square. Kaum 500 Meter entfernt, gleich hinter der U-Bahn Station Highbury Islington beginnt die Holloway Road. Eine außergewöhnlich hohe Kriminalität hat die Straße in den vergangenen Jahren immer wieder in die Schlagzeilen gebracht. Morde, Üerfälle mit Messern, Ladendiebstähle und Hauseinbrüche sind in den Polizeistatistiken verzeichnet. Die Kameraüberwachung ist entsprechend. Der erste Abschnitt dieser Durchgangsstraße bis hinauf zur Islington-Bibliothek wurde erst kürzlich von der Daily Mail als »Big Brother Street« bezeichnet. Nirgends sonst in der Hauptstadt, so das Boulevardblatt, gebe es so viele Kameras an einem Stück. Insgesamt 102 Kameras sind hier auf einer Strecke von drei Kilometern aufgereiht, zusätzlich gibt es noch sieben Kameras zur Verkehrs­überwachung. Auf einer Strecke von 600 Metern befinden sich an 25 Stellen Überwachungskameras.

In der U-Bahn-Station Highbury Islington fällt die Überwachungsanlage der Bahnpolizei gleich ins Auge. In einer Phänomenologie der Kameras sind die der Polizei in Großbritannien immer beeindruckend. Zum Beispiel die auf den Straßen und Autobahnen zur Verkehrs- und Nummernschildüberwachung. Städtische Kameras sind meist kleiner und weniger prominent angebracht. Private Betreiber bieten eher kleinere Modelle an, und in manchen Eckläden lässt sich von der Art der Anlage bereits vermuten, dass es mehr um eine abschreckende Wirkung als um tatsächliche Überwachung geht. Doch die Polizeikamera in der U-Bahn-Station Highbury Islington ist groß und sieht sehr modern und bedrohlich aus, sie kann sich bewegen und ragt quasi warnend in den Eingang des Bahnhofs hinein. Ich stehe eine Weile da und mache Fotos, als plötzlich ein Mann aus einer Hintertür der Station tritt. Er schaut sich um und sein Blick wandert auch, quasi beiläufig, zu mir. Dann geht er in meine Richtung, und ich hoffe bereits auf seine Frage, warum ich denn Fotos von der Sta­tion mache. Doch anschei­nend bin ich auch hier nicht auffällig geworden. Was muss man denn noch tun?

Wenige Meter vom schicken Canonbury Square entfernt steigt man auf Londons sozialer Leiter mehrere Stufen ab. Auf beiden Straßenseiten der Holloway Road befinden sich, nach dem man eini­ge Lagerhäuser passiert hat, vornehmlich schmucklose und heruntergekommene zweistöckige Häuser. In den Ladenlokalen sind kleine Lebensmittelläden, Wettstuben und Imbisse untergebracht, viele sind ungenutzt und zugenagelt. In Islington hatte sich der Bezirk zunächst gewehrt, Geld für Überwachung auszugeben. Man berief sich auf Statistiken aus verschiedenen britischen Städten, nach denen die Kameras nicht unbedingt dazu führten, dass die Kriminalität zurückging. Als im Sommer 2005 ein Mann auf der Holloway Road in einem Bus erstochen wurde, hieß es in den Medien, der Bezirk weigere sich, Kameras einzuführen. Sofort beschloss man im Rat, der Polizei bei der Finanzierung von mobilen Überwachungsbussen unter die Arme zu greifen. Und auch Straßenkameras wurden aufgestellt. Doch bereits damals ging es dabei eher um Psychologie: »Wir erkennen an, dass CCTV den Menschen das Gefühl von Sicherheit geben, und wir wollen die Technik benutzen, wo sie dem Stadtteil hilft«, erklärte Jyoti Vaja, Abgeordneter in Islingtons Stadtparlament. Zweieinhalb Jahre später, im Juni 2007, starb in der Holloway Road ein Mensch nach einer Messerstecherei, nach einem Polizeibericht sind in der »Big Brother Street« im vergangenen halben Jahr 430 Vergehen began­gen worden, darunter 29 Fälle von Körperverletzung, 15 Fälle von Raub und 25 von Diebstahl.

Die Frage, ob die Kameras helfen, die Zahl der Verbrechen zu reduzieren, bleibt politisch sowie kriminologisch ungeklärt. Cleve Norris, der zum Thema Überwachung viel geforscht und geschrie­ben hat, rechnete in seiner Studie aus, dass in Großbritannien von 1992 bis 2002 drei Milliarden Pfund für Überwachungsanlagen ausgegeben wurden, wobei die Kosten zur Auswertung der Daten in seiner Rechnung nicht mal berücksichtigt sind. Ein großer Teil des Geldes kommt vom Steuerzahler. Norris weist nüchtern darauf hin, dass die Studien zur Wirksamkeit von CCTV, die bisher zu sehr widersprüchlichen Ergebnissen gekommen sind, solche hohen Investitionen nicht rechtfertigen.

1994 hatte die Entführung und der anschließende Mord am zweijährigen Jamie Bulger durch Videoaufnahmen zwar nicht verhindert werden können, die grauen und grobkörnigen Bilder von den beiden jugendlichen Tätern trugen jedoch dazu bei, das Verbrechen aufzuklären, und schrie­ben sich in das Bewusstsein des britischen Fernsehpublikums ein. In der Folge waren Kritiker des beginnenden rasanten Ausbaus der Video­überwachung kaum mehr zu vernehmen.

Auch die Selbstmordattentäter vom 7. Juli 2005 bekamen posthum ein Gesicht dank CCTV-Bildern. Diese konnten das Verbrechen zwar nicht verhindern, doch sie verschafften der britischen und weltweiten Öffentlichkeit Aufnahmen, die bis heute zirkulieren und die ein wichtiger Bestandteil der Erinnerung an die Anschläge sind. Die 6 000 Kameras, die im Londoner Underground installiert sind, versagten aber scheinbar kurz nach den Attentaten, als im Juli 2005 der Brasilianer Jean Charles de Menezes in der U-Bahn-Station Stockwell von Polizisten erschossen wurde, weil sie ihn fälschlicherweise für einen Terroristen hielten. Bis heute gibt es dazu keine Bilder. Die Polizei hatte zunächst behauptet, es gebe keine Videoaufnahmen von der Tat wegen »technischer Probleme«. Später aber gelangte ein Videostill des erschossenen Menezes an die Öffentlichkeit und deutete auf Vertuschungsversuche der Polizei. Gesehen hat man die Aufnahmen von seiner Erschießung immer noch nicht.

Der Pub »Coronet« in einem alten Kino, großräumig und mit sehr gemütlichen Sitzen, liegt auf der Holloway Road. Hier bin ich mit David Vannen verabredet. Er ist ein Mitglied der »Space Hijackers«, einer Gruppe von Londoner Performance-Aktivisten. Ich möchte wissen, ob er sich von Kameras provoziert fühlt und was er und seine Gruppe dagegen machen.

Er erzählt, dass er gerade mit der deutschen Initiative gegen Überwachung, »Leipziger Kamera«, kritische Interventionen gegen Video­überwachung in Leipzig ausprobiert hat. Und in Großbritannien? Er lacht: »Bisher haben wir hier nichts Konkretes dazu gemacht.« Er findet es seltsam, dass in Deutschland so viel Interesse an dem Thema besteht. Dann erzählt er von Gruppen in den USA, an denen sich die britischen Aktivisten orientieren. Hier arbeiten Gruppen wie die »Surveillance Camera Players« seit Jahren mit kreativen Protestformen gegen die Überwachung. Ein Beispiel: Das New Yorker »Institute for Applied Autonomy« hat eine Webanwendung entwickelt, die dem Nutzer den am wenigsten überwachten Weg durch Manhattan errechnet. »RTMark«: Die Aktivisten erklären und evaluieren auf ihrer Webseite verschiedene Methoden der Kamera-Sabotage, von Farbbeuteln bis zu großen Betonklötzen, die von oben auf die Kamera geworfen werden. Die »Space Hijackers« planen in Zukunft auch in Großbritannien Ak­tionen gegen die Kameras, wobei sie sich für die psychologischen Aspekte der weitgehend unterbewusst wahrgenommenen Überwachung interessieren. Sie wollen die Kameras im öffent­lichen Raum bewusst machen.

Andere haben das bereits versucht, allerdings nicht aus politischen Gründen: Voriges Jahr lief im britischen Fernsehen eine Auto-Werbung, in der der Fahrer des beworbenen Kleinwagens auf seiner Fahrt durch die Straßenschluchten einer anonymen Metropole von einer Tiefgarage zur nächsten von verschiedenen Überwachungskameras verfolgt wird. Dazu läuft schnelle, elektronische Musik. Zum Schluss sagt eine computerisierte Frauenstimme: »Sie werden über 300 Mal am Tag gefilmt! Geben Sie ihnen etwas zum Hinschauen.«

Im hippen, aber dennoch sehr armen Ostlondoner Bezirk Shoreditch bietet das gemeinnützige Quartiersmanagement den Bewohnern von So­zial­wohnungen an, CCTV zu schauen, den ganzen Tag und zuhause. Shoreditch Digital Bridge verkauft Pakete mit Internet und digitalem Fernsehen weit unter dem Marktpreis, um die Technologie mehr Leuten zugänglich zu machen. Auf dem Kanal »Safe and Sound« sind die Aufnahmen von 400 Kameras in der Umgebung zu sehen. »Uns geht es nicht um die Bekämpfung von Kriminalität, sondern um ›gefühlte Sicherheit‹«, sagt Michael Pyner, der das Programm verantwortet. Für ihn steht das empowerment von Menschen, die sich zunehmend unsicher fühlen, im Mittelpunkt der Initiative.

Die Londoner Bezirke befinden sich in einem Wettbewerb, in dem »gefühlte Sicherheit« ebenso wichtig ist, wie mit guten Neuigkeiten in die Presse zu kommen. Und neue Überwachungs­systeme, von denen man behaupten kann, sie machten den Stadtteil sicherer, sind solche guten Neuigkeiten. In den Sicherheitsdiskursen in Großbritannien wird so auch lokales Marketing betrieben, und Überwachungstechnologien werden zum Ausdruck von »Modernität« in Bezirken und Gemeinden, die den ökonomischen Aufschwung suchen.

Bewegt man sich von der Holloway Road nach Westen in Richtung Camden, verändert sich das Bild der Stadt erneut sehr schnell. In dieser Richtung geht es aufwärts, und das nicht nur sozial. Vom Parliament Hill hat man einen panoptischen Blick über die Stadt. An den grünen Park schließt sich ein Viertel voller sehr schöner Terrassenhäuser und Stadtvillen an. An Bäumen hängen hier ordentlich laminierte Anzeigen vermisster Katzen und Hunde, auch eine Einladung einer Interessengruppe von Papageihaltern ist angeschlagen.

Am Ausgang des Parks, an der Ecke Pond Street und South End Street, ist das Zentrum von Hampstead Heath, einem der wohlhabendsten Bezirke Londons. Auch hier hat George Orwell einmal gewohnt. Nun werden dort, wo er mal Bücher verkaufte, Hamburger gegrillt, unter dem Motto: »Alle Hamburger sind gleich, aber manche sind gleicher.«