Grenzen für Minister Gnadenlos

Seit fast zwei Jahren gilt in Österreich ein äußerst restriktives Asylgesetz mit fatalen Auswirkungen. Aber es gibt inzwischen auch eine breite Protestbewegung dagegen. von michael genner, wien

Das ist neu: In Österreich gehen nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen, die »linken Gutmenschen«, auf die Straße, um gegen das so genannte Asyl- und Fremdenrecht zu protestieren. Seit 1. Januar 2006 gilt das Gesetz, das alle früheren Regelungen an Restriktion übertrifft: Jeden Tag verschwinden Menschen in der Abschiebehaft, werden Familien auseinandergerissen. Anfangs schien Widerstand fast völlig hoffnungslos. Aber inzwischen ist eine Gegenbewegung entstanden, der konservative und linksliberale Bürgermeister, Grüne, katholische und evan­gelische Pfarrer, Schulklassen und Lehrer angehören.

Jüngster Auslöser für die breite Solidarisierung mit den Flüchtlingen war der »Fall Arigona«. Arigona Zogaj ist ein 15jähriges Mädchen aus dem Kosovo. Die Familie Zogaj lebte seit Jahren in der kleinen oberösterreichischen Gemeinde Frankenburg. Das Asylverfahren war in allen Instanzen negativ beschieden worden, obwohl das Haus der Familie im Kosovo zerstört worden war. Der Vater hatte in Frankenburg legale Arbeit gefunden (in den Jahren 2000 bis 2003 war das möglich), Arigona ging zur Schule, sie war Klassensprecherin und allseits beliebt.

Einen Antrag der Familie auf humanitäres Aufenthaltsrecht (eine Art Gnadenakt) lehnte das Innenministerium ab. Obwohl der Gemeinderat von Frankenburg sich dafür einsetzte und Arigonas Schulklasse eine Unterschriftenaktion gestartet hatte. Am 26. September stand dann die Polizei vor dem Haus. Der Vater und vier Kinder wurden abgeführt und sofort in das Kosovo abgeschoben. Arigona war nicht zu Hause, als die Polizei kam; sie tauchte unter. Ihre Mutter kam mit einem Nervenzusammenbruch in die Psychiatrie.

Gleichzeitig ging die Polizei gegen andere Flüchtlingsfamilien vor. Auch der 16jährige Denis, sein 12jähriger Bruder Haxhi und deren Mutter Safete Zeqai aus Wieselburg in Niederösterreich sind seit einigen Wochen untergetaucht. Für sie starteten die Grünen und Wieselburger Jugendliche eine Solidaritätskampagne. In der Steiermark wurde die gesamte Familie Milici (Eltern und sechs Kinder) trotz Protesten der Gemeinde abgeschoben. Der Bürgermeister, der stets für sie eingetreten war und sich am Flughafen von ihnen verabschieden wollte, durfte sie nur mehr durch eine Glasscheibe sehen.

Arigona, die aus ihrem Versteck heraus per ­E-Mail und in einer Videobotschaft mit Selbstmord drohte, wurde zur Symbolfigur. Ihr Foto war in allen Medien zu sehen, Tausende Menschen solidarisierten sich mit ihr in spontan gebildeten Internetforen. Hunderte demonstrierten in Frankenburg für Arigona und die Rückkehr ihrer Angehörigen.

Aber Innenminister Günther Platter (ÖVP) lehnte jedes Zugeständnis ab: Der Staat dürfe sich nicht »erpressen« lassen. Als »Minister Gnadenlos« geriet er in den Medien so sehr unter Beschuss, dass er zu einer von ihm selbst einberufenen Pressekonferenz nicht erschien und man glauben konnte, auch er sei nun untergetaucht. Die Grünen, unterstützt von verschiedenen NGO, organisierten in Wien eine Demonstration für das Bleiberecht, an der 10 000 Menschen teilnahmen, und stellten im Parlament gegen Platter einen – von allen anderen Parteien abgelehnten – Misstrauensantrag.

Arigona tauchte wieder auf und wird nun von einem mutigen Pfarrer beherbergt und beschützt. Der Innenminister besuchte sie in ihrer neuen Unterkunft und versicherte, sie habe vorerst nichts zu befürchten. Ihrer abgeschobenen Familie wird die Rückkehr nach Österreich aber weiterhin verwehrt.

Arigona ist kein Einzelfall. Innenminister Platter hatte für diesen Herbst eine generelle »Ak­tion« geplant. In einem internen, den Medien bekannt gewordenen Papier wies er die Polizei an, Schwerpunktaktionen durchzuführen mit dem Ziel, die »Außerlandesbringung zu steigern«. Er hoffte, die Bleiberechtsbewegung im Keim zu ersticken. Damit tat er sich aber keinen Gefallen. In vielen kleinen Orten haben Familien von Asylbewerbern in den vergangenen Jahren die Chance genutzt, legale Arbeit anzunehmen: Sie gelten als fleißige Arbeiter und gut integriert und sind bei den Einheimischen beliebt. Bereits im Frühjahr waren in den Gemeinden Bürgerinitiativen zum Schutz »ihrer« Flüchtlinge entstanden. Gegen sie richteten sich Platters Schwerpunktaktionen. Damit brachte der Minister schlagartig alle diese Gemeinden gegen sich auf.

Unter dem Druck der Bleiberechtsbewegung hat der Verfassungsgerichtshof ein Gesetzesprüfungsverfahren eingeleitet, um das bisher ministerielle Willkür- und Gnadenrecht durch ein individuelles Antragsrecht zu ersetzen. Asylbewerber, die Kriterien wie Integration und Sprach­kennt­nisse erfüllen, sollen ein Bleiberecht beantragen können. Ein Zwischenerfolg. Mehr nicht.

Am härtesten betroffen sind die Flüchtlinge aus Tschetschenien: Dem Krieg entkommen, sind fast alle schwer traumatisiert. Aber die europaweit als vorbildlich geltende Schutzklausel für Traumatisierte und Folteropfer wurde mit dem 1. Januar 2006 von der damaligen Innenministerin Liese Prokop abgeschafft. Auch geflohene Tschetschenen werden seither gnadenlos in angeblich »sichere Dublin-Staaten« (Polen, Slowakei) abgeschoben. Sie werden oft vor den Augen ihrer Kinder in Handschellen abgeführt. Sie wurden in der Regel von keinem Gericht verurteilt, ihr einziges »Verbrechen« ist ihr Asylantrag. Ihnen geben einige NGO Rechtsbeistand. Aber das ist viel schwieriger geworden.

Wenn aber ein Asylberechtigter, dem bereits geholfen worden ist, einen Verwandten zur Rechtsberatung bringt, der gerade in Österreich angekommen ist, dann wird es schwierig. Dieser Person kann nicht geholfen werden. Man wird sie verhaften, auch wenn sie noch so krank und traumatisiert ist. Weil sie ihre Fingerabdrücke hinterlassen hat bei Behörden in Polen oder in der Slowakei. Dies kann im Computer nachgeprüft werden. Mit Hilfe des Eurodac-Systems kann sofort jeder identifiziert werden, der jemals beim illegalen Überschreiten einer EU-Außengrenze aufgegriffen wurden. Man kann dem Flüchtling nicht guten Gewissens raten, einen Asylantrag zu stellen. »Können Sie nicht bei Ihrem Bruder bleiben oder sonst wo in einem Versteck, bis eine andere Regierung kommt – in Österreich oder bei Ihnen daheim?«

Aber das macht niemand. Die Menschen sind zumeist müde, erschöpft und krank, sie haben nicht die Kraft für ein Leben in der Illegalität. Sie gehen regelmäßig zum staatlichen Flüchtlingslager Traiskirchen – und werden festgenommen, wie angekündigt. Auch wenn sie von einem Psychologen einen Befund über ihre Traumatisierung haben. Wie etwa Herr Romzan, der in Russland verhört und gefoltert wurde. Er war zwei Monate in Abschiebehaft, bevor ihm geholfen werden konnte. Ein anderer Tschetschene, Adlan, war 37 Tage im Hungerstreik. Seine schwangere Frau durfte ihn nicht sehen. In seinem Herkunftsland hatte man ihn gefoltert; seine Frau berichtete, wie man ihn nackt nach Hause brachte, »blutend und überall grün und blau«.

Adlan konnte geholfen werden. Der Verwaltungssenat gab der Haftbeschwerde statt. Ein Gutachter stellte eine schwere, durch die Haft verschärfte Traumatisierung fest. Adlan kann sich auf nichts konzentrieren, leidet an Albträumen, statt einzuschlafen denkt er nur an die Elektroschocks. Er und seine Frau erhielten Asyl.

Der Autor ist Rechtsberater für Asylwerber und Vorsitzender des österreichischen Vereins Asyl in Not; www.asyl-­in-not.org