Es gibt keine falsche Note

Von Bov Bjerg

Am 24. Oktober starb Michael Stein an Krebs. Er war Drucker, Kommunist, Saxo­phonist, Journalist, Bassist, Schriftsteller, ­Kabarettist, Situationist, Agitator und ­Budd­hist – alles nacheinander und gleichzeitig zugleich. Er verfluchte den Zwang zur Lohnarbeit, Mahnbescheide und Haftbefehle: Nachrichten aus der Scheinwelt. ­Michael Stein beeinflusste so unterschiedliche Künstler wie Wiglaf Droste und Judith Hermann; die Berliner Lesebühnen prägte er von Beginn an. Er wurde 55 Jahre alt.
Das Dossier besorgte Bov Bjerg.

Stein – was

Über den Verweigerer jeder Konvention

»Stein – was« stand immer auf dem Ablaufplan der Reformbühne, als letzter Beitrag vor der Pause. »Stein – was«, das reflektierte, dass wir im Grunde genommen niemals wussten, was Michael machen würde – einen Text, ein Lied, eine Hassrede oder ein organisiertes Schweigen. Aber etwas würde er machen.

Jeder schien Stein zu kennen. Jeder schien eine oder zwei »Michael-Stein-und-ich«-Geschichten zu haben, wie um sich zu vergewissern. Stets blieb das Gefühl, ihn überhaupt nicht zu kennen. War das, was er sagte, nur ein Spiel mit der Rea­lität, oder war sein Spiel mit der Realität seine wahre Meinung?

Er war der konsequenteste Mensch, den ich kannte. Sein Weg war die Verweigerung jeglicher Konvention. Wenn er eine tolerante Freundin hatte, suchte er Sex mit Männern. Wenn er irgendwo unter allen Umständen willkommen war, unternahm er alles, dort ein Lokalverbot gegen sich zu erwirken, wobei wiederum ein sol­ches Verbot die sicherste Garantie dafür war, ihn regelmäßig in eben diesem Lokal anzutreffen. Als es bei der taz gut für ihn lief, provozierte er seinen Rausschmiss. Als es beim Benno-Ohnesorg-Theater gut für ihn lief, provozierte er seinen Rausschmiss. Als es bei den Vorlesebühnen gut für ihn lief, hörte er auf, Texte zu schreiben. Als es mit dem freien Vortrag gut lief, versuchte er, rassistische und sexistische Versatzstücke vorzutragen. Als diese ihm nicht geglaubt wurden, versuchte er, das Schweigen auf die Bühne zu bringen. An den Lesebühnen ist er gewissermaßen gescheitert. Denn trotz wütender Meinungsäußerungen des Publikums, obwohl wir manchmal überhaupt nicht mit seinem Beitrag einverstanden waren, stand es doch niemals ernsthaft zur Debatte, Michael hinauszuwerfen. Zum einen war das fast unmög­lich, denn was sollten die Kriterien für einen solchen Rauswurf sein? Zum anderen wuss­ten wir immer, dass Michael trotz seines Widerwillens immer einer unserer Besten war. Einmal hatte ich ein Lied vorbereitet, und Michael bot an, mich auf der Gitarre zu begleiten. Ohne zu üben, nahm er die Gitarre und begleitete mich wie ein alter Profi. An einem mäßigen Tag konnte Stein immer noch den besten Text des Abends machen. Wenn einer seiner Auftritte schlimm ankam, steckte dahinter viel mehr Mühe als hin­ter einem bejubelten Beitrag.

Es war sein Spiel, er betrieb es ohne Kompromisse, die er so hasste. Er wollte seinen Weg gehen und wollte dafür keine Anerkennung, aber er wollte auch nicht dabei gestört werden. Lieber ging er ins Gefängnis, als gegenüber den Äm­tern seine bescheidenen Einkommensverhältnisse offen zu legen. Niemals hätte ich geglaubt, dass er bereit sei, diese Konsequenz mit seinem Leben zu bezahlen.

Als das Amt von ihm einen Arztbescheid for­der­te, bat er um ein vorsorgliches Lungenröntgen. Er hatte sich mit den verschiedensten Men­schen die verschiedensten Zigaretten ­geteilt und wollte ausschließen, an Tuberkulose erkrankt zu sein, jetzt, wo er mit einer Frau und seiner neugeborenen, zweiten Tochter zusammenlebte. Es war wie in dem alten Witz: Der Arzt hatte eine gute und eine schlechte Nach­richt für ihn. Die gute war, dass er kein Tbc hatte. Die schlechte, dass es wie Lungenkrebs aussah. Aber, so sagten sie ihm mit frohlockenden Stimmen, »Sie haben unglaubliches Glück! Ihr Krebs ist absolut operabel, seien Sie froh, dass er zufällig entdeckt worden ist, in einem Jahr könnten Sie schon daran gestorben sein!«

War es die absolute Sicherheit, die Einhelligkeit von jedermanns Meinung, der soziale Druck, der so entstanden war? War es die schein­bare Gnade der scheinbaren Staatsärzte – »Wir können Ihnen Leben schenken«? Oder war es anfangs nur die Angst vor einer Operation an der Lunge – es wäre ja nicht die erste gewesen? Oder war zuerst die Angst, und die entwickelte sich dann zu einer Haltung? Es wäre sinnlos gewesen, ihn das zu fragen. Irgendetwas hätte er mir bestimmt geantwortet, aber nichts, das mir weitergeholfen hätte.

Was hätten wir tun, was hätte ich sagen können, damit seine Entscheidung anders gefallen wäre? War es besser, ihm drastisch klarzumachen, welches Wagnis er da eingeht, oder hätte ich ihn warnen sollen vor der Operation? War es vernünftig, an seine Vernunft und Verantwor­tung, wenn schon nicht sich, so doch seiner Frau und seinen Kindern gegenüber zu appellieren, oder hätte ich eine Zeitungsmeldung lancieren können, dass allen Lungenoperierten die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wird? Wäre es vielleicht am besten gewesen, Mi­chael die Operation offiziell zu verbieten, mit einem staatlichen Beschluss, damit er alles dafür hätte unternehmen können, sie zu bekommen? An dem Versuch, Michael voraus zu sein, waren schon ganz andere gescheitert, Dutzende Mitarbeiter verschiedener Ämter, Behörden und Staatsgewalten könnten davon Zeugnis ablegen. Ich, der Psychiater, sein Psychiater, wie er mich gern nannte, in völliger Unklarheit über seine geistige Verfassung, rätselnd über seine Motive und Beweggründe. Wenigstens bin ich mir ziemlich sicher, dass ihn das einiger­maßen erfreut hätte.

Wie muss Michael zeitlebens mit sich gekämpft haben. Am Ende seines Lebens wurde das deutlich, als er sich einerseits mit moderns­ten Apparaten immer wieder das Fortschreiten seiner Krankheit anzeigen ließ, andererseits die Konsequenz dieser modernen Diagnostik ver­weigerte. Als er sich immer wieder neue, noch merkwürdigere Heilmethoden suchte, ohne jemals an eine dieser Methoden glauben zu können. Als er eine Vorsorgeuntersuchung machte, um den Tod in Kauf zu nehmen. Als er sich der Schulmedizin verweigerte, um das Ende seines Lebens im schlimmsten Alptraum zu verbringen, den die Schulmedizin bereithält.

Es kann sein, dass Stein lange geglaubt hat, den Tod austricksen zu können. Er hat immer alle ausgetrickst: die Polizei, die BVG, das Arbeitsamt, die Frauen und die Männer. Immer hat er es geschafft. Wie sollte er darauf kommen, dass sich dieser Gegner so unflexibel, so vollkommen ohne Humor, so gänzlich unerschütterlich zeigen würde?

»Stein – was« wird nie mehr auf unserem Zettel stehen. Obwohl es immer unwahrscheinlich war, dass er länger als ich leben würde, war ich unausgesprochen davon überzeugt, dass er bei meiner Beerdigung sprechen und die ganze Veranstaltung mit antisemitischen Sottisen auflockern würde. Schließlich hatte er vor acht Jahren für meine Hochzeitszeitung einen seiner letzten Texte geschrieben. Er schrieb da­rüber, wie wir uns einst kennen gelernt hätten in einem Gebüsch im Tiergarten. »Keck reckte sich mir dein Hintern entgegen« oder so ähnlich. Die Verlockung, die Reaktion der versammelten Großmütter zu sehen, war offensichtlich zu groß. Auf seinen Lippen spielte dabei dieses Lächeln. Spöttisch, herausfordernd, unsicher. In dieser Mischung konnte man einen Hauch von echter Freude entdecken.

Jakob Hein

Frühere Jahre

Über den Musiker

Wer Erinnerungen an Stein zusammenträgt, schreibt auch über sich selbst. Ich komme da nicht drumherum.

Ende der siebziger Jahre war ich ein schüchter­ner Spätstudent und Angehöriger einer Sponti-Musikgruppe namens Trotz & Träume, die aus drei bis fünf Typen bestand, die ihre Instrumen­te knapp beherrschten und jede Menge Lieder zum Überwachungsstaat, zur Terroristenhatz, zum Bi-Sein und Sex oder Liebe verfassten. Als wir Aufnahmen machen wollten, suchten wir Verstärkung.

Die Rockband Pille Palle und die Ötterpötter arbeitete im gleichen Umfeld, das man damals schon anfing, »alternativ« zu nennen, und aus diesem stießen der Trompeter Burkhard, seine Geige spielende Freundin Christiane und der Bassist und Saxophonist Michael Stein zu uns. Wir liehen uns Geld (Vorform von Sponsoring), probten zehn Tage im alternativen Landgasthaus Gems am Bodensee, gaben dort ein gefeiertes Konzert und nahmen dann am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg 36 die geübten Stücke auf: desas­trös schlecht, weil ohne jede Ahnung von der Technik, mit der wir umgingen.

Keiner sagte damals »Stein« zu Stein, wir nann­ten ihn »Micha« und sprachen, ehe wir ihn besser kannten, über ihn als den »Drucker« – er hatte den Ruf eines gewerkschaftlich verwurzelten Kommunisten. Westberliner Kommunist und Arbeiter – das war schon etwas Besonderes. Micha war bei der Arbeit mit uns zurückhaltend und entwarf die schönsten Arrangements. Nichts spielte er glänzend, alles verlässlich gut. Er moch­te unsere Art zu erzählen, ließ aber durchblicken, er selbst schreibe noch ganz andere Stücke, die zeigte er uns damals nicht. Ich erin­nere mich, wie er auf der Bühne der Gems in dem Chaos der Individualisten sich mit seinem Bass in den Rhythmus einwiegte, den wir übernehmen sollten, ein Fels in der Brandung, bis alle es hatten, und wie Christiane, die Geigerin, mich anstieß und seufzte: »Er hält das alles zusammen …«  Kurz darauf waren sie ein Paar.

Ich habe den Stein jener Zeit als freundlichen Praktiker in Erinnerung. Weltveränderungs-Praktiker. Tatsächlich, aus seinen Jackentaschen schauten oft mehrere Kulis. Er warf uns dann und wann Bohemefaulheit vor, und dass er von der Arbeit hergekommen war (oder vom Handwerk, Maschinen-Werk), spielte eine Rolle für ihn und uns.

Genauso wichtig war aber sein Opa, der ihm die musikalischen Freiräume finanzierte – er er­zählte es grinsend und dankbar. Ich weiß, wie begeistert er auf dem Konzert im Max und Moritz war, das wir zum Erscheinen der Platte gaben, und wie skeptisch er mich anschaute, als ich sagte, ab jetzt würde ich meine Doktorarbeit schreiben. Wir waren Ende Zwanzig, und man entscheidet sich, ohne es zu ahnen, für einen der paar möglichen Wege.

Einfach, indem man ihn geht.

Unsere Wege kreuzten sich Anfang der achtziger Jahre wieder, als meine erste LP bei CBS erschienen war. Micha begutachtete mich spöttisch in einem Biergarten in der Nähe des Hermannplatzes, und seine Miene hellte sich auf, als ich erzählte, ein ganzes Zelt Alternativer hätte mich auf dem taz-Fest gerade ausgebuht, weil ich in einem Lied eine junge Frau mit Sol­da­ten übers Ficken hatte plaudern lassen. Er lach­te, und (ich glaube) er sagte: »Die Fotzen«. Jeden­falls stellten wir fest, dass wir ein bestimmtes auferlegtes Pflichtgefühl los waren und etwas freier in der Welt.

Seit ich in der Großbeerenstraße wohnte, kam Micha manchmal vor der Probe im Mehringhof zu mir zum Tee. Im Frühjahr 1984 bot mir die große CBS (kurz »die Firma«) an, eine Tour mit Band zu machen, ich kannte eine Schlagzeu­gerin und bat Micha für alles weitere um Rat. Wir waren dann eine Drei-Mann-Truppe mit Frau am Schlagzeug und einem Techniker, der das Ganze mit viel Hall versah.

Drei Wochen Proben, sechs Wochen touren. Gründlich durchsumpfte Nächte, systematischer Schlafentzug, konsequente Einnahme an- und abturnender Mittel. Durch Universitätsstädte, immer kurz hinter der erfolgreichen Ina Deter her, mal vor 18, mal vor 200 Leuten. War ein anderer Stein, der sich da mit Tom-Waits-Kasset­ten vollaufen ließ, Frauen mitnahm und in Philosophierlaune kam. Wie ein Glimmfeuer, das einen Funken braucht. Sein bleiches Stoppelbartgesicht beim späten Frühstück, gespielter Wutausbruch an der Rezeption, dies große Lachen, eine Nachtfahrt von Mannheim nach Wilhelmshaven, wo er fuhr, ich ihn wachhielt, wir über sowas wie die Aushebelung von Ordnung und Hitze in der Kälte redeten. So, fand ich, spielte er auch Saxophon: reißerisch schräg, heiß im Kalten. An einem Punkt im Konzert ging er jedesmal ans Gesangsmikro, ich mimte Synthibass, Frank Augustin klimperte Jazzklavier, Anja Kießling ließ die Besen tanzen, und Stein sang: »Picknick-Time«, die gegroovte Geschichte eines Schrebergartenmörders, der von seinem Blut­bad nur den schönen Sohn der Familie ausnimmt, jetzt sein Lustwerkzeug, »und wenn ich ihn einmal nicht mehr mag, wird auch er mein Geheimnis bleiben«. Zum Schluss geschrien, in den erschreckten Jubel des Publikums sagte ich meist: »Nach diesem Stück von Bettina Wegner, das Michael Stein gerade gesungen hat … «

Natürlich war die Rede von einer nächsten Platte, und Michas Skepsis gegenüber der Firma war groß. Klar war auch, dass die Profimusiker von Spliff, mit denen ich vorher gearbeitet hatte, diese Tourband nicht ernst nahmen. So wie sie Ton Steine Scherben nicht ernst nahmen. Mit denen hatten wir unterwegs einen Off-Tag in Braunschweig verbracht, Claudia Roth hatte das Hotel gebucht, Rio hatte gegen Morgen thea­tralisch den Portier geohrfeigt, sich entschuldigt, trotzdem war Polizei aufgelaufen, und ich hatte irgendwie zu schlichten versucht. Micha kicherte: »Wie zwei Räuberhäuptlinge.« Rio trennte sich von den Scherben, und mir sagte man: Du hast einen Rockpalast-Auftritt, verscherz’ den nicht.

Es folgt ein Abschnitt, über dessen Verlauf und Wertung sich Stein und ich nie geeinigt haben. Er fand mich zutiefst opportunistisch, ich fand ihn feige. Jedenfalls kam er nicht zu den Probeaufnahmen ins Spliff-Studio, für die ich gebaggert hatte, und dann gab es die Tourband nicht mehr. Es blieb aber ein Text auf meiner LP »Viel zu schön«, der war eigentlich eine Widmung für Micha auf ein Gitarrenriff, das er mir mal gab. Als wir so im Krach auseinanderkamen, machte ich stattdessen eine eigene Melodie, ich wollte stolz sein und nahm das Lied damit auf.

Ich sah ihn erst wieder nach dem Mauerfall, als Kompagnon von Wiglaf Droste, über Regale stürmende Ostler spottend. An jenem Abend im »SO 36« sprach ich ihn noch nicht an, aber bald war die Schranke auf. Spätestens 1994 bei Sarah Schmidts und Frank Augustins Salon Pröppke war nur Freude, uns wiederzusehen, als Notizen­macher, Überlebende der hohlen Kulisse Alternativkultur, die zu Staatsehren drängte, als Wei­termacher. Keine Verträge mehr, keine Ansprüche. Im März 1995 veranstalteten wir unseren einzigen gemeinsamen Abend: »Maurenbrecher und Stein – zwei alte Säcke des Showbizz erinnern sich«, Roter Salon der Volksbühne. Ich habe den Flyer noch, aber nicht das Programm, weiß, dass wir spät anfingen, dass Steins neue Clique dabei war, mit Judith Hermann, Peter Heinze, dieser Clan, der meine Phantasie reizte.

Wir blieben uns nachher nah und fremd. Sahen uns häufig, unternahmen nichts Größeres mehr miteinander. Planten es manchmal.

Guckten uns manchmal an in der Reformbühne, Stein und ich, und er rief mir z. B. bei einem Text von Ahne, wenn ich erstaunt die Augen hob, begeistert zu: »Ja, der lebt auch in seiner eigenen Welt!«

Manche Parallelwelten sind sich so nah.

Manfred Maurenbrecher

»Eigentlich hat mir die Arbeit Spaß gemacht«

Ein Gespräch mit Michael Stein (Sommer 2007)

Warst du jetzt mal wieder bei der Reformbühne oder den Surfpoeten?

Nein. Eine Zeit lang dachte ich, mir fehlt das mit den Auftritten. Ich bin ja dann auch noch eigentlich relativ häufig aufgetreten bis vor zwei Monaten. Nein, das ist erst mal ganz weg.

Ist es zu anstrengend?

Nein, das ist jetzt einfach alles aus dem Mittelpunkt gerückt. Auch das Erzählen. Ich hab’ das ja auch damals thematisiert auf der Bühne mit meiner Diagnose und hab’ auch noch zwei Film­chen gemacht, auch auf der Straße, zum Thema Gesundheit und so weiter. Ich hab’ dann aber auch, was ich schon früher teilweise problematisch fand, alles, was ich tue, immer beobachtet unter: »Wie kann ich’s verwursten?« Ein ständiges Objektivieren. Also, es macht mir zwar Spaß, aber nicht unter dem Druck.

Ich habe immer erzählt, was mir passiert. Auch gezielt passiert. Das ganze Affentheater mit den Kontrolleuren. Das macht zwar Spaß, aber eigentlich ist es kindisch. Nach zehn Mal weißt du, wie der Hase läuft.

Es gibt einige Sachen, bei denen ich mich gefragt habe, wozu ich die eigentlich mache. Eigent­lich nur durch die Erkrankung. Einfach, weil ich grundsätzlicher noch mal nachdenke. Zum Beispiel, was gewesen wäre, wenn ich mich gleich hätte operieren lassen und alles wäre total glatt gelaufen, was zwar unwahrscheinlich ist, aber nehmen wir’s mal an. Ich hätte mit Sicherheit wieder angefangen zu rauchen und schön weiter gesoffen, weil es eben auch Spaß macht.

Ich will jetzt nicht die Diagnose nutzen, um mich selbst zu erziehen, aber es hat natürlich diesen Charakter: dass ich einfach anders noch mal über alles mögliche nachdenke, also auch über das Auftreten. Und über den Anspruch, den ich eigentlich hatte, nämlich wahrhaftig zu sein. Was ja so nie ganz stimmt auf der Bühne, weil du dann doch immer auf ’ne Pointe aus bist. Wenn ich das gemerkt habe, dann habe ich das destruktiv gewendet und ganz gezielt auf alles verzichtet. Also nicht erst nach der Diagno­se, sondern schon vorher. Schreiben ohne Pointe eben.

Aber – wozu jetzt? Wozu stellste dich auf die Bühne, um das zu machen? Oder über den Tod zu erzählen, was ich häufig gemacht habe, als ich in diesem Hospizverein war. In dieser Weise die gute Laune verderben – warum eigentlich? Mein Ziel war ja nie, schlechte Laune zu schaffen, auch wenn das hin und wieder passiert ist. Ich habe mich schon besser gefühlt, wenn ich das thematisch trotzdem so aufbereiten konnte, dass es goutiert werden konnte. Und da gehört dann eine Pointe schon dazu.

Ich kenn’ das ja auch, wenn man sich so in Rage redet. Es ist dann eben alles komisch. Es hat mir durchaus große Freude bereitet, aber dann hatte ich eben oft auch einen Widerwillen dagegen. Ich hab’ das erlebt, als wir mit Wiglaf und Max Goldt unterwegs waren, und die Leute, als Max Goldt auf die Bühne kam, nur deshalb schon gelacht haben. Er hat sich hingesetzt, hat »Guten Abend!« gesagt, und die Leute haben gelacht. Da kann jetzt Max Goldt nichts dafür.

Dann will man nur noch mit dem Hammer rein, oder?

Jedenfalls in dem letzten halben Jahr … Ich hab’ mich nicht wirklich entfernt, ich denke auch immer wieder nach, was ich jetzt doch noch für die Bühne machen könnte, aber vielleicht ohne selber bei der Vorstellung zu sein. Zum Beispiel mit dem Film. Robert Weber hat ja auch früher öfters Filme gemacht. Aber es ist eben sehr aufwändig.

In erster Linie bin ich jetzt dabei herauszukrie­gen, was wahr ist. Das klingt sehr albern, aber es ist wirklich so. Was wahr ist mit meiner Diag­nose und wie ich damit umgehe, aber auch was wahr ist im Leben. Also wie ich das alles sehe: meinen Konflikt mit dem Arbeitsamt, mei­nen Konflikt mit den Kontrolleuren, und was daran für mich einfach nur völlig eingefahren ist.

Eingefahren?

Zum Beispiel klare Feindbilder, die ich natürlich auch immer wieder hinterfrage. Oder auch bei den Kontrolleuren in der Situation selber, wo das gar keine Feindschaft ist, wo die zum Teil sogar selber lustig drauf reagiert haben. Aber eben all das, was ich tue, und was ich öffentlich auf der Bühne tue, und wie ich mit meinen Frauen umgegangen bin. So wie man eben denkt, wenn man kurz vorm Tod steht. Es ist ja wirklich so. Es ist auf jeden Fall nicht auszuschließen. Und da steht eben das Auftreten nicht vorne, sondern … – »Sondern?« Na ja, mal kieken.

Es ist ähnlich wie damals mit dem Schreiben, dass es mich nicht mehr interessiert. Und ir­gend­wann war es so, dass es gar nicht darum geht, dass es mich nicht mehr interessiert, sondern dass es einfach weg ist. Ich könnte es wahr­scheinlich auch gar nicht mehr. Ich müsste mich erst wieder richtig hinsetzen, um schreiben zu lernen. Und das kann mit dem Auftreten auch passieren. Ich hab das nun jahrelang gemacht, teilweise war es sehr gut, teilweise ist es völlig entglitten. Es kann auch sein, dass es völlig an Bedeutung verliert, dass ich irgendwann gar nicht mehr den Ehrgeiz habe, frei zu reden vor vielen Leuten. Ich hab’ früher immer die bewundert, die das konnten, so Leute wie Kapielski, als ich noch geschrieben habe, also nur geschrieben habe. Oder Höge eben mit seinen Bildervorträgen und so.

Jedenfalls war das für mich unerreichbar, weil man immer davon geprägt war, dass die Sache einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss hat und der Schluss eben immer sehr wichtig ist. Und beim Schreiben geht das ja, da hat man Zeit. Ich hätte mich das nie getraut. Es ist nicht so, dass ich mir das bewusst vorgenommen hab’: »So, ich will das jetzt auch können!« Es kam dann so, weil ich nicht mehr geschrieben habe, und dann fiel mir auch ein, dass das ja das ist, was Kapielski macht oder was Höge macht.

War das von Anfang an bei der Reformbühne so?

Dass ich frei geredet habe? Nein, die Gedanken waren schon noch geschrieben, aber handschrift­lich. Und dann wurden es immer mehr nur noch Notizen. Das hat sich immer mehr verschoben. Irgendwann hatte ich dann nur noch Worte notiert, damit ich überhaupt weiß, was ich erzählen will.

Und die Suche nach der Wahrheit – eher­ medi­tativ?

Ja, eigentlich schon. Man kann nicht wirklich er­zählen, was eine Situation ausmacht. Also, ich kann’s jedenfalls nicht. Das Komplexe, ich dachte, das könnte man am besten im Film darstellen, wenn man eine Stimme erzählen lässt, und gleichzeitig den Dialog. Oder wie Arno Schmidt das gemacht hat, mit den verschiedensten Ebenen: eine Klammer setzen und Klammer in Klammer. Das, was die Leute sagen, und das, was sie dazu denken. Und das, was der Autor da­zu denkt, noch mal in Klammern. Also so eine komplexe Art. Aber so schreibe ich ja nicht. Ich hab’ mich immer eher journalistisch orientiert. Wo mir das eben auffiel, dass man eine Situation nicht wirklich darstellen kann. Dass das eigentlich nur geht, wenn du einen ganz bestimmten Blick, also so ’ne Art Tunnelblick hast und reingehst in die Situation und dann alles andere aus­schaltest, also nur die Reaktion auf dich wahrnimmst. Am besten so wie Hunter Somsn das gemacht hat. Selber die Geschichten erleben, die man schreibt.

Wer?

Hunter S. Thompson. »Angst und Schrecken in Las Vegas« ist von dem. Dass du selber die Si­tua­tion schaffst, über die du dann schreibst.

Nach ’ner Tour saßen Wiglaf und ich in ’ner Pension, bei viel Alkohol. Und dann musste eben auch Wiglaf das eingestehen, dass es so willkürlich ist, über wen man jetzt herzieht und wie schlecht man einen macht. Dass das eigentlich keinen wirklichen Wert hat. Auch wenn man auf der Bühne dabei ganz wichtig guckt, so kritisch. Also Wiglaf macht das ja auch ganz gern. Jetzt hat er einen am Wickel, und da muss man was dazu sagen. Belanglos. Also, hm. Jein.

Er hat im Laufe der Jahre versucht, das zu relativieren, indem er wenigstens zwei Angriffen auch immer eine Liebeserklärung hinterhersetzt, an Peter Hacks oder Johnny Cash … Du machst das alles nicht schreibend, sondern denkend.

Ich könnte es nicht mal notieren. Hin und wieder erzähl’ ich mal was darüber. Wenn ich mit Maja spreche. Oder mit Robert Weber. Aber es ist eben nichts für die Bühne. Es würde nicht funk­tionieren. Man könnte es schon für die Büh­ne machen, wenn man richtig dran arbeitet und dann sagt: Gut, bei aller Relativierung, es ist jetzt auch wieder nur ein Ausschnitt von der Wirklichkeit, aber eben ein sehr kompakter Ausschnitt. So könnte man’s schon machen. Aber das ist nichts, was man schaffen kann, wenn man … – in einem Wochentakt zum Beispiel würde es gar nicht gehen. Als wir das Benno-Ohnesorg-Theater gemacht haben, das war ja im Monatstakt, also selbst das war schon schwierig. Obwohl ich diesen Anspruch gar nicht verwirklichen konnte und auch nicht wollte, es aber immer wieder versucht hab’, trotzdem. Es waren auch viel längere Texte als jetzt bei den Lesebühnen, keine fünf Minuten oder so. Ich hab’ also jedenfalls damals schon teilweise ziemliche Latten geschrie­ben, ’ne Viertelstunde.

Ich finde es sowieso erstaunlich, dass die Leute überhaupt durchhalten, anderthalb Stunden oder länger, einen Text nach dem anderen. Ich könnte mich an nichts mehr erinnern danach.

Ich glaube, es bleibt relativ viel hängen. Gerade bei dir. Ein Gedanke oder eine Formulierung. Oder auch so eine Art Spirit, die Dinge mal in einer bestimmten Perspektive zu sehen.

Ich glaube, dass das nachgelassen hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nicht mehr die Kraft gehabt habe auf der Bühne oder auch kon­zept­leer war. Oder dass insgesamt der Anspruch zurückgetreten ist, mit dem Publikum mehr zusammen zu machen. Es gab ja zu Anfang noch den Fotzenblock, als wir im Schokoladen waren zum Beispiel, wo man ein paar Mal vor irgendwelchen Demos war, wo dann an die hundert Leute gekommen sind. Was jetzt immer noch so ein bisschen ist bei dieser 2.-Mai-Demo, die ja daran anknüpft. Oder diese Verbindung, wo wir eben Publikumsspiele gemacht haben. Der Problemlaster zum Beispiel, wo die dann Zettel abgeben konnten mit ihren Problemen, und wir haben die dann spontan auf der Bühne gelöst. Diese Sachen sind ein biss­chen weg.

Eine Zeit lang sind die Leute immer wieder gekommen. Die waren dann auch bei einer Demo mit oder sonstwie. Da musstest du nicht jedes Mal neu etwas erläutern, wenn du eine zusammenhängende Geschichte über mehrere Folgen gemacht hast. Das ist jetzt weg.

Vielleicht hat es auch mit der Größe zu tun: dass man sich als Zuschauer nicht mehr als Teil dieser kleinen Sekte versteht, sondern die Distanz zu denen auf der Bühne wächst.

Das kann schon sein. Im Mudd Club hat es sich ja noch eine Zeit lang hingezogen. Es kann schon sein, dass auf Dauer die Größe … Das müsste man mal analysieren.

Das Gespräch mäandert. Es geht jetzt um die Un­ter­schiede der verschiedenen Lesebühnen, um Michael Steins Anfänge bei der Höhnenden Wochenschau, sei­ne Arbeiten fürs Radio, um Krebs und andere Krankheiten – gekürzt, gekürzt, gekürzt – und landet schließ­lich bei Improvisation, Buddhismus und Lohnarbeit.

Auf Stephen Nachmanovitch (1) kam ich im Jahr 2003. Und da kam ich dann auch auf Thich Nath Hanh (2).

Und der erzählt die Geschichte des Improvisa­tions­theaters?

Es geht gar nicht um Theater, es geht um Improvisation. Improvisation in Leben und Kunst. Ausgangspunkt ist die künstlerische Improvisation. Er ist Geiger. Und er fängt eben an mit der Frage: Was inspiriert uns? Wo sind die Blockaden? Wo tritt die Angst ein? Er erweitert auch den Begriff der Kunst. Das alles gilt auch für die Kunst des Lehrens, oder wenn man ein Auto repariert oder wenn jemand ein Arzt ist.

Das ist ja großartig. (lacht und liest) »Hab’ keine Angst vor Fehlern. Es gibt keine.« Ich kenn’ das noch ein bisschen anders von Miles Davis: »Es gibt keine falsche Note, solange du nicht die nächste gehört hast.« (3)

Für einen Freund von mir ist das Leben langes Sitzen und Meditieren. Für andere Zen-Buddhis­ten ist Arbeit eben die Meditation, da gibt’s die verschiedensten Entfaltungen. (lacht)

Bei Nachmanovitch musste ich an die Arbeits­debatte denken. Er sagt auch, dass dieser ganze Dualismus Quatsch ist: »Wir machen dies jetzt, um dann die Früchte zu haben.« Genauso in der Kunst: dass man die Kunst betreibt, um dann ein Ergebnis zu erzielen.

Das ist der Punkt. Aber das kriegst du in einer Gesellschaft, wo Lohnarbeit ist, fast nicht weg­gedacht. Aber trotzdem, ich finde das Gedicht gegen die Arbeit mittlerweile erweiterungsbedürftig. Was heißt mittlerweile, seit langem eigentlich.

Ich hab’ das ja oft noch kommentiert, ehe wir das gemacht haben. Also, es ist zwar okay so und gut so, und man sollte es auch gegen (unverständlich) vertreten. Aber eigentlich ist es Schwachsinn. Alles ist ein Fluch der Menschheit. Das ist auch beliebig, weißt du? Geld ist Fluch der Menschheit, Geißel der Menschheit, Krankheit ist eine Geißel der Menschheit (lacht), Ehe ist ’ne Geißel der Menschheit.

Ich weiß noch, wenn ich arbeiten gegangen bin, dann hat das mir auch immer Freude bereitet. In dem Gebet gegen die Arbeit ist ein biss­chen doppelte Moral, weil ich durchaus gern zwischendurch immer wieder in der Druckerei gearbeitet habe. Und mit dem Druckerberuf, das ging ja noch alles in den Siebzigern. Du konn­test ja einfach deinen Beruf aussuchen! Das ist heute unvorstellbar. Ich hab’ noch mit Freude gemacht, was ich gemacht habe, obwohl ich Klassenkampf gemacht habe zeitig. Aber eigentlich hat mir die Arbeit Spaß gemacht.

Trotzdem ist die weitergehende Unterscheidung auch existent. Es gibt zu viele sinnlose Produkte. Das ist vielleicht sogar befriedigend für die Leute, die das machen. Das kann man sogar einräumen, dann haben sie wenigstens was zu tun und kommen nicht auf dumme Gedanken oder so, aber es ist eben sinnlos. Be­stimm­te Produkte, die ich als Drucker auch gedruckt habe, wo ich dann dachte: »Das geht eigentlich nicht. Das müsste man sofort wieder wegschmeißen.« Wir haben ganz viele Prospekte gedruckt. Vierfarbige, richtig aufwändige Teile, wo schon von vornherein klar war: Zehn Prozent werden überhaupt, ach, keine Ahnung … Das hätte man gleich für den Müll …

Was ist denn dann mit uns, wenn wir einen Text schreiben, ein Bild malen? Wir verlangen ja auch Eintritt von unserem Publikum.

In diesem Fall könnte ich es gar nicht mal sagen. Es ist leicht, wenn es ganz offensichtlich etwas Schädliches ist.

interview: Dan Richter

Erfolg ist ein Gefängnis

Über Professionalität und Opportunismus.

Der Liebende lebt in der Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Liebesbeweise wecken Misstrauen. Liebe ist ein Gefängnis, weil sie dem Geliebten sagt, wer er sein soll. Der Künstler lebt in der Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Im Applaus sieht er schon die Steinigung. Erfolg ist ein Gefängnis.

Vor Publikum frei zu sein, erfordert Überzeugungen. Aber wann werden aus Überzeugungen Vorurteile? Wer ist sich treu und wer reaktionär? Was unterscheidet Professionalität von Opportunismus? Die gesellschaftlichen und per­sönlichen Umstände, unter denen die ersten Lesebühnen entstanden sind, existieren nicht mehr. Wir haben für uns gesprochen, mehr Werbung brauchten wir nicht. Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum war aufgehoben. Inzwischen sitzt im Publikum das Establishment von morgen, und die Opportunisten von heute stehen auf der Bühne. Der antikapitalistische Konsens der Nachwendezeit besteht nur noch als ironisches Zitat, als Kampf gegen Beck’s und den Milchkaffee.

Sind wir ein Kollektiv oder eine Interessengemeinschaft? Längst brauchen die Lesebühnen ihr Publikum und nicht umgekehrt. Aber der Künstler muss seinen Ruf zerstören, alles andere ist Besitzstandswahrung. Wir werden alt. Wer sich erinnert, wie es war, provoziert die Jugend. Die Reaktion ist ihr Altersrassismus und unsere pädagogische Geduld. Aber anders als Möbel werden Kunstwerke nie unmodern. Bei Stein war Alter keine Größe, es gab nur das Jetzt und den Tod. Und er war nie dort, wohin ihm seine Nachahmer zu folgen glaubten.

Talent ist die Fähigkeit, in gesellschaftlich rele­vante Situationen zu geraten. Stein hat sein Leben in eine gesellschaftlich relevante Situation verwandelt, bis zur Aufgabe des Privaten. Die wenigsten kannten seine Adresse. Wie A­dor­no sagt: »Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.« Noch den Krebs hat er als Forschungsreise inszeniert. Das erste Mal, dass ich ihn privat erlebt habe, war bei seinem Begräbnis.

Jochen Schmidt

Anmerkungen:

(1) Stephen Nachmanovitch: US-amerikanischer Musiker, geb. 1950

(2) Thich Nath Hanh: vietnamesischer Zen-Buddhist, geb. 1926

(3) Das erwähnte Zitat von Miles Davis: »When you hit a wrong note, it’s the next note that makes it good or bad.«