Blöde Lämmer, schwarze Schafe

Vierzig Jahre nach der Hochzeit der Studentenbewegung ist der Krawallschwabe Götz Aly mit seinem Buch »Unser Kampf 1968« noch einmal auf die Straße gegangen, um Randale zu machen. KLAUS BEHNKEN war dabei

So viel Verwirrung hatte man dann doch nicht erwartet. »Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück« will Pamphlet, persönliches Erinnerungsbuch und dennoch ein wissenschaftlichen Kriterien genügender Rückblick auf die deutsche Studentenbewegung sein und bleibt doch nur eine eifernde und geschwätzige Kampfschrift, eine mitunter konfuse Sammlung von Geschichtchen und Ressentiments. Sein Kampf, könnte man sagen und es ignorieren, wenn Autor Götz Aly nicht mit der Autorität seiner Veröffentlichungen zur Vernichtungspolitik des Dritten Reiches aufträte.

Um seinen Platz auf dem Markt der Achtundsechziger-Literatur zu sichern, brauchte Aly eine steile These, einen Gedanken, den seine Mit­bewer­ber nicht schon hatten, und er brauch­te Zeugen, auf die sich andere nicht stützten. Seine Behauptung ist simpel: Die braunen Studenten der Bewegungszeit haben in den roten der 1960er Jahre ihre Wiedergänger gefunden. Zwar, so Aly, wolle er Braun und Rot nicht gleich­setzen, nur die Schnittmengen herausarbeiten, wenn man jedoch das Buch gelesen hat, weiß man es besser: Unterschieden haben sie sich nur darin, dass die einen an die Macht gelangten, die anderen nicht. Dass zu seinem Aufgebot der »1938 aus Fürth vertriebene US-Außenminister Henry Kissinger« gehört, der 1969 gegenüber Kanzler Kurt Georg Kiesinger die gegen den Krieg in Vietnam demonstrierenden Studenten »nazistischer als etwa die NPD« nannte, zeigt die po­litische Beliebigkeit Alys. (Der Zeuge Kissinger, und das sei hier erwähnt, weil es etwas zur Sache tut, hatte wenige Monate zuvor als Sicherheitsberater des US-Präsidenten die Ausweitung des Vietnam-Kriegs auf Kambodscha durchgesetzt.)

Götz Aly ist Ende 1968 nach Westberlin gekommen, als sich der Zerfall von SDS und Studentenbewegung bereits abzeichnete und die Rebellen sich anfangs in Fraktionen und dann in vielen mehr oder weniger dogmatischen Grüppchen auf der Suche nach dem Proletariat verloren. Seine Erfahrungen hat er in der Westberliner Szene gemacht, im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), als Politologiestudent am OSI, dem Otto-Suhr-Institut der FU, in den Roten Zellen, später in der Roten Hilfe. So bleibt sein Blickfeld beschränkt auf den SDS und das eingemauerte Westberlin; das, was in West­deutsch­land passierte, ignoriert er fast völlig, es sei denn, es ließ sich dort ein besonders entlar­vendes Zitat auftreiben.

Zwar erwähnt Aly en passant, die Studentenbewegung der sechziger Jahre sei eine globale Erscheinung gewesen, »doch entwickelten sich in den Staaten, die den Zweiten Weltkrieg als Aggressoren begonnen hatten – den einstigen Achsenmächten Deutschland, Italien und Japan –, rasch besonders unversöhnliche, gewalttätige und ungewöhnlich dauerhafte Formen des jungakademischen Protests«. Er unterschei­det nicht mehr zwischen studentischen Bewegungen und den dogmatischen ML-Organisatio­nen und militanten und terroristischen Gruppen, die nach 1969 entstanden und die alles Mög­liche waren, nur keine jungakademischen Protestler mehr.

Die RAF, die italienischen Brigate Rosse und die Japanese Red Army zeigten in der Tat ein hohes Maß an Gewalttätigkeit, deren Ursachen jedoch sehr unterschiedlich waren. Bomben­attentate und politische Morde gab es auch anderswo. Dass sich in den USA mit den Weatherman und der Symbionese Liberation Army, spä­ter in Frankreich mit der Action Directe (die 1985 zusammen mit der RAF den Sprengstoffanschlag auf die US-amerikanische Rhein-Main Air Base verübte) ähnliche Gruppierungen bilde­ten, lässt Aly weg. Solche Differenzierungen würden seiner These, die Achtundsechziger seien »sehr deutsche Spätausläufer des Totalitaris­mus« gewesen – der Nazis also –, widersprechen. Die Achsen-These, von anderen Autoren ebenfalls goutiert, Norbert Frei z. B. in »1968. Jugend­revolte und globaler Protest«, ließe sich auch anders formulieren: War der »jungakademische Protest« in den ehemaligen Achsen-Staaten vielleicht deshalb so militant, weil dort eine konsequente Abrechnung mit der Vergangenheit sich nur sehr langsam vollzog, wie in der Bun­des­re­pu­blik, oder auch ganz unterblieb, wie in Japan?

Aly benutzt zur Wiedererkennung das griffige Label »1968«, das Jahr der Battaglia di Valle Giulia im März in Rom, der Mai-Kämpfe in der französischen Hauptstadt und der Oster-Unruhen nach den Schüssen auf Rudi Dutschke. Wie es dazu kam, ist nicht so wichtig: »Die Revolte dauerte von 1967 bis Ende 1969. Danach zerfiel sie rasch in dies und das.« Ihn interessieren 1968, die folgenden Jahre und vor allem dies und das. Nicht, dass Aly verschweigen würde, was in der Bundesrepublik und in der Welt aus irgend­wel­chen Gründen passierte, nur liest sich das auch so, aneinandergereihte pflichtschuldige Hauptsätze, die zeigen sollen, dass ihr Autor sich auskennt in der Zeitgeschichte. Man ahnt jedoch schon, dass am Ende des Dreh­buchs die Präventionsklausel erscheint: Zusammenhänge mit darauf folgenden Ereignissen sind rein zufällig und nicht gerechtfertigt. Aly fehlt, das hat Gerhard Scheit bereits in der Diskussion über dessen Buch »Hitlers Volks­staat« bemerkt, »jeder Begriff ge­sell­schaft­licher Synthesis« (Jungle World 17/05).

Ich schätze Alys Arbeiten, »Endlösung«, aber auch, trotz aller Bedenken, »Hitlers Volksstaat« (Jungle World 12 bis 17/05), weil sein Archivfleiß so schreckliche Belege für die Teilhabe der gemeinen Deutschen an der Beute der Nazi-Raubkriege zu Tage gefördert hat. Sie ergänzen das, was andere schon vorher zusammengetragen hatten, Wolfgang Dreßen z. B., auch er ein ehemaliger Berliner SDSler, der 1998 mit seinem Buch »Betrifft: ›Aktion 3‹« gezeigt hatte, wie die Deutschen ihre jüdischen Nachbarn verwerteten (Jungle World 07/99). Aber eben nur das. Die nach Erscheinen von »Hitlers Volksstaat« von Historikern geäußerten Einwände, Alys Kritik begreife die Nazi-Diktatur lediglich als Gefälligkeitsdiktatur, schweige von Ideologie, Staat und Kapital und bleibe daher am Ende moralisch, gilt auch für »Unser Kampf«.

Statt den Ursachen der Studentenrevolte politisch auf den Grund zu gehen, umkreist er jene Zeit lieber in Sätzen, die sein Bundesverdienstkreuz rechtfertigen: »Die Achtundsechziger­revolte nahm ihren heillosen Lauf, weil der alten Bundesrepublik der ideelle Kern fehlte, den eine Gesellschaft braucht.« (Das könnte auch von Benedikt XVI. sein – unter seinem bürgerlichen Namen Joseph Ratzinger ebenfalls als Zeuge aufgerufen –, der für das Elend der Welt den fehlenden Glauben verantwortlich macht.) Oder, schon etwas kritischer, aber nicht weniger allgemein: »Keine Frage, der Reformstau der späten Ade­nau­er­jahre musste überwunden werden.« Hoppla, die Reformen hatten sich gestaut? Etwa, weil es zu viele gab? Ich erinnere das anders.

Spiegel-Affäre, der Putsch eines Verfassungsorgans gegen die Freiheit der Presse, die ­Auschwitz-Prozesse, durch die endlich, 1963, die Abrechnung mit den Nazi-Mördern begann, »Schwabinger Krawalle«, Ostermärsche, Notstandsgesetze, der von der Bundesrepublik unterstützte Krieg in Vietnam, globale Konflikte, alles Marken und Erfahrungen für die, die in den vierziger Jahren geboren wurden – alles nur Halluzinationen »emotional frierender Kinder«, deren Eltern nach 1945 unfähig waren, ihnen Halt und Orientierung zu geben. Aly reduziert die gesellschaftspolitische Entwicklung auf eine plakative sozialpsychologische Banalität. So lässt sich jeder Protest, jedes Engagement delegitimieren.

Um seine anrührende These von der fehlenden Nestwärme zu erhärten, zitiert er Max Horkheimer, Mitglied der Kommission zur Beratung der Bundesregierung, der 1968 laut Protokoll feststellte: »Die Jugend sei infolgedessen mit Recht todunglücklich und setze sich in ihrer Verzweiflung selber ihre Ziele.« Nicht gerade der tiefste Gedanke des Mitbegründers der Kritischen Theorie, aber auch nicht falsch, sagt er doch zumindest, dass die Protestierenden einen Bruch vollziehen wollten mit einer Gesellschaft, die ihre Vergangenheit verdrängte und unfähig war, Empathie aufzubringen für die, die jenseits ihres Wohlstandes lebten. Die daraus entwickelten Einsichten und Vorstellungen waren häufig diffus, Vietnam als das Auschwitz von heute, diesen Hang zur fragwürdigen Metapher teilten sie mit Theodor W. Adorno und mit vielen klugen und klügeren Leuten. Das Bild mag falsch sein, unhistorisch, verharmlosend, die Dimension der Shoah sicher nicht begreifend, es diente jedoch nicht, wie Aly behauptet, der Schuldabwehr. In ihm spiegelte sich so etwas wie der Versuch wider, Konsequenzen aus der jüngsten deutschen Geschichte zu ziehen. Ich kenne niemanden aus jener Zeit, für den nicht die Jahre zwischen 1933 und 1945 der Auslöser für sein politisches Engagement waren. Außer den Anhängern des realsozialistischen Lagers, die aber spielten in der Studentenbewegung keine Rolle.

Alys Leitgedanke, Balg einer simplifizierten Totalitarismus-Theorie, ist nicht neu, aber zu Recht aus der Mode, Reste davon haben nur auf ideologischen Inseln überlebt. Schon 1968 hatte der Soziologe (in den neunziger Jahren Autor der Jungen Freiheit und rasender Anti-Amerikaner) Erwin K. Scheuch das mit seinem »prognostischen Meisterwerk« (Aly) »Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft« besser schlecht gemacht. Nun ist Aly Wissenschaftler und kein Journalist mehr, er weiß, dass die lebens­ge­schicht­lichen Wege der früheren SDS-Mitglieder Horst Mahler und Bernd Rabehl nach rechts – und man hätte auch den Carl Schmitt-Epigonen Günter Maschke (früher SDS Tübingen) und den Vorkämpfer für ein Viertes Reich, Reinhold Oberlercher (früher SDS Hamburg), nennen können – nicht ausreichten, um seine These zu belegen. Also versucht er, strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialistischem Deutschen Studentenbund und Sozialistischem Deutschen Studentenbund, zwischen den Nazis und den Achtundsechzigern herauszuarbeiten, in der Ideologie und in ihren Aktionsformen. Und da Aly nach einer sehr einfachen Methode vorgeht, »A ist B ähnlich, B hat die Eigenschaft b, also hat auch A die Eigenschaft b«, erzielt er beachtliche und überraschende Ergebnisse.

Die sehen dann so aus: Hatten die Studierenden in den sechziger Jahren nicht eine Hochschulreform gefordert? Die Aufhebung des Bildungsprivilegs? Die Öffnung der Hochschulen zur Gesellschaft? Hatten sie nicht Vorlesungen jüdischer Professoren gesprengt, nichtlegale Demonstrationen organisiert? Und hatten nicht schon die Nazi-Studenten vor 1933 eine Hochschulreform gefordert? Die Aufhebung des Bildungsprivilegs? Die Öffnung der Hochschulen zur Gesellschaft? Hatten sie nicht Vorlesungen jüdischer Professoren gesprengt, nichtlegale Demonstrationen organisiert?

Bedarf es mehr Beweise? Gut. Hatten sich Acht­undsechziger nicht »Bewegung« genannt? Wie die Nazis schon? Also! Nur ein Rechthaber wird noch darauf beharren, dass die deutsche Studentenbewegung ihren Namen dem Amerikanischen entlehnt hat, student movement, wie sie sich auch in ihren Aktionsformen an denen der US-amerikanischen Bürgerrechts­bewegun­gen orientierte, den Go-ins, Teach-ins, Sit-ins. Und nur ein Rechthaber wird Aly daran erinnern, dass es ein OSI-Politologe war, der 1968 »A Manual for Direct Strategy and Tactics for Civil Rights and All Other Nonviolent Protest Movements« in einer gekürzten deutschen Fassung veröffentlichte.

So viel auch zum Anti-Amerikanismus, von dem ich auch heute noch nicht weiß, was damit gemeint ist. Dass wir die Pax Americana (wie die Pax Sovietica übrigens auch) bekämpften, halte ich immer noch nicht für falsch. Sonst ist eher das Gegenteil richtig: Nicht Anti-Amerikanismus zeichnete die Studentenbewegung aus – Amerikanismus! Sangen wir 1968 bei der polizeilichen Räumung des besetzten örtlichen Luftschutzhilfsdienstes (!) in Tübingen etwa »Unsre Fahne flattert uns voran, unsre Fahne ist die neue Zeit«? Nein, wir hakten uns unter und gospelten »We shall overcome«. Anti-amerikanisch, nein, höchstens peinlich.

Um den nur gefühlten Antifaschismus des Protests zu verdeutlichen, berichtet Aly über die Auseinandersetzungen mit den Professoren Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal am OSI, beide wegen ihrer jüdischen Abstammung und ihrer politischen Tätigkeit nach 1933 aus Deutsch­land vertrieben, nach 1945 zurückgekehrt, »mit dem festen Vorsatz, den Neuaufbau und die republikanische Prinzipienfestigkeit zu fördern«. Während überall in Westdeutschland und in Westberlin Lehrveranstaltungen zum Gegenstand von Kritik und Störungen wurden, auf die sich die Veranstalter aber häufig diskursiv einließen, hatten Fraenkel und Löwenthal besonders empfindlich auf zugegeben nicht gerade höfliche studentische Interventionen reagiert. Der eine, der es schon als Zumutung empfand, wenn seine Vorlesung kritisiert wurde, war aber, ursprünglich Sozialdemokrat und später wichtigster Vertreter der Neo-Pluralismustheorie, selbst nicht zimperlich, wenn es galt, seine politischen Vorstellungen rabiat durchzusetzen. Aly erwähnt, ohne dass er darin einen Anlass für Kritik an Fraenkel sähe, dass dieser eine Übung seines Kollegen Ossip K. Flechtheim, auch er jüdischer Remigrant, zum Thema »Institutionen des zivilen Widerstands« mit pluralistischer Prinzipienfestigkeit verhinderte. Der andere, Richard Löwenthal, in seiner Jugend KPD-Mitglied, war inzwischen am rechten Rand der Sozialdemokratie angekommen und hatte den linken Studenten »Neomarxismus« und eine rückwärtsgewendete Revolution vorgeworfen. Auch hier zielt Aly auf eine Konvergenz von Links und Rechts. Löwenthal und Fraenkel waren jedoch nicht als Juden Zielscheibe von Kritik, sondern als politische handelnde Subjekte. (Ironie dieser Geschichte ist es, dass der von Aly bezweifelte Anti-Kapitalismus der Studenten sich weniger auf den akademischen Marxismus bezog, sie hatten ihre simple Parole »Kapitalismus führt zum Faschismus« einem 1936 veröffentlichten Aufsatz von Richard Sering entnommen. Diese Schrift kursierte während der Jahre 1967 und 1968 in unzähligen Nachdrucken. Richard Sering war der nom de guerre Richard Löwen­thals.) Es gab neben Fraenkel und Löwenthal auch Remig­ranten, wie Flechtheim und Jacob Taubes, um nur zwei Berliner Professoren zu nennen, die mit studentischer Kritik umgehen konnten. Aber das zu erwähnen, lässt Aly lieber.

Fast immer hat Aly seine Belege, Ereignisse und Zitate so ausgewählt, dass sie seine These stützen. Quellenkritik ist seine Sache nicht. (Ab und zu übersieht er, dass seine Schlüsse gegensätzlich sind, und das sind die angenehmen Passagen im Buch, bei denen man nicht das Gefühl hat, agitiert zu werden.) Der SDS hatte Hochschulgruppen in allen größeren Universitätsstädten, von ihnen, mit der Ausnahme Frankfurt a. M. und kurz auch Heidelberg, redet Aly nicht: Marburg, Freiburg, Aachen, Hamburg, Tübingen, Kassel usw. Der SDS war ein heterogener Haufen von Individuen, sein Bundesvorstand nicht mehr als ein Koordinationsbüro, und die Studen­tenbewegung wurde getragen vom Sozialdemokratischen Hochschulbund, Liberalen Studentenbund, von der Humanistischen Studentenunion, Mitgliedern der Evangelischen Studentengemeinde u. a. Kein Papier blieb ohne Gegenpapier, keine Wortmeldung ohne Widerspruch, keine Aktion ohne Kritik, aber Aly ignoriert das. Und selbst die schon einseitigen Belege werden, wenn sie nicht hergeben, was sie hergeben sollen, mit Schere und Klebstoff passend gemacht. So entsteht am Ende ein ideelles Gesamtflugblatt, das ungefähr alles enthält, was kritisiert werden soll.

Ein Beispiel, es steht für seinen Umgang mit vielen Zitaten in diesem Buch, mag zeigen, wie Aly vorgeht. Schon Meisterwerker Scheuch hatte sich 1968 auf diesen Ausriss gestützt. Im August 1968 erschien im Kursbuch Nr. 14 ein schon im Oktober 1967 geführtes »Gespräch über die Zukunft« zwischen dem Herausgeber Hans Magnus Enzensberger und den SDS-Mitgliedern Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler. Darin wird über die Möglichkeiten revolutionärer Veränderungen in den Metropolen diskutiert. Auf die Frage Enzensbergers, »Was würdet ihr machen, wie würdet ihr mit den Problemen der Stadt fertig werden?«, entwickeln die Genossen ihre Utopie einer von den politischen Strukturen der Bundesrepublik gelösten rätedemokratischen Kommune Westberlin.

Aly nimmt dieses Gespräch, das vor mehr als 40 Jahren stattgefunden hat, nicht als das, was es ist, ein Diskurs, präpotent und naiv zugleich, doch auch phantasiereich, dem Traum von einer Sache allerdings näher als der Realität. Für ihn ist es die Ankündigung einer Diktatur. Um das zu beweisen, muss er manipulieren. Er zieht zwei Passagen des Gesprächs zusammen, die an unterschiedlichen Stellen stehen und nahe legen sollen, der SDS habe über so etwas wie eine Endlösung für Rentner nachgedacht: »›Ein Großteil der Bürokraten wird nach Westdeutsch­land emigrieren müssen‹, meinte Rabehl und ergänzte für den Fall, dass die ›antiautoritäre‹ Umerziehung nach der Machtübernahme teilweise fehlschlagen sollte: ›Wo es ganz klar ist, dass Umerziehung unmöglich ist, etwa bei älteren Leuten (…), da sollte man den Betreffenden die Möglichkeit geben, auszuwandern.‹« Und wei­ter: »Im Übrigen machten die vier Geschichtsdenker die im überalterten Westberlin zahlreichen Rentner verächtlich: ›Man bekommt ein Grausen‹, so Rabehl, ›sie sitzen schon als Leichen dort auf der Bank.‹«

Aly vertraut darauf, dass niemand die Mühe sich macht, den Originaltext nachzulesen. Der Leser würde dann entdecken, dass Rabehl zwar denen, die in einer solchen Kommune nicht leben wollten, empfahl auszuwandern, über alte Menschen jedoch nicht nur etwas anderes, sondern das Gegenteil gesagt hat. Auf Semlers Frage, wie man angesichts der zunehmenden Veralterung in Westberlin diesen Lebensabschnitt noch produktiv machen könne, antwortete Rabehl: »Die Voraussetzung dazu ist, daß die Verkind­lichung und die vollkommene Apathie des Alters aufgelöst wird. Dazu müssen sie erst mal herauskommen aus ihren Höhlen, aus dem ganzen Milieu, das auf sie derartig bedrückend wirkt, daß sie nur dasitzen und auf den Tod warten. Wenn man die Leute auf den Bänken sitzen sieht, dann bekommt man ein Grausen, wenn man bedenkt, sie warten nur darauf, bis sie irgendwann einmal sterben, sie haben gar keine Ideen mehr, gar keine Vorstellungen, keine Hoffnungen, nichts mehr, für sie ist das Leben vorbei, und sie sitzen schon als Leichen dort auf der Bank. Die Alten müssen wieder hinein in die Zirkulationssphäre, aber auch in die Produk­tionssphäre (…) Es muß ihr Rat geholt werden.«

Für den Fall, dass ihm doch einer oder eine auf die Schliche käme und in diesem Gespräch nichts von seinen Projektionen finden würde, suggeriert Aly in den Anmerkungen vorsorglich eine Verschwörung: »Man kann nur ahnen, was sich auf dem Tonbandmitschnitt dieses Gesprächs noch alles finden würde. Wo ist er überhaupt?« (Wir wissen es leider auch nicht. Aber im April erscheint ein Sonderband des Kursbuch, »1968«, mit allen fünf 1968 publizierten Ausgaben, darunter auch die, die verrät, was Enzensberger, Dutschke, Rabehl und Semler für die Zeit nach der Machtergreifung planten.)

Alys Namensregister führt alle möglichen Personen an, wichtige und unwichtige, ein Name allerdings fehlt, der des Frankfurter Ador­no-Schülers Hans-Jürgen Krahl, neben Dutschke der einflussreichste Vertreter des SDS. Ihn zu erwähnen, gar zu zitieren, hätte Alys Konzept verdorben. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Rhetorisch geschliffen und – auch im bürger­lichen Sinne – sehr gebildet, entsprach er keineswegs dem Bild des pöbelhaften Aktionisten, der nichts anderes konnte und wollte, als Lehrveranstaltungen zu sprengen. Im Gegenteil, er verstand es, ganz im Sinne der Kritischen Theorie, auch in den mythischen und theologischen Beständen der denkerischen Traditionen jene Elemente zu entdecken, die auf einen emanzipatorischen Kern hindeuteten. Mit Sicherheit war es diese Fähigkeit, sich auf eine immanente Kritik einzulassen, die vielen reaktionären, aber auch liberalen Professoren zugleich Eindruck und Angst machte und Adorno zu dem kaustischen Bonmot provozierte: »Im Krahl da wohnt der Wolf.«

»Der Bundeskanzler: besorgt und besonnen«, so beginnt das Kapitel, in dem Aly seine Aktenfunde ausbreiten kann, die bisher der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, Diskussionspapiere und Protokolle aus dem Bundeskanzleramt, dem Innenministerium und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Während die Spitzelberichte schon 1967 die gleiche Qualität zeigen wie in den Monaten vor dem G8-Gipfel – Dämlichkeit scheint im BfV Tradition und Qualifikation zu sein –, wird aus den Ministerialpapieren deutlich, wie verbissen höhere Beamte des Innenministeriums darauf drängten, den Studenten die Härte des Staats zu demonstrieren. So wurde 1968 ernsthaft erwogen, einer Reihe von SDS-Mitgliedern die Grundrechte auf Presse-, Lehr- und Versammlungsfreiheit zu entziehen und das Postgeheimnis und die Eigentumsgarantie aufzuheben. Dass das nicht geschah, wie auch andere Maßnahmen nur Pläne blieben, rechnet Aly dem Bundeskanzler emphatisch an.

Schön­geist Kiesinger, generell als nicht entscheidungsfreudig in die Geschichte eingegangen und beraten von illustren Geistern, wartete lieber ab. Schon eine Seite weiter ist es mit der Geduld vorbei. Kiesinger, so berichtet Aly, habe bei einem Treffen der der CDU angehörenden Ministerpräsidenten und Kultusminister seine Parteifreunde ermahnt, angesichts der NPD-Wahl­erfolge »Festigkeit statt Entrüstung zu zeigen, die Rechtsverstöße radikaler Studenten, die immer deutlicher ›nihilistisch-anarchistische Züge‹ offenbarten, zu ahnden«. Ganz so liberal war der ehemalige stellvertretende Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung des Nazi-Außenministeriums und Verbindungsmann zu Goebbels’ Propagandaministerium dann wohl doch nicht.

Um den Antisemitismus in der Studentenbewegung zu belegen, bedient sich Götz Aly wiederum der gleichen Tricks, die ihm auch vorher schon erfolgreich schienen, dem der Verallgemeinerung und dem der Zeitverschiebung. Ir­gend­ein Papier wird, ohne den Namen zu nennen, einem »Vordenker« zugeschrieben und damit zu einem verbindlichen Zeugnis von SDS und Studentenbewegung gemacht. Aktionen und Ereignisse, die erst im Zerfallsjahr 1969 und später stattfanden, als das Feuer des studentischen Protests bereits erloschen war, erscheinen als untrennbar mit ihm verbunden. Die Störung einer Veranstaltung mit dem israelischen Botschafter in Frankfurt a. M. war die Aktion Einzelner und stieß auf heftige Kritik im SDS. Nicht anders verhält es sich mit der von Aly zitierten Presseerklärung des SDS-Vorstandes dazu. Er sprach nur noch für sich selbst.

Richtig ist, dass die Studentenbewegung die Geschichte Israels als des Staats der Shoah-Überlebenden aus den Augen verloren hatte. Sie wähnte, die Folgerungen aus der deutschen Geschichte gezogen zu haben, als sie ihren Blick nach Vietnam und hinaus in die Dritte Welt verlagerte. Dazu zählten auch die Palästinenser-Gebiete. Israel, verbündet mit den in Vietnam Krieg führenden USA, erschien undifferenziert als Besatzer und als nahöstliche Agentur der USA. Für die Erkenntnis, dass die USA, und wenn nur aus geostrategischen Interessen, über viele Jahre die einzige Macht waren, die Israels Existenz sicherten, waren wir tatsächlich blind. Die Ahnung, dass an der Einschätzung Israels etwas falsch sein könnte, war 1967 und 1968 da, sie manifestierte sich in dem hilflosen Begriff des Antizionismus. Das kann kritisiert werden, denn man hätte es besser wissen können. Es war gedankenlos und ignorant, aber, wenn dieser Begriff nicht völlig entleert werden soll, nicht antisemitisch.

Theodor W. Adorno schrieb 1969, kurz vor seinem Tod, in einem Brief an Herbert Marcuse: »Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt.« Wenn daran etwas ist, dann trifft das auch auf Götz Alys Buch zu. Sein Eifer ist der des Renegaten – eines, der damit 30 Jahre zu spät kommt. Wenn er gesagt hätte, dass niemand den Stallgeruch so leicht los wird, auch die nicht, die kein Stimmvieh mehr sein wollten, hätte man ihm wohl zustimmen müssen. Selbstkritik war denen nicht fremd, die sich damals politisierten, eher haben sie es, was das betrifft, manches Mal übertrieben. Aber es befremdet, dass Aly im Nachhinein die bravsten und die blödesten Lämmer küren und die schwarzen Schafe gleich noch einmal über die Klinge springen lassen will.

In einem Interview der Süddeutschen Zeitung wenige Tage vor Erscheinen des Buches sagt Götz Aly: »Es blieb 1945 nichts anderes übrig, als diese völlig überdrehte Gesellschaft (…) in eine Art Heilschlaf zu versetzen, in ein künstliches Koma.« Dass ein Faschismusforscher statt des politischen Begriffs Restauration die biologistische Metapher »Heilschlaf« benutzt, ist sein Problem. Nehmen wir aber an, so war es. Dann war es auch gut, dass irgendwann irgendwer kam, um diesen Volkskörper zu wecken. Und wenn’s nur die Achtundsechziger waren.