Freiräume und Selbstbestimmung

Der Traum ist Haus

Von Ivo Bozic

Um Freiräume und um Selbstbestimmung geht es der Hausbesetzerbewegung. Die Mühe, diese Begriffe zu definieren, macht sie sich aber nicht. Wie links sind Haus­besetzungen eigentlich?

»Papa, wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden«, sagt das Mädchen vom Bauwagenplatz im Werbeclip einer Bausparkasse zu ihrem Hippie-Vater. Der Clip war enorm erfolgreich, obwohl der Witz eigentlich gar nicht funktioniert. Als »spießig« und attraktiv erscheint dem Kind der Traum vom »eigenen Haus«, dabei ist es ja in einem »Freiraum« groß geworden, in dem die Heimstätten den Bewohnern so sehr eigen sind, wie es sich ein normaler LBS-Spießer in seinem Reihenhaus niemals vorstellen kann. Gleichzeitig gleicht so mancher Bauwagenplatz dem spießigsten Schrebergartenidyll, inklusive der dort herrschenden Vereinsmeierei. Das ist der eigentliche Witz, oder er wäre es, wenn die Erkenntnis dahinter nicht so ernüchternd wäre.
Worum geht es jenen Linken, die sich als Hausbesetzer bzw. Squatter organisieren? Um »Freiräume«, um den Kampf gegen Gentrifizierung der Stadt, Kommerzialisierung und Wohnraumspekulation, um ein »selbstbestimmtes Leben«, um Kollektivität, um »Gegenkultur«, um Politik in der ersten Person, um das richtige Leben im Falschen, um den Ausbruch aus autoritären Verhält­nissen in Schule und Elternhaus.
Zahlreiche Motive, über die man allesamt bei Marx nicht viel finden wird. Traditions- und Parteilinke, Kommunisten konnten deshalb noch nie viel mit diesem Politikansatz anfangen. Zum Glück! Man konnte – im Westen – daher prima linksradikal sein, ohne je mit Mao, Marx und Mani­fest in Berührung gekommen zu sein. In der anarchistischen Bewegung hingegen gab es von Beginn an zahlreiche Traditionen des kollektiven Zusammenlebens und alternativer Kulturformen – manche davon waren allerdings reichlich anti­zivilisatorisch. So ist die Squatter-Bewegung denn auch größtenteils eher anarchistisch als autoritär, zumindest nominell, im Grunde ist sie der letzte verbliebene Teil der Autonomen.

Der libertär-antiautoritäre Ansatz der Squatter-Szene ist auch ihr am meisten emanzipatorisches Potenzial, darin unterscheidet sie sich sehr wohl­tuend von autoritären Staatskommunisten. Aller­dings, das hat Joachim Bruhn in der Jungle World (05/08) treffend beschrieben, kann auch die Vorstellung vom »Staat an sich« und die dem entgegengestellte »antiautoritäre Politik in der ersten Person« ohne große Brüche in die Rezeption des Staates und in die Karriere des Berufspolitikers führen, »dem nichts über sich selber geht«. Und was der Hausbesetzer mit »Selbstbestimmung« umschreibt, nennt er oft genug später als Kleinunternehmer dann »Selbständigkeit«. Wenn »Selbstbestimmung« wie so oft kulturell definiert und mit der Überzeugung verbunden wird, die eigene Kultur sei eine unterdrückte, der zu ihrem Recht verholfen werden müsse, liegt sie zudem nicht fern von völkischen Befreiungsideologien. Es verwundert deshalb nicht, dass gerade katalanischer und baskischer Nationalismus in dieser Szene gut verwurzelt sind – und andersrum.
Ein Prinzip des Squattens ist die Illegalität. Es ist illegal, ein Haus zu besetzen, und es bringt jeden, der das tut, automatisch in Konflikt mit »dem Staat« und dessen Autorität. Während die Alternativ- und Aussteigerszene ihre Nische im System suchte und fand, stehen Hausbesetzer quasi mit ihrer ganzen Person gegen den Staat, der diesen Gesetzesverstoß wieder zu negieren versucht. Feindbild Nummer eins des Haus­be­set­zers ist daher meist die Polizei. Das ist zwar keine wirklich radikale Gesellschaftskritik, aber eine antitotalitäre und staatskritische Einstellung.
Über das Prinzip der Staatskritik mittels Gesetzesverstoß ließe sich eine interessante Debatte führen. Darauf soll an dieser Stelle jedoch verzichtet werden, schließlich thematisiert auch die Squatter-Bewegung dies nur selten. Denn so sehr es eines der Grundprinzipien ihrer Politik ist, so sehr geht es dann doch bei jeder Besetzung schnell darum, das Haus oder Projekt zu legalisieren und Verträge abzuschließen. So liefert das Netzwerk der europäischen Hausbesetzer auch keine Aufklärung darüber, welche Hausprojekte nun tatsächlich noch besetzt, also illegal sind und welche bereits legalisiert. Lieber spricht man über die entstandenen und zu verteidigenden »Freiräume«.

Wovon sind diese Freiräume frei? Vor allem frei von Raum. Die Zimmertür hinter sich abzuschlie­ßen, ist in besetzten Häusern nicht üblich. Wer morgens eine neue Liebschaft an den Frühstücks­tisch mitbringt, hat das allgemeine Gesprächsthema des Tages geliefert. Die oft beschworene Selbstbestimmung, die in einem Haus­projekt herrscht, ist die des Kollektivs, nicht die des Indivi­duums. Die wunderbare Freiheit, nicht mit vierzig Leuten über Nicaragua-Kaffee, Mülltrennung, Neueinzüge, Gebäudeschäden und das richtige Transparent am Fenster bis zum bitteren Konsens diskutieren zu müssen, lernt der ehemalige Bewohner eines Hausprojekts in seiner ersten Miet­wohnung kennen. Eine der schönsten Hymnen auf die Privatsphäre (»Ich brauch’ meine vier Wän­de für mich«) stammt von einem langjährigen Kollektivwohner und Ikone der Hausbesetzerbewegung, Rio Reiser, und entstand, als er längst zurückgezogen in einem Landhaus in Nordfriesland wohnte, wo ihn nur zwei Schafe gelegentlich durchs Fenster beäugten.
Die meisten dieser »Freiräume« in den besetzten Häusern und auf den Bauwagenplätzen sind vor allem frei von Menschen, die eine andere als die in der Szene gerade beliebte Kultur pflegen, frei von Senioren, frei von Rollstuhl- und Harley-Davidson-Fahrern, frei von Fabrikarbeitern, Büro­angestellten, Bennetton-Verkäuferinnen, Goethe-Verehrern und Apothekern. In diesen »Projekten« versammeln sich vor allem jene, auf die die Stadt ansonsten nicht gerade zugeschnitten ist. Für Punks, Hippies, Globetrotter, Sprayer, Jung-Bohemiens, Veganer u.a. stellen diese »Freiräume« tatsächlich einen Raum dar, einen unkommer­ziellen, den sie woanders in der Stadt vergeblich suchen. Das fragwürdige Verhältnis von Indi­vidualität und Identität einmal beiseite gelassen, kann man immerhin feststellen, dass, ganz wertfrei gesprochen, besetzte Häuser einer bestimmten Kultur einen Raum verschaffen, den sie sonst nicht hätte.
Mit »Freiraum« ist in der politischen Argumen­tation dieser Szene aber eher die Freiheit vom Staat gemeint. Allerdings: In der Mietwohnung steht definitiv seltener die Polizei neben dem Bett als im besetzten Haus. Die Tatsache, dass man sich »dem Staat« mit einer Enteignung in Form einer Hausbesetzung entgegenstellt, bedeutet nicht, dass man selbst mehr Freiraum gegen­über dem Staat und seinen Institutionen erlangt, sondern im Gegenteil, dass »der Staat« fortan ohne Unterlass bedrohlich über einem schwebt.
Der »Freiraum« soll jedoch auch Freiheit vom Kapital sein. In der Tat entzieht sich der Hausbesetzer der Kommerzialisierung des Wohnens und stellt die Eigentumsfrage neu (»Die Häuser denen, die drin wohnen«). Nicht wer wie sonst üblich die beste soziale Absicherung vorweisen kann, erhält einen Mietvertrag, sondern einziehen darf, wer besonders gut zu den anderen Bewohnern passt – politisch, kulturell, sexuell, bezüglich des Alters und der Essgewohnheiten. Kurz: Wer in ein besetztes Haus ziehen möchte, wird durchleuchtet wie jemand, der sich um einen Job als Sicherheitsbeamter auf dem Flughafen bewirbt.

Dass Hausbesetzungen per se der Privatisierung des öffentlichen Raums entgegenstehen, ist nicht wahr. Es entstehen neue, exklusive Privaträume einer bestimmten Szene. Nicht die Abschaffung der Rollen des Hauseigentümers und des Hausmeisters ist das Ergebnis, sondern deren Aneignung. Sich einfach zu nehmen, was einem zusteht, ist ein zentrales Motiv für jeden Besetzer. Man kann das als vorzivilisatorisch oder animalisch denunzieren, oder man kann es als Befreiung aus der zugewiesenen Ohnmacht bejubeln, beides ist richtig.
Zu Recht steht hinter einer Hausbesetzung die antikapitalistische Forderung, die das Recht auf Wohnraum beinhaltet und das Wohnen dem Markt entziehen will. Allerdings führt sie leicht zu einem personalisierten, strukturell antisemitischen Kapitalismusverständnis, das den Speku­lanten selbst als Anfang allen Übels sieht (»Miethaie zu Fischstäbchen«). Ich selbst habe als junger Hausbesetzer einst eine Spekulantenpuppe angezündet; in Frankfurt am Main konzentrierte sich die linke Agitation gar auf den »jüdischen Spe­kulanten« Ignaz Bubis.
Der Kampf gegen Gentrifizierung, gegen die Kom­merzialisierung der Stadt, wird ebenfalls gerne von Hausbesetzern aufgegriffen. Allerdings gibt es viele Beispiele dafür, gerade in Berlin, wie Hausbesetzungen der Ausgangspunkt der Aufwertung bestimmter Stadtteile – in Kreuzberg und Friedrichshain – waren (»Instandbesetzen statt Kaputtbesitzen«). Nicht trotz, sondern wegen der Hausbesetzer-Geschichte in diesen Kie­zen ist Kreuzberg heute ein blühender grün-liberaler Alternativbezirk und Friedrichshain so ungemein hip, dass sogar Universal Music und MTV dort hingezogen sind.
Soll man nun bei all dieser Kritik zu dem Schluss kommen, die Tatsache, dass es kaum noch besetzte Häuser und nur noch Rudimente der dazugehörigen Szene gibt, sei zu begrüßen? So einfach ist es nicht. Zöge man den libertär-­anarchischen Teil von der Linken ab, bliebe die Staatslinke übrig. Das kann niemand, der bei Verstand ist, wollen. Außerdem lässt sich nicht verleugnen, dass viele Menschen, und ich schließe mich davon nicht aus, eine verdammt gute und aufregende Zeit in besetzten Häusern hatten oder haben. Aus nicht wenigen ehemaligen Squats sind angenehm undogmatische politische Hausprojekte, Räume für Initiativen, Treffpunkte und Kneipen oder einfach sympathische und preisgünstige Wohngemeinschaften entstan­den. Und die dem ganzen Politikansatz zu Grunde liegende Gegnerschaft zur Obrigkeit ist ein wirksames Serum gegen totalitäre Tendenzen auch in der Linken.
Der LBS-Werbespot zeigt jedenfalls, wie attraktiv der Traum vom eigenen Haus ist. Letztlich träumen der LBS-Spießer und der Hausbesetzer denselben Traum. Die Hausbesetzer investieren zu dessen Verwirklichung Stress mit der Polizei – der Spießer investiert in den Bausparvertrag. Wie uncool!