Kontrolle ist besser

Erst das Inzestverbot garantiert gesellschaftlichen Fortschritt. von marcus garbrecht

Wenn die Richter des Bundesverfassungsgerichts die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verwandten mit dem Schutz der Familie begründen und dabei mit »eugenischen Gesichtspunkten« argumentieren, mögen die Grundlagen für ihre Entscheidungsfindung zwar falsch sein, dennoch ist das Verbot inzestuöser Handlungen richtig.

Statt sich auf die Ebene des Boulevards einzulassen, dass es sich um die Bestrafung einer unschuldigen Liebe handelt, sollte man sich Gedanken machen, warum das Festhalten am Inzestverbot die Grundlagen der Zivilisation und damit die notwendigen Bedingungen gesellschaftlichen Fortschritts sichert. Nur durch eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Hintergründen der Gesetze, die das tägliche Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft regeln, kann man sich über deren Notwendigkeit oder Nutzlosigkeit streiten.

Die Basis des gesetzlichen Inzestverbotes bildet das in fast allen Gesellschaften vorhandene Inzesttabu. Sigmund Freud erklärte bereits 1913 in seiner Schrift »Totem und Tabu«, dass dies weniger an ein spezielles religiöses Konzept gekoppelt ist, sondern das Ergebnis sozialer Dynamiken ist. Ein Aspekt, der in der aktuellen Diskussionen vergessen wird, die sich hauptsächlich mit den tragischen Umständen des sich liebenden Geschwisterpaars Patrick S. und Susan K. befasst und dafür plädiert, in diesem Fall ausnahmsweise mal Liebe vor Recht gelten zu lassen.

Häufig wird mit der freien Partnerwahl argumentiert. Doch das Inzestverbot steht nicht etwa im Widerspruch zur freien Persönlichkeitsbildung und Entwicklung, sondern dient vielmehr dazu, sich aus dem Kreis einer der letzten übrig gebliebenen Stammesverbände, der Familie, zu lösen. Erst die Begrenzung der Wahl, mit wem man ins Bett geht, ermöglicht eine Sexualität, die sich von traditionellen Vorstellungen löst und damit zum wichtigen Bestandteil der persönlichen Freiheit wird, die nur jenseits der Scholle entwickelt und überwunden werden kann. Dank der Globalisierung ist auch für eine große Vielfalt an attraktiven alternativen Sexualpartnern außerhalb der Familie gesorgt.

Eine Auflösung des Inzestverbots wäre also weniger die Abkehr von christlichen Moralvorstellungen, sondern die Entfernung einer der Grundfesten urbaner Kultur.

Dass das Verbot nicht nur an ein überkommenes moralisches Konzept gekoppelt ist, kann ein Blick auf die Geschichte verdeutlichen. Auch in vorstaatlichen Gesellschaften wurden Inzestbeziehungen zu Verwandten ersten Grades geahndet. So beispielsweise bei den Hethitern, eine im zweiten Jahrtausend vor Christus lebende Kultur und frühe städtische Zivilisation in Anatolien. Die hethitischen Gesetzestexte stellen eine der ersten schriftlichen Manifestationen des Inzestverbots dar und zeigen damit die gesellschaftliche Relevanz des Inzesttabus.

Zwar hält sich die Anzahl der Inzestbeziehungen in modernen, westlichen Gesellschaften in einem überschaubaren Rahmen, aber es gibt dieses Phänomen. Die Argumente, die in der aktuellen Debatte gegen das staatliche Inzestverbot vorgebracht werden, zeigen, dass trotz der Jahrtausende alten Erkenntnis über die gesundheitlichen Folgen für ein Kind, das von Blutsverwandten gezeugt wurde, Vernunft als einzige Regulierung von Gesellschaft noch nicht ausreicht.

Denn Vernunft ist mit einer Einschränkung verbunden, die manche Menschen nicht leisten können oder wollen. Zu den unbedingten Voraussetzungen für Zivilisation zählt aber die Unterdrückung der Triebe, zu denen nicht nur der Todestrieb (und damit Mord) gehört, sondern auch der Lusttrieb (und damit Sexualität). Erst aus der Erkenntnis, dass die Unterdrückung der Triebe eine Kulturleistung ist, erwächst die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis, in dem die Individuen zur Gesellschaft stehen.

Doch statt genau dieses Spannungsverhältnis zu thematisieren, erfährt die Hippie-Ideologie, niemand dürfe vorschreiben, mit wem man ins Bett gehen solle, ein Revival und wird zum vermeintlich aufklärerischen Postulat freier Liebe verklärt. In einer Gesellschaft, die sich über ihre eigenen Grundlagen bewusst ist, bräuchte es vielleicht kein autoritäres Verbot mehr, um antizivilisatorisches Verhalten zu verhindern. Doch in einer Gesellschaft, in der Kindstötungen, Vergewaltigungen und familiäre Gewalt immer noch alltäglich sind, ist es von Vorteil, dass Mord und Inzest justiziabel bleiben.