Ganzheitlich und militant retro

Von Uli Krug

Wie es kommt, dass die Militante Gruppe gleichzeitig gegen den Irak-Krieg, das Finanzamt und Neonazis vorgehen will und hierfür über »Liquidationen« nachdenkt. Von Uli Krug

Weil »Retro« eine allenthalben wirksame Neigung bezeichnet, hat dieses Begriffskürzel bereits lexikalische Würden erreicht. Nach dem Online-Lexi­kon Wikipedia bezeichnet es eine »immer ra­sche­rer Reanimation vergangener Jahrzehnte. So kehr­ten die fünfziger, sechziger, siebziger und acht­ziger Jahre in den Neunzigern ein ums andere Mal in großen Revivals mit Kordsamt, Schlag­ho­sen und Gitarrenrock wieder (…) Kinder der Siebziger, damals von der Wirtschaft zum ersten Mal als kaufkräftige Zielgruppe erkannt, entdeck­ten Mitte der Neunziger, also in der Phase ihres Erwachsenwerdens die Produkte ihrer Jugend, Spiel­zeug, Lebensmittel und Fernsehserien wieder.« Und kauften dazu T-Shirts, die mit zeittypischen Logos versehen waren: mit dem seitengeschei­tel­ten Tipp-Kick-Männchen, dem pausbäckigen Bahlsen-Kleinkind, dem Barett tragenden Ex-­Finanzminister Kubas.

Auch die von einem roten Stern grundierte MP5 von Heckler & Koch, einstmals das Symbol der RAF, fand ihren Weg auf Plattencover und Gebrauchstextilien – wenn auch häufig ein wenig stilisiert, handelte es sich ja doch nur um ein Spiel, das die diversen Sparten der Kulturwissenschaften mit so hübschen Namen wie »Post-Histoire« versahen.

Nostalgie jedoch verhärtet sich gern. Die Wehmut darüber, dass alles nicht mehr so frisch und unverbraucht ist, wie es einst im Mai schien, kann nervtötend werden. Dann nämlich, wenn der Nos­talgiker so tut, als sei die veränderte Außenwelt nur Lug und Trug, eigentlich inexistent, um sie schließlich kraft eines Willensaktes, mit dem er 30 Jahre durchstreicht, für nicht geschehen bzw. für folgenlos vergangen zu erklären und sie durch die ihm liebere zu ersetzen: jene, aus der die Retro-Utensilien stammen. So gibt es sogar welche, die die RAF-Retro-Mode für bare Münze nehmen und die plötzlich »bewaffnete Kämpfe in Deutsch­land«, die aus sehr guten Gründen vor 15 Jahren beendet wurden, wieder aufführen wollen.

Nachholbedarf von dieser Sorte hat ganz offen­sichtlich die Militante Gruppe (MG): Sie bastelt sich ihren diversen Bekennerschreiben zufolge ein eigenes 68-Substitut, tut so, als ob die G8-Riots in Genua dieselben Fragen aufgeworfen hät­ten, wie es einst die Westberliner Anti-Schah-Demonstration vom 2.Juni 1967 getan hatte, und macht aus Carlo Giuliani einen neuen Benno Ohnesorg: also jemanden, nach dem man eine »revolutionäre Aktion« benennen kann, die dann versucht, ein paar Autos abzufackeln – wie in der Neonazi- und Antisemiten-Hochburg Magdeburg geschehen.

Dabei lautet das Zauberwort, das die revolu­tions­geschichtlichen Leichen wieder reiten machen soll, immer gleich: »Verschärfung der Widersprüche«. Nur gebricht es ihm stets mehr an Glaubwürdigkeit. Der Bogen dieser Widersprüche, mit der der eigene Voluntarismus legitimiert werden soll, wird dabei selbstredend stets großzügiger gespannt: kam Rudi Dutschke 1968 von den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung der Bremer Straßenbahn mir nichts, dir nichts zur welthistorischen Situation, so klingt dieser schrille Ton auch in den Papieren der Militanten Gruppe als Echo nach: Alles hängt mit allem zusammen, der Irak-Krieg mit dem Finanzamt und das wieder irgendwie mit den Neonazis.

Das ergibt dann flugs eine vor-revolutionäre Situa­tion, in der man dann schon mal über »Knie­schüs­se« und »Liquidationen« nachdenken darf: »Es wird u.a. ganz konkret darum gehen, ob und inwiefern politische Liquidationen von Entscheidungsträgerinnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft von Zeitströmungen unabhängige Mittel des revolutionären Kampfes sind oder nur in bestimmten Phasen von Bewegungshochs legitim sind«, fragt sich die Militante Gruppe im Jahr 2002 im Berliner Szeneorgan Interim. Und: »Unser Interesse ist, zu einer ›Normalisierung‹ in unseren Diskussionen und unserer Praxis als radikale Linke in der BRD zu kommen, dazu gehört selbstverständlich, ein Verhältnis nicht nur zu den Potenzialen und Grenzen von militanten Politikformen, sondern auch zum bewaffneten Kampf zu finden. Es ist eine Diskussion, wie wir in Etappen von dem Angriff auf materielle Objekte zum Angriff auf verantwortliche Subjekte kommen (Stichwort: Knieschüsse).«

Bei der Wahl der einzelnen »Widersprüche« ist die MG noch wahlloser als ihre Vorbilder, bedient sich aber gern der vorgegebenen theoretischen Versatzstücke: aus Dutschkes Rede auf dem Vietnam-Kongress 1968 etwa, in der er sich umstands­los auf Georges Sorel, den Vordenker des italienischen Faschismus, und dessen »Propaganda der Tat« bezog. Oder sie bedient sich bei den Theore­tikern der Zeitschrift Autonomie und deren »moralischen Ökonomien der Peripherie«, die die barbarischen Auseinandersetzungen zwischen despotischen Regimes und islamisch aufgepeitsch­tem Mob in Ländern wie dem Vor-Mullah-Iran als Brotkämpfe im Stile des 18. Jahrhunderts romantisierten.

Der Stil-Mix liest sich im Jahr 2002, als die MG im Namen der deutschen Unterklassen den Reinickendorfer Sozialstadtrat Frank Balzer bedrohte, so: Er »und Konsorten können von ihrer existenzvernichtenden Amtspraxis durch die ›moralische Ökonomie‹ der Pauperisierten eingeholt werden, durch das Widerstandsrecht der individuellen Propaganda der Tat«, womit man sich positiv auf einen Amokläufer bezog, der in einem niedersächsischen Arbeitsamt Totschlag am Leiter des Amts begangen hatte.

Hängt in diesem Kosmos zwar alles mit allem zu­sammen, so gibt es doch in der Konkretisierung beträchtliche Unterschiede. Während die »emanzipatorischen Bewegungen« weltweit lieber nicht mehr mit Namen genannt werden (Hamas und al-Qaida eignen sich hierfür einfach zu schlecht), weiß man umso genauer, wo man die Agenten des Kapitals ganz persönlich treffen kann, in Großziethen bei Berlin beispielsweise. O-Ton Militante Gruppe: »Da wir uns als Teil des sich formierenden Widerstandes gegen den Besuch des Kriegs­treibers Bush verstehen, haben wir am 29. April 2002 die Vertretung des deutsch-amerikanischen Rüstungskonzerns DaimlerChrysler (Vertragshändler Schock) in Berlin-Großziethen, Lichtenrader Chaussee 1, mit einem Brandsatz attackiert. Ende April trafen sich Mitglieder der US-Regierung und des CIA mit führenden Vertretern der kurdischen Opposition im Irak mit dem Ziel, den Sturz des irakischen Machthabers Saddam Hussein zu planen. Interessant daran ist, dass dieses Treffen am Rand von Berlin stattfand.« Also vielleicht in der Umgebung von Großziethen, aber doch ganz sicher ohne Vertragshändler Schock.

Dieser voluntaristische Unfug wähnt sich immun gegen jeden Einspruch; denn man wisse ja, was zu tun ist, es käme darauf an, es nun endlich zu machen. Im Falle unserer Retro-Militanten: es erneut zu machen, woran RAF, RZ und Co. zwangsläufig scheitern mussten (nämlich militanten Antiamerikanismus als bewaffneten Anti­faschismus zu verkaufen): »Wir befinden uns in einer paradoxen Situation, einerseits über die Fähigkeit der umfassenden Reflexion von militanter und bewaffneter Politik zu verfügen, andererseits es aber nicht zu schaffen, diese in aktuelle militante und bewaffnete Kämpfe einzubauen.«

Eine bodenlose Anmaßung, die danach drängt, das Drama zur Gänze nachspielen zu dürfen – aber eben nur eine Anmaßung! Geschmackloses Versenden scharfer Patronen und jahrelange Zündeleien an Dienstautos machen nämlich noch lange keinen »militanten Widerstand«. Vom ideologischen Gedröhne einmal abgesehen, sind die der Militanten Gruppe zur Last gelegten Taten reichlich unspektakulär, gab es doch in Berlin und Brandenburg im Jahr 2006 insgesamt 56 973 Sachbeschädigungen, davon der größte Teil gegen Fahrzeuge, nämlich: 16 572.

Und genauso unspektakulär sollte die ganze Angelegenheit auch behandelt werden: Auf übertriebene Solidarisierungseffekte zu verzichten, fällt dabei umso leichter, je eher die Behörden ihrerseits von unangebrachten Notstandsreflexen lassen. Denn eine »terroristische Gefahr« zu sein, das hat sich die MG stets nur eitel eingebildet, da muss kein Staatsanwalt mitdelirieren. Wenn Sachbeschädigung einfach Sachbeschädigung bleibt, kann auch der Paragraf 129a eingemottet werden – und nicht sozusagen als Retro-Mode des Strafrechts wiederaufleben.