Der Bohemien zahlt selbst

Von der Unterdrückungskompetenz zur Laufburschenschaft: Die selbsternannte »digitale Boheme« verwirklicht
laut Selbstauskunft den Traum vom autonomen Leben. Aber ist sie wirklich freier, weil sie den Schreibtisch jederzeit
verlassen kann, um im Café zu arbeiten? In Berlin hat sie nun ihren ersten Kongress abgehalten. von Diana Artus

Es ging darum, drei komplette Tage zusammen zu leben und zu arbeiten. Ein kleines Paralleluniversum zu erschaffen, in dem von Weiter­bil­dung über geselliges Beisammen­sein bis hin zu Yoga, Massage und Bootsausflug alles nur Mögliche getan wurde, um den Anwesenden das gute Gefühl zu verschaffen, Teil eines sich lohnenden großen Gan­zen zu sein, in dem man verstanden wird. Die Rede ist hier nicht von einem dieser »Aktivwochenenden«, die Firmen gerne für ihre Managementetagen organisieren, um sich deren Loyalität zu sichern und etwaige noch unentdeckte »Kreativitätspotenziale« auszuloten, son­dern vom Festival »9to5 – Wir nennen es Arbeit«, das vor einigen Tagen im Berliner Radialsystem statt­gefunden hat. Es wurde als erste Branchen­messe oder auch Ferienlager der »di­gitalen Boheme« angekündigt, die Mitorgani­sator Holm Friebe zusammen mit Sascha Lobo in dem Buch »Wir nennen es Arbeit« umfassend beschrieben hat. Beide Autoren arbeiten auch in der virtuellen Firma Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA) mit und haben, offenbar im Rahmen einer der von der ZIA offerierten Gegenwartsdiagnostiken, die »digitale Boheme« als relevanten gesellschaftlichen Trend aus­gemacht.

Es handelt sich bei dieser digitalen Boheme schlicht um eine Weiterentwicklung der analogen Boheme, »das waren Menschen, die die Nacht zum Tag und ihr Leben zur Kunst machten und deshalb am Existenzminimum lebten« (Friebe/Lobo). Digitale Bohemiens dagegen sind Menschen, die die Nacht zum Tag und ihr Leben zur Arbeit machen und trotzdem am Existenzminimum leben, also die, die wir vorher unter Namen wie »Freiberufler«, »Ich-AGs« oder auch »Künstler« kannten. Sie eint die Ablehnung des Systems Festanstellung, was gut ist, da das System Festanstellung sowieso längst obsolet ist. Selbst wenn wir wollten, und zum Glück wollen wir ja nicht, könnten wir kaum noch. Wer allerdings gedacht hat, in einer Gesellschaft, die immer weniger Arbeiter braucht, wäre endlich ein gutes Leben ganz ohne Erwerbs­arbeit möglich, hat sich zu früh gefreut, denn – hey! – gearbeitet werden muss trotzdem, und zwar jetzt erst recht, immer und überall. Auch Friebe und Lobo wollen schließlich nur unser Bestes. Und wie schon unsere Großeltern wussten: Der Spaß kommt dann ganz von selbst bei der Arbeit. Wobei, das stimmt so nicht mehr. Bei der digitalen Boheme ist es umgekehrt: Aus Spaß wird Arbeit. Hobbies werfen Geld ab. Jede Idee ist eine Geschäftsidee. Freunde werden zu »Kontakten«. Der ätzende nine-to-five-Arbeitstag wird abgelöst durch einen, der überhaupt keinen Anfang und kein Ende mehr hat. Die ganze Welt wird ein riesiges Großraumbüro. Wahrscheinlich haben Friebe und Lobo Recht: Das ist unsere Zukunft, in der wir so arbeiten, wie wir leben wollen. Und so leben müssen, wie wir arbeiten. Darauf sollten wir uns vorbereiten. Deshalb können wir im Buch noch einmal ein paar Basics nachlesen und lernen, wie wir die Dinge optimistisch betrachten.

Der »digitale Bohemien« ist sich seiner Verstrickung in das System bewusst. Er weiß, dass es im Kapitalismus kein Außen gibt und jede Gegenkultur diesen bisher stärker gemacht hat, indem sie neue Impulse verlieh, anstatt ihm zu schaden. Er hat sich deshalb selbst als ideale Zielgruppe des Marketings erkannt und nutzt seine ökonomische Bedeutung aus, um unter Zuhilfenahme gegebener Umstände und neuer Technologien die Verwirklichung der eigenen Interessen und Spielregeln voranzutreiben. Dass so etwas funktionieren kann, wenn man es nur richtig und öffentlichkeitswirksam angeht, machen Friebe, Lobo und die ZIA uns gerade vor. Der Kapitalismus ist ihrem Verständnis nach eigentlich gar nicht schlecht, er sieht nur scheiße aus. Demnach wird keine bessere Welt gefordert, sondern lediglich ein besseres Design der bestehenden. Und das besorgen dann beispielsweise die Leute von der ZIA. Oder andere digitale Bohemiens, hier geht auf jeden Fall noch was.

Das Experiment ist allerdings noch nicht beendet, und selbst wenn der Kapitalismus tatsächlich demnächst nach ihren Regeln funk­tionieren sollte (vielleicht tut er das ja längst?), bleibt er immer noch ein funktionierender Kapitalismus. Heißt, ihn zu optimieren, nicht stets auch, Ausbeutung zu optimieren, zum Beispiel hin zu einer subtilen, reibungslos und zweifelsfrei ablaufenden Selbstausbeutung? Zwar schert der digitale Bohemien tatsächlich aus dem »Rattenrennen der Angestelltenkultur« aus, aber nur, um gleich in ein neues zu geraten, in dem es um Aufträge, Stipendien, Sponsoren und Aufmerksamkeit geht. Wenigstens kann er nun selbst entscheiden, wann, wo und mit wem er arbeiten will, und das fühlt sich zunächst erst mal gut an, irgendwie nach Selbstbestimmung. Aber die Frage ist, wie lange sich dieses Gefühl aufrechterhalten lässt und ob man sich generell mit einem Leben abspeisen lässt, das sich einfach nur besser anfühlt, aber nicht wirklich besser sein kann, so lange es vom Zwang zur ständigen Verwertbarkeit allen Tuns, Denkens und Fühlens bestimmt wird.

Wenn Friebe und Lobo in ihrem Buch beanstanden, dass Firmen und Betriebe heute nicht mehr nur die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter, sondern auch den ganzen Rest wollen, also »die Kreativität, die Motivation, die Begeisterung der Menschen, ihre Freundlichkeit, ihr Engagement, ihre Gefühle – es geht um die ›Seele‹ der Menschen, die nun zur Produktivkraft werden soll, zur Ressource für die Profiterzeugung«, wenn sie von beängstigenden Persönlichkeitsveränderungen, von irgendwann einsetzender Betriebsblindheit reden, von der wissentlichen Produktion von Bullshit durch die »profunde Indifferenz gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich liegen«, dann klingt das zunächst nach einer plausiblen Kritik. Bloß – worin liegt eigentlich der Unterschied zum Modell der »digitalen Boheme«, wie es von ihnen propagiert wird? Vielleicht hier: Die Firma sponsert ihren Mitarbeitern das »Kreativwochenende«, der Bohemien zahlt es selbst. Wie er auch sonst wenig Kosten und Umstände verursacht. Es dürfte der ZIA nicht schwer fallen, dieses Arbeitsmodell als das nächste große Ding zu verkaufen, mal abgesehen davon, dass es bereits zur Normalität gehört.

Buch und Festival dienen also eher der Selbst­vergewisserung derer, die sich selbst als freiwillige oder unfreiwillige digitale Bohemiens betrachten. Denn neben den ganzen tollen Möglichkeiten gibt es doch immer diese Widersprüche – und manchmal auch die Selbstzweifel –, und sie wurden bei »9to5« vom Publikum durch­aus angesprochen. Aber dann sofort von Stimmungshochhalter Holm Friebe und seiner Crew mit oder ohne Ironie beiseite geschoben. Mitmachen und einverstanden sein! Wer wollte sich schon mit deprimierenden Dingen die Abende verderben, an denen sich statt der erwarteten Massen eine unbestimmte Leere breit machte, die sich nicht überzeugend füllen ließ. Die Atmosphäre erinnerte tatsächlich an die Bildwelten des Leipziger Malers Neo Rauch, dessen Ästhethik sicher nicht zufällig im Layout des Programms zitiert wurde: Arbeiter in merkwürdigen Umgebungen, verstrickt in undurchschau­bare Tätigkeiten, werkeln selbstvergessen vor sich hin, üben Rollen ein, produzieren inhaltslose Sprechblasen oder stehen einfach nur bereit für die nächsten Instruktionen.

Für den letzten, den »Weltverbesserungs­abend«, versprach das Programmheft immerhin die Bündelung aller radikalen Ideen und Vorschläge in einer politischen Agenda. Beim Sit-in bemerkte allerdings ein Teilnehmer, dass es noch an einer wirklichen »Vision« fehle, an tatsächlich relevanten Projekten, für die man sich gemeinsam stark machen könne. Dann wurde die Angst ausgesprochen, nach dem schönen Festival wieder zurück auf den Einzelkämpferplatz zu müssen, wo jeder selbst schuld ist, wenn es doch nicht klappt. An dieser Stelle intervenierte Holm Friebe und erklärte die Veranstaltung erschöpft, aber glücklich für beendet.