Konstruktion und Dekonstruktion

Bisher wurden Verschwörungstheorien entweder kolportiert oder lächerlich gemacht. Besser wäre es, sie ernst zu nehmen. kommentar von daniel kulla

Verschwörungstheorien sind vertrackt. Wer wenig Ahnung von ihnen hat, spottet gern darüber, wie ahnungslos die Verschwörungstheoretiker sind. Angehörige nicht-öffentlicher Zirkel treten als Experten für die Geschichte dieser Zirkel auf und widerlegen die Verschwörungstheorien über sie. Forscher verheddern sich, dekonstruieren das Verschwörungsdenken zuweilen mit eigenen Verschwörungstheorien oder propagieren manch­mal selbst die zu erforschende Verschwörungs­ideologie. Die zunächst ergebnis­offene Verschwö­rungstheorie ist dabei von der geschlossenen Verschwörungsideologie, die alle Fragen selbst beantwortet, zu unterscheiden. Was macht das Verschwörungsdenken so anziehend und mächtig? Führt es am Ende doch zu einer »verbor­genen Wahrheit«?

Nein, ganz und gar nicht. Vielmehr lässt sich der heuristische und assoziative Verschwörungsdiskurs ebenso gut ideologisch instrumentalisieren wie einseitig verhöhnen. Für beides muss – anders als bei jeder offenen Beschäftigung mit Verschwörungen – die heuristisch-assoziative Mate­rialgewinnung von der anschließenden Analyse getrennt werden.

Verschwörungsideologen übergehen die Analyse, um die aufgeworfenen Fragen in ihrem Sinne beantworten zu können. Viele Kritiker des Verschwörungsdenkens blenden die Analyse jedoch ebenfalls aus, um sämtliche Beschäftigung mit Verschwörungen zu disqualifizieren, oft einhergehend mit weiteren unzulässigen Gleichsetzungen. So wird etwa oft behauptet, Verschwörungs­ideologie sei zwingend mit dem Wahn verbunden, hinter allem Übel der Welt steckten als Drahtzieher die Juden. Ignoriert werden dabei jedoch die fast 100 Jahre nach 1770, in denen die Verschwörungsideologie zunächst hauptsächlich Satanisten und Freimaurer ins Visier nahm und Juden allenfalls als deren Werkzeuge vorkamen. Das historische Bedürfnis der Kolporteure, aber auch vieler Kritiker des Verschwörungsdenkens scheint nach einer »eigentlichen« Geschichte zur Aufrechterhaltung des Weltbilds zu verlangen.

Es gibt indes Geheimbünde, Geheimdienste und nicht-öffentliche Absprachen, es gibt den Straf­tat­bestand der Verschwörung im amerikanischen Recht, und es gibt zahllose Historiker und Soziologen, die einstige und heutige Verschwörungen untersuchen. Sich mit bisher nicht nachgewiesenen Verschwörungen zu beschäftigen, fällt mehr oder weniger beabsichtigt in die Schublade »Verschwörungstheorie«. Wer etwa vor deren Bekannt­werden über eine einflussreiche Verschwörung zur Vorbereitung eines antikommunistischen Militärputsches durch die 1976 aus der italienischen Großloge ausgeschlossenen ehemaligen Freimaurer der P2 in Italien spekulierte, hatte wenig Aussicht darauf, ernst genommen zu werden.

Verschwörungstheorien verdächtigen; mehr Verschwörungstheorien weiten den Kreis der Verdäch­tigen aus und zeichnen ein immer komplexeres Bild. Um Anhänger harmonischer Weltbilder mit den vielfältigen Interessenskonflikten moderner Gesellschaften zu konfrontieren, kann es gar nicht genügend Verschwörungstheorien geben.

Ganz anders ist das mit dem ideologischen Verschwörungsdenken, das Widerlegtes und offen Irrationales aufgreift, um krisenbefallene Weltanschauungen zu stützen oder um neue Weltanschauungen zu befeuern. Es überbewertet den Einfluss von Verschwörungen, seine projizierten Allmachtsphantasien schreiben ähnlich kleinen Gruppen wie der je eigenen die Macht zur Weltherrschaft und totalen Kontrolle zu.

Ab diesem Punkt konnte Verschwörungsideologie wiederholt nicht mehr gehindert werden, sich zur selbst erfüllenden Prophezeiung zu entwickeln. Die gefährlichsten Verschwörungen wurden als Gegenverschwörung zu einem ideologischen Verschwörungskonstrukt entwickelt. Das NKWD wurde in der UdSSR der dreißiger Jahre zu einer tödlichen Willkürmacht gegen die konstruierte »faschistische Verschwörung des Blocks der Rechten und Trotzkisten«. Noch weitaus verheerender verbanden die Bewohner des zu sich gekommenen Deutschlands modernen Antisemitismus mit Verschwörungsideologie und statteten eine Gegenverschwörung mit dem Mandat zur Vernichtung der »jüdischen Weltverschwörung« und aller ihrer »Agenten« aus.

Ein derartiges Zusammenwirken von verschwörungsideologisierten Massen und einer staat­lichen Gegenverschwörung gilt es zu bekämpfen und zu verhindern.

Vom Autor erschien im April das Buch »Entschwörungs­theorie – Niemand regiert die Welt« bei Werner Pieper & The Grüne Kraft.