Eine Auswahl seiner Texte

Dummheit an allen Ecken

Er war Schriftsteller, Verleger, Autor zahlreicher Satiren, Sprachkritiker, Bierbrauer, Pilz- und Musikexperte. Im Februar des ­vergangenen Jahres nahm Michael Rudolf sich das Leben. Vor wenigen Tagen wäre er 47 Jahre alt geworden. Das vorliegende Dossier präsentiert zu seinem Geburtstag eine kleine Auswahl seiner Texte.

»Er konnte streiten, schimpfen, Tiraden schmettern, dass man einen Polizeieinsatz befürchten mochte.«
Michael Sailer über Michael Rudolf

»Habe ich die Fresse von einem, der hienieden ­irgendeine Aufgabe hat?«
Emile M. Cioran

Wozu?

Gestern wurde ich unverhoffterweise mit einer Sache bekannt, die gemeinhin das Leben genannt wird. Sicher war das gleich ein bißchen viel auf einmal, aber daß für die Tatsache, einfach dazusein, ein Extrawort appliziert wird …  Da steckt doch mehr dahinter?!
Und richtig:
Damit das Leben sich seiner sublimen Handhabung nicht widersetzt, muß der daran Interessierte bestimmte zerkleinerte Brocken, Breie und dünnere Brühen zu sich nehmen, die auf wundersame, nicht aber in jedem Falle wünschenswerte Weise den Körper wieder verlassen. Vorher müssen kleine runde Metallplättchen und rechteckige Papierfetzen gegen totgemachte Tiere und Pflanzen eingetauscht werden. Aus denen werden dann diese Brocken, Breie und Brühen gewerkelt. Der Tausch klappt im übrigen nicht mit jederlei Metallplättchen. Auch selbstgemachte Papierstückchen: Fehlanzeige.
Eine ganz bestimmte farblose Brühe nimmt der Lebende zum Einreiben. Waschen wird das genannt, und es soll erfrischen. Wie zu erfahren ist, empfiehlt sich dieser Vorgang täglich.
Um mich außerhalb der Wohnung bewegen zu können, soll ich mich in Tuche verschiedenster Art hüllen; die anderen machten das auch. Zudem, wird mir versichert, bräuchte ich dann nicht zu frieren. Doch soll es andere Gegenden geben, wo es riesig heiß sei und die Lebenden trotzdem angezogen herumliefen. Davon werde ich ganz unklug im Kopf.
Um andere, die auch leben, nicht zu molestieren, muß der Lebende bestimmte Körperöffnungen ständig geschlossen halten. Nur unter dieser Bedingung erklären sich diese bereit, eine Sache zu praktizieren, die Zusammenleben heißt. Oberstes Ziel dieses Zusammenlebens aber ist, so wird mir weiterhin verraten, möglichst vielem Nachwuchs auch das Leben zu ermöglichen. Am Körper sind dazu merkwürdige Apparaturen zum wechselseitigen Ein- und Abfüllen von bestimmten, für das wechselseitige Ein- und Abfüllen vorgesehenen Flüssigkeiten angebracht. Ergebnis ist ein kleiner Mensch, der nicht mal laufen oder sprechen kann, selbst das Stehen und sogar das Sitzen muß ihm mühsam beigebracht werden, daß man darüber desperat werden möchte.
Wenn es die Leute (das sind die anderen, die auch leben) juckt, schlagen sie nach Verabredung mit Knütteln aufeinander ein. Bei manchen dieser Stöcke kommt sogar Feuer vorn raus. Haben sie solche nicht zur Hand, so machen sie sich die Motion unter Ausrufen der Geringschätzung und Schadenfreude mit Armen und Beinen. Da kommt jedoch kein Feuer vorn raus. Ach über solch entsetzliche Spektakel.
Kluge Leute behaupten unbeirrt, für einen rechten Simpel sei das Leben ohne Gifte durchaus zu ertragen, nur weiß keiner, wozu es eigentlich gut sein soll.

Hier ein Haufen, da eine Höhle

Bücher sind eine rechte Last. Wer schon einige Male umgezogen ist und mehr als fünfzig dieser Dinger besitzt, wird das bestätigen können. Unglaublich, welch physisches Gewicht Bücher vorzuweisen haben, da verblaßt jeder Kleinwagen, jede Waschmaschine, jede Schwiegermutter. Millionen Menschen kenne ich, denen das Eigentumsrecht über selbst ein Buch fremd ist oder die lieber ihr Sparbuch als solches ausgeben. Sie aber sollten aus Überzeugung zu denen gehören, die viele Bücher besitzen wollen und das öffentlich bekennen.
Bücher sind eine rechte Lust. Comic-, Schund- und Pornoheftchen dürfen getrost als Einstiegsdroge herhalten, später Paperbacks, und dann gibt’s kein Halten mehr: Wittgenstein, Pilcher, Walser. Kleindiebstahl, Tausch, Schenkung, selbst mündlich abgeschlossene Kaufverträge in Buchgeschäften vermehren den Bestand auf wundersame Weise. Sind Sie Rezensent beziehungsweise selbst Schreibender, verlieren Sie mit der Zeit vollends die Kontrolle. Die Post­beamten legen Ihnen vertraulich die Anschaffung eines größeren Briefkastens nahe, die Lebensgefährtin eine größere Wohnung. Büchernarren ziehen nicht etwa um, weil sie ihre Wohn­lage verbessern oder desperaten Nachbarn entkommen wollen. Nein, die vielen Bücher müssen schließlich Platz haben. Dabei gelten Bücher einrichtungstechnisch durchaus als attraktiv – denken Sie nur an die Buch­attrap­pen der Möbelhäuser. Wie auch immer: Fenster und Türen wollen ansatzweise begehbar sein. Neigen Sie zur Fortpflanzung im herkömmlichen Sinn, können einige Stapel notdürftig für ein Kinderbettchen ausgehöhlt werden. Wer dauerhaft keine Menschen um sich duldet, der möge wenigstens mit Büchern vorliebnehmen. Die von der geistig puckligen Verwandtschaft und Bekanntschaft unermüdlich repetierte »Hast du die alle selber gelesen«-Frage gibt Ihnen zudem das Recht, Nichtleser unverzüglich hinauszuwerfen.
Irgendwann sagen Sie zu dem aus allen Ecken und Schränken quellenden Bücherhaufen »Biblio­thek«, vermutlich haben Sie auch ein Zimmer, in dem es besonders wimmelt. Darin treffen Sie sich mit Schwestern und Brüdern im Geist und parlieren über Bücherbeschaffungskriminalität. Sie können aber auch darüber reden, was Sie wiederum aus Büchern erfahren haben: was Heino so getrieben hat, wie Knoten gemacht werden oder warum es Fußnoten gibt, welche Geheimnisse die Knochen verraten, womit Gott seine Freizeit verbringt, was Tiere so kochen und ob sie in den Himmel kommen. Bücher, insbesondere, wenn man sie liest, sind eine gerechte List gegen Dumm- und andere -heiten. Wer hätte das gedacht?
Über all diesen Gesprächen wird gern vergessen, daß eine Wohnung, die Ihrer ungehemmten Büchernarretei entspricht, einfach nicht zu den erschwinglichen Dingen dieser Welt gehört. Was aber tun? Bücher verschenken? I wo. Sie haben nichts zu verschenken! Verkaufen? An wen? Jeder Buchhändler ist froh, ein Buch verkauft zu haben. Wegwerfen? Sind Sie verrückt? Verbrennen gar? Niemals. Stiften? Der nahebei gelegenen öffentlichen Bibliothek oder Blinden- und Versehrtenheimen? Hm. Aber wie viele? Und welche? Aus leidvoller Erfahrung sage ich Ihnen: Die Zeit der Auswahl wäre eine zu kostbare und die Auswahl an sich etwas Schmerzendes und Quälendes.
Also lassen Sie alles, wie es ist, auch wenn Sie – wie ich –in einer ziemlich würdelosen Haltung mit einer Hand diesen Artikel eintippen müssen, während Sie mit dem Rest des schwächelnden Körpers zwei ganz schön wacklige, turmhohe Stapel Schmutz- und Fachliteratur davon abhalten, auf die Computertastatur zu polterrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr

Fluch über die Fichte

Die Fichte ist ein gründlich mißlungenes Imitat, ein verlogener Kitschersatzbaum. Sie erscheint uns wie der Albtraum likörpralinenberauschter Abteilungsleiter eines Baumarktes oder Gartencenters. So stellt sich der zum Kleinbürger verkommene Prolet seine Natur vor: als Kleckermischung aus Friedhofbestockung, Modelleisenbahnzubehör und Weihnachtsbaum, ordentlich und anständig gewachsen und Sichtschutz gewährend. Wird ihm der Pestbaum zu groß, kürzt er ihn rigoros auf 2,10 Meter Höhe, wie in jedem zweiten deutschen Reihenhausvorgärtchen zu beobachten ist. Damit nicht genug.
Die Fichte ist das Schwein unter den Forstbäumen. Vor aller Augen wird sie in Fichtenoffenställen dicht an dicht gemästet. Selbst wo der letzte Wassertropfen vor drei Millionen Jahren verdunstet ist, Erdkrumen in nur mikroskopisch winzigen Partikeln anzutreffen sind und das ganze Jahr über Nacht ist, »gedeiht« sie noch, die Baumsau, die schamlos von ihrem eigenen Abfall lebt.
Die Fichte ist stinkend faul. Sie speichert kein Wasser – sie braucht keins, sie braucht nur ihresgleichen. Sie weiß nicht, was wahre Größe ist, sie wird einfach nur groß, und zwar schnell.
Die Fichte ist feige, denn sie kennt die Einzahl nicht. Nur in der Gruppe, in der großen Schonung, da riskiert sie die große Lippe.
Die Fichte ist komplett unfähig. Nicht wie bei der erhabenen Tanne, die ihre Zapfen munter gen Himmelsbogen reckt, reichen Kraft und Willen der Fichte nur dazu, sie schlapp herunterhängen zu lassen. Wie das aussieht! Da hilft ihr der Tarnname »Rottanne« auch nicht weiter. Obendrein lehnen ihre minderbemittelten Nadeln eine geregelte Humusbildung ab.
Die Fichte ist scheißendoof. Zersägt eignet sich ihr »Holz« allenfalls für Wäscheklammern oder lackierte Einbrennarbeiten mit würdelosen Motiven und Achtmalklugheiten (»Bau mir ein Haus aus Schweinskopfsülze!«). Ihre Bröselspäne dienen dem Schwedentrunk zur Basis und als Convenience Food für Borkenkäfer, seit jeher wer­den sie Würsten beigemischt. Den nach ihr benannten Quatschkopp-Philosophen wollen wir nicht vergessen, und die Bierzeltfaschisten-Combo De Randfichten auch nicht.
Wahrscheinlich ist die Fichte auch schwul. Sicher aber ist die Fichte böse. Keiner von den Baumkollegen kann sie leiden, und doch ist sie nicht weg- und totzukriegen.
Die Fichte amtiert als flachwurzelnder Dumm­baum, wie die noch dümmere Kiefer, über die Worte zu verlieren erst recht nicht lohnt. Weil ihre Wurzeln nix taugen, stürzt sie schon bei Windstärke Null, also praktisch bei Wind­ge­schwin­digkeiten von über einem Millimeter pro Tag um. Bumm! Deshalb werden Fichten so eng gepflanzt: Damit sie einander stützen, die blöden Dinger. Daher steht die Fichte stets zu dicht, eigentlich ist sie nicht ganz dicht im übertragenen Sinn, auf den Wald­boden bezogen ist sie zu dicht und nimmt ihm das Licht. Widerstand erstickt sie im Keim. Da wächst nichts. Und was einmal wuchs, stirbt einen elendigen Tod unter der Fuchtel des Fichtenfaschismus. Bald darauf sterben selbst der Fichte untere Äste und Zweige ab und nadeln den Waldboden nazibraun zu. Dann hat sie die Bescherung. Wie ein Skelett steht die gemeingefährlich doofe Fichte da und glotzt bescheuert. Man möchte ihr eine scheuern. Oder ihr in den Arsch treten. Aber sie hat ja keinen.
Eine alte Försterweisheit besagt: »Willst du ein ganzes Land vernichten, pflanze immer fleißig Fichten!« Na also, warum halten sie sich nicht dran, die Arschgeigen.

Die Gasthausplage

Bier ist ein demokratisches Getränk, und sein Orbit heißt Wirtshaus, weil der Schankraum als gleichmacherisches Soziotop wahre Geselligkeit generiert. Ungezählt sind die Oden auf die Leichtigkeit, mit der die unterschiedlichsten Stände ihr Sein und Dasein und Sosein für ein paar Stunden beurlauben, um den flüssigen Kata­lysator des kleinen Glücks in sich einzuleiten. Draußen mag es drunter und drüber gehen, drinnen kann man durch bierschwangeren Odem die Oberfläche der blöden Erscheinungswelt mit angenehmen Fröhlichkeitspartikelchen bedämpfen. Der Untergang des Abendlandes scheint dann für einige Zeit suspendiert.
Gute Schankkunst funktioniert über den Dua­lismus von Einschenken und Schenken: Auf­merk­same Wirte schenken uns gutes Bier ein, und wir schenken ihnen und den anderen Gästen unsere Anwesenheit samt Atmosphäre. Einsames Biertrinken klappt nur in Ausnahmefällen. Im bayerischen Biergarten, auf dem frän­kischen Keller, im Stübl der oberpfälzischen Kommunbrauer gibt es keinen Fremden. Wenn wir ihr Bier trinken, sollen wir auch dazugehören. Bier ist uns ein warmherziger Nivellierer, der die gute Stimmung verstärkt und die schlech­te konsequent abmildert. Egal, ob es in südlich verbreiteten Maßkrugtonnen an den Rand der Verderbnis gedrängt wird oder in nördlich gehandhabten Fingerhüten schon vor dem Austrinken verdunstet.
Wirtshaus bedeutet: Jeder Tisch ist ein Stamm­tisch mit Nachrichten- und Naturalienhandel, ein Weiterbildungsinstitut mit integrierter Beicht­kajüte inklusive dezenter Eheanbahnung. Darin Müßiggänger, Welt- und Wurstbetrachter, Allesanzweifler und großspurige Jetzt-paßt-mal-auf-das-ist-nämlich-so-und-nicht-anders-Schwadroneure. Mit etwas Glück operiert hier die täglich neu zu konstituierende Kommandoebene eines Lebensverschönerungsvereines, der auf die normative Kraft des Prophylaktischen baut. Erst mal ein Bier und womöglich gleich noch eins hinterher. Und noch eins. Wer weiß, wozu es gut ist. Wer hier hockt, braucht kein Privatfernsehen.
Doch unser Lob bedeutet lediglich ein verzweifeltes Festhalten an guten Dingen, die im Schwinden begriffen sind. Angefangen hat es, als kleine Brauereien im Süden der Touristen wegen begannen, Pilsener zu brauen, die diesen Ehrentitel nicht verdienten, als im Norden auf einmal Weizenbiere gebraut wurden und als man die Dorfwirtschaften landauf, landab auf Teufel komm raus modernisieren mußte. Lichtere Fenster und Plastikgestühl sollten das manifestieren, was man in seiner allgemeinen Wohlstandsbesoffenheit vielleicht unter Res­tau­ran­tisierung verstanden haben mag. Es war aber nur die Restauration des Bösen. Als nächstes folgten die Szenekneipen in größeren Städten, ebenfalls mit betontem Hang zur Potthäßlichkeit, zu sozial unverträglichen Bierpreisen und dem strikten Vorsatz, uns irgendwas vorzusetzen. In etwa zeitgleich redete man wankelmütigen Gästen ein, sie müßten Weizenbier mit einer draufgeklemmten Zitronenscheibe trinken. Und für studienrätische Hossaeinmal­imjahrerlebnis­biertrinker ersann man die butzige Gasthausbrauereienplage.
Bald hatte man landüber seine wesentlichen Bausünden erkannt – nur um die nächste Klippe ästhetischer Tyrannei zu erklimmen: die Mediterranisierung des Interieurs inklusive eines italienischen oder griechischen Speisenschein­ange­bots. Unter das flächen- und raumdeckende Geraune schäbiger Halbweltoffenheit mixt man seit­her das Rumpelrabattrauschen aus 70er80er90er- und RTL2-Hits, die uns ungewohnt antizivilisatorische Reflexionen förmlich in den Mund legen. Und zu allem Verdruß möchte man im Gesundheitsministerium den Bierdeckel langfristig aus dem Verkehr ziehen, wegen gesundheitsgefährdender Mikroben und Bakterien aus verschütteten Getränken.
Nicht besser handeln die Produzenten. Dem sinkenden Bier-pro-Kopf-Verbrauch begegnen sie mit verwarsteinerten Mienen, idiotischem Trendgemixe und sensorischer Vereinheitlichung. Mit dümmsten Tricks und Trucks degradieren sie Getränkehändler zu Spielzeugverkäufern. Seit in jeder Brauerei mindestens ein neoliberaler Windkopf sitzen muß, gibt es alkoholfreie Biere, Lightbiere, Radler, Drybiere, Ice­biere, Vollmondbiere, Landbiere, die milden »Gold«-Marken und sonstige lächerlichen Sorten­hybride, die Biertrinker zur Zielgruppe abstempeln und Marktopportunismus zur Trendsportart umdefinieren.
Was der kluge Biertrinker aber unabhängig von seiner politischen Disposition schätzt, ist die Verläßlichkeit des Getränks. Eine Verläßlichkeit, die graduelle Abweichungen zuläßt, ihn aber mit einer zumindest vorübergehend sedativen Erwartbarkeit erwartet – was außerhalb des Wirtshauses nirgends mehr für ihn zu haben ist. Und natürlich ist der kluge Biertrinker der Bierlügen überdrüssig. Noch immer hält sich die Mär vom Bierbauch, als rühre die voluminöse Verlagerung des körpergestalterischen Schwerpunktes auf die optische Mitte nicht von unbeherrschtem Essen. Noch immer heißt es, ein gut gezapftes Pils brauche sieben Minuten. Wer der Dignität des Pilseners durch Abbreviatur rhetorische Gewalt antut, hat freilich solch schale Siebenminutenterrinen verdient. Und weil die moderne Schanktechnik einen richtigen Bierkeller und das prinzipielle Verstehen und das Lieben der Ansprüche eines moussierenden Getränks überflüssig macht, können heutzutage sogar Weintrinker Temperatur und Kohlenstoffdioxid auf idiotensicher einstellen und hernach das Glas schräg unter den Hahn halten, um es vorsichtig in einer Minute volltröpfeln zu lassen.
Die Kunst, eine standhafte und behütende Blume zu kreieren – früher unter dem Rubrum »gepflegte Getränke« imprägniert in den Ehrenkodex eines jeden besseren Wirtes –, gerät logischerweise in Vergessenheit. Und noch immer ist von Bier allüberall in verdrucksten Formen des Verklemmten zu hören. Als müsse man sich für den Trinkakt und seine seligmachende Quantifizierung entschuldigen, trötet es diminutiv »Bierchen«, »Schlückchen », »Fäßchen« etc., von anderen, noch würdeloseren Lexemen (»Hopfenkaltschale«, »Gerstenbrause«, »Kühles Blondes«) ganz zu schweigen. Die Dummheit zieht an allen Ecken.
Einst hieß es abschätzig, wer nichts wird, wird Wirt. Seitdem die Lokale zu Locations verwahrlosten, sind die meisten Wirte ein Nichts. Bewirtung aber ist mehr als nur Bedienung. Was uns fehlt, ist intelligenter Lokalpatriotismus, einer, der von Herzen kommt, der schlechte Biere und schlechte Lokale meidet, dafür von guten Lokalen und Bieren magisch angezogen wird. Und der dort seinen Frieden findet. Wenigstens für ein paar Stunden.

Was erlauben Fußball?

Ganz Deutschland ist von Fußballfans besetzt. Ganz Deutschland? Nein! Eine schweigende Minderheit hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Eine schweigende Minderheit, die noch resistent ist gegen das allgegenwärtig suppende Großklappengemisch aus Journalis­ten­­darstellern, Politikimitatoren, Wirtschaftssimulatoren und Werbeagenturen, dessen durch und durch verkommene Selbstbezogenheit sogar sittlich gefestigte Menschen daran hindert, ein fußball- und damit sorgenfreies Dasein zu fristen. Zu dieser Minderheit bekenne ich mich.
Gerne würde ich behaupten: Fußball ist mir egal. Doch es ist mir aus Gewissensgründen verwehrt. Es gibt kein Entrinnen vor ihm in der unendlichen Tiefe des öffentlichen Raumes. Also bleiben nur Liebe oder Haß. Ich habe mich für den Haß entschieden.
Dabei sind es nicht die »liebenswürdigen Marotten« einiger berufsjunger Männer. Es sind nicht die schmerbäuchigen, stetig biereinträufelnden Familienväter, deren schlachtreife Gattinnen zu kuschen haben und ihren visuellen Fußballfuror höchstens mit stichwortartigen Kommentaren unterbrechen dürfen.
Es sind nicht die Landbevölkerung und Vorstädte infizierenden Vereine, denen Norbert Blüm vor Jahren attestierte: »Verachtet mir die Vereinsmeier nicht! Sie halten die Gemeinschaft mehr zusammen als kluge soziologische Bücher. In W. gibt es weder Drogensüchtige noch Jugendsekten. Dafür Feuerwehr-, Sport- und Gesangsverein.«
Es sind nicht die alkoholisierten Kollektive, die eine nächtliche Zugfahrt mit minderjährigem Nachwuchs zur existentiellen Erfahrung werden lassen. Es sind nicht die rassistisch, antisemitisch und sexistisch verplombten Hooligans, die sich und andere ins Koma treten und um die körperliche Würde bringen.
Es sind nicht die angeblichen Skandale, nicht die Spieler- und Trainergehälter, die jedem Rüstungshaushalt eines mittleren Schurkenstaates Ehre machten, nicht der Wettbetrug.
Es sind nicht die »Tooor!«, »Abseits!«, »Foul!« und »Schieß doch!« blökenden Aasfresser in der Nachbarschaft, deren letzteren Imperativ man zu gerne aufgreifen möchte, wäre man nicht mit Nachsicht und Würde gereift.
Es sind nicht die Grünen-Parteitage, deren Abgeordnete Fernseher zum Fußballkucken ins Plenum stellen und dies für aber so was von kritisch und alternativ halten, daß sie auf der Stelle ein paar Bundeswehreinsätze zusätzlich befürworten müssen.
Es ist nicht das völlig nutzlose Geschwafel von »guten« (1860, Freiburg, St. Pauli, Schalke, Dortmund) und »bösen« Vereinen (Bayern, Bayern, Bayern, Energie Cottbus).
Es ist auch nicht deswegen, weil Fußball so ziemlich die einzige Mannschaftssportart sein dürfte, deren Spielergebnis auch ohne Schulbildung exakt erkenntlich ist.
Nein.
Es sind die Freundinnen, die bei Fußballsendungen Unhöfliches ins Telefon schreien, um ungestört bleiben zu können – wenn sie denn überhaupt abheben. Es sind die Freunde, die eine zivilisierte Terminplanung unmöglich machen, weil ihnen immer was Fußballerisches dazwischenkommt.
Es ist die Tatsache, daß die Montagszeitung stets die unlesbarste ist, weil der aggressive Sportteil mit seiner Gülle aus Fußballfront­bericht­erstattung, Spielerhalbnacktfotos und Pfennigweisheiten den kümmerlichen Rest in seinen Krallen hält. Fußballkommentare sind keine Meinung, sondern ein Verbrechen.
Es ist die Verwegenheit von der Stange, die sich aus der täglichen Müllanfuhr von Feuilleton, KiKa und H & M kostümiert und im Fußball das »Aben­teuer Ich« und sogar das »Abenteuer Leben« hallu­ziniert. Wo doch die von Event-Kaspereien durchseuchte Existenz jedes Normalbürgers trotz steigender Dosis immer öder zu werden droht.
Es sind die umnachteten Mietvisagen der akzeptierenden Medienarbeit, die granatendämlichen Zombies aus Politik, Kirche und Wirtschaft, die sich beim Fußball anbiedern, um irgendwie auch Pop oder cool oder beides zu sein. Denn wer nicht schön- und mittut, der wird nicht gewählt, dessen Quoten sinken, dessen Stuhl wackelt und dessen Produkte kauft kein Schwein. Noch nie war das Bekenntnis zum Mittelmaß so überzeugend.
Es ist die Affirma­tionsblase des polytropen Spaßspießertums, das eben deswegen das schlimmste ist, weil ihm nicht im Traum einfällt, daß es das moderne Spießertum ist.
Es ist die Diktatur der Distinktionsgewinnler von Linksaußen (!), deren gratismutige Protagonisten keine zehn Minuten in einem modernen proletarischen Haushalt und unter der Fuchtel seiner Wertvorstellungen – innerer wie äußerer – aushielten, die für Fußball die Mühen der untersten Reflexionsebene auf sich nehmen und gegen den Betrieb wettern, aber dreist von ihm profitieren.
Martin Büsser bemerkte, »Jugendliche« lernten einander am besten über das Abgleichen ihrer Vorlieben in Sachen Fußball, Popmusik und Bier kennen. In seinem und unser aller Interesse will ich nicht hoffen, daß er recht hat. Denn so ein Nachwuchs würde später ohne größere Umstellungen auf Mord und humanitären Einsatz abonniert sein. Mag der Fußball in der dritten Welt die einzige Chance sein, dem Elend zu entfliehen blablabla – bei uns verursacht er neues Elend, zum Beispiel Fußballcartoons. Außerdem haben wir genug Bälle. Für jeden einen.
Es ist der aufgeblasene Siebziger-Jahre-Feminis­mus, demzufolge Alice Schwarzer Damenfußballerinnen, Soldatinnen und Kanzlerinnen verherrlicht – und das Recht darauf, den gleichen, wenn nicht noch größeren Blödsinn als Männer zu verzapfen, für zivilisatorischen Fortschritt auspfeift.
Es ist, was die Geschichtsbücher dermaleinst als fragwürdige Triumphe der Sozialdemokratie verzeichnen werden: 1) die straffreie Verbreitung weiblicher Doppelnamen, 2) das 0,4-Liter-Bierglas, 3) Fußball auf allen Kanälen und durch alle Kanülen.
Es ist des Fußballs Allgegenwärtigkeit, das »Total-Theater« (Ror Wolf), welches seine Metastasen in die Benutzeroberfläche unserer Welt getrieben hat und eine verhältnismäßig vertraute Plage wie die Vanille-Dufttanne oder die Kaufhaus- und Gastro-Muzak geradezu harmlos erscheinen läßt. Weil deren Betreibern die Kaltschnäuzigkeit des Fußballs fehlt. Denn er vereinnahmt gnadenlos.
Und es ist die diffuse Gier nach Ritualen, nach Identifikation, nach Symbolen und – klar doch – Opfern. Denn so definiert sich der aftermoderne Freizeitfaschismus. Begeisterung sieht anders aus. Ob wir das Ende der Fußballhysterie noch erleben? Die Chancen stehen miserabel.
Vor zwanzig Jahren mochte Eckhard Henscheid mit seinem lichtschönen Diktum »Geld und Liebe sind die Säulen unseres Lebens. Das dritte aber ist der Fußball, ja er hat möglicherweise die Liebe schon überholt« noch partiell recht behalten haben. Mochte der Fußball einst ein Zeichensystem gewesen sein, welches Zuflucht bot vor einer als bedrohlich empfundenen bösen Wirklichkeit – heute ist Fußball längst selbst zur bösen Wirklichkeit geworden. Mochte er früher die vielleicht schönste Nebensache der Welt gewesen sein – in der modernden Moderne ist er die schrecklichste Hauptsache. Mochte die frische Hemdsärmeligkeit der Fußballverehrung früher sympathisch gewirkt haben – heute ist sie nur noch ärmlich. Mochte einst das Auswendigwissen sämtlicher Bundesligaergebnisse und Spielerbiographien als sympathisches Aufbegehren gegen den bürgerlichen Stinkekanon gegolten haben – jetzt ist es Herrschaftswissen. Und die Stadionjahreskarte der dazu passende Ariernachweis.
Die nach unten offene Schiedsrichterskala ist zum Gradmesser der Regression eines komplett willenlosen Gemeinwesens geworden und Fußball zum Straßenbegleitgrün auf dem Weg ins Verderben. Eine stützstrumpffarbene Elementarnull wie Franz Beckenbauer gilt ohne ironische Beigabe als zitable Person. Die Becken­baueri­sie­rung ist längst abgeschlossen und hat wie ein Zweikomponentenkleber alles zu- und seine Klone in jedem Fach festgekleistert: Guido Knopp als Historiker, Günter Grass als Literat, Claudia Roth als Politiker. Harald Schmidt als Humorist, Wladimir Kaminer als Medienrusse, Peter Sloterdijk als Philosoph, Tomte als Musiker, Tim Mälzer als Koch, den Spiegel als Nachrichtenmagazin und Ben Becker als Schauspieler. Opportunisten sind sie allesamt, die aus der Wahrheit Wahrheiten machen, weil ja die Vielfalt uns voranbringt. Nur – wohin?
Es ist wie mit der Religion. Die Fußballapostel geben sich gern als Verfolgte, obwohl sie überall den Ton angeben. Von der rotzreaktionären FAZ über die dümpeldumme Bild und die Schlafwagenkellner von Die Zeit bis zur nationalbolschewistischen Jungen Welt greift die Gleichschaltung, reicht die Infiltration des Schaumer-mal-Klerus. Berge überflüssiger Fußballbücher türmen sich selbst in der letzten Kleinstadtklitsche. CDU-re(di)gierte Radiosender kommen sich zum Platzen hip vor, wenn sie Fußballgedichte durch den geschundenen Äther wuchten. »Huch, die schwitzen ja richtig!« kreischen entzückte Redakteure und Literaturhäusler, denen man zehn Meter gegen den Wind ansieht und -hört, daß Mutti ihnen noch die Schnitten schmiert und beim Schnürsenkelbinden helfen muß – Gelegenheitsmenschen in Zwangsjacke und Spendier­hose, die Schweiß nur in Verbindung mit Angst vorm Chef, den Anzeigenkunden und dem common sense kennen. Mit ihnen paktiert außerdem die auf spaßig getrimmte Gegenaufklärung der das Land überziehenden unbequemen Querdenker, Mietbischöfe, Orgasmusvortäuscher und verbeamteten Spaßmacher. Durch öffentliche wie private Sendeanstalten wankelt eine endlose Karawane von Wichtigkeitsraunern und Nano-Experten, die den Fußballorkus als kognitive Behindertenrampe zu einer einkommenssicheren D-Prominenz nutzen. Und keiner bindet ihnen die Klappe zu oder Finger und Beine zusammen.
Aber jetz paß uff! Den Konformitätsdruck gab es schon in den vormaligen Arbeiter­mi­lieus, dort jedoch berechtigterweise aus Gründen klassenkämpferischer Solidarität. Heute steht Fußball für Gegenkultur von oben. Wer nicht mitzieht, wer sich nicht alltäglich zum Konsum­idioten und Fußballjubelperser vertrimmen läßt, mit dem reden sie nicht (mehr). Hochintelligente Leute, die tagein, tagaus den Individualismus und ihre »Marke ICH« (Conrad Seidl) kultivieren, um ihre Verwertbarkeit in »Zeiten der Globalisierung« (Holger Sudau) abzusichern, machen Urlaub vom eigenen Gespreize, indem sie devot einem Mannschaftssport huldigen. Je mehr sie zu funktionalen Trotteln degradiert werden, desto größer die Sucht nach Kompensation, nach Wieder-mal-kleiner-Junge sein-dürfen, nach einer wasserdichten Romantisierung der Schwitzigkeit von Männerbündlertum. Die Folge ist eine verordnete Karnevalisierung und Verweihnachtsmarktung, die zwangsläufig verlangt, es solle überall zugehen wie zu bestimmten Zeiten im Rheinland oder vor den jahresendzeitlichen Geschenkemassakern: immer anmaßend, laut, pöbelig, bundeswehrsoldatisch. Aber niemals leicht, unbeschwert, offen und komisch. Oder gar schön. Wie jeder Fan, versteht auch der Fußballfan keinen Spaß, vor allem gegenüber Nichtfußballfans. Der ähnlich disponierte Heavy-Metal-Fan sucht lediglich ein Refugium, in dem er ungestört seiner Leidenschaft frönen kann; der will nur spielen. Der Fußballfan sucht die Öffentlichkeit, wo er ungestört alle anderen kaputtspielen kann. Kurzum: ein Kotz­milieu, an dem ich bis jetzt noch keinen Ausschalter gefunden habe.
Aus dem politisch bedingten, ehedem auch mit Fußball flankierten Zusammengehörigkeitsgefühl einstiger proletarischer Milieus ist längst ein schwammiges Dazugehörigkeitsgefühl geworden. Mit der erzwungenen, immer idiotischer werdenden Versklavung im Verwertungszusammenhang korrespondiert die freiwillige, noch idiotischer und erbarmungsloser anmutende Versklavung für den Freizeitzusammenhang. Fußball ist der Gott der Opportunisten, denen der letzte Furz eines Regionalliga­spielers wichtiger ist als der hereinbrausende Horror des Neoliberalismus und was man eventuell sogar dagegen tun könnte. Der Mitmacher war schon immer derjenige, der am lautesten »Ich« schreit und seine feigen Groschenansichten mit Haltung verwechselt, die er dann auch von allen anderen erwartet. Klar doch: In der unübersichtlichen Welt sucht der Mensch nach Wahrheiten, die er begreifen und weitererzählen kann. Als Fußballfan findet er eine, die er nicht mal begründen muß – und als Bonustrack die Lizenz zum Nervtöten. Es ist die spätkapitalistische Form der Zwangskollektivierung mit dem wesentlichen Unterschied zur sozialistischen: Sie zeigt Erfolg. Von der Ich-AG bis zu den Wir-sind-Papst-Komparsen. Auch weil sie die Bedingungen schafft, daß Außenseiter keinen Erfolg haben dürfen und meistens auch nicht haben können. Im Fußball ist glasklar wie sonst nirgends zu erkennen, wie der Kapitalismus sein Personal abgerichtet hat zu Konsumenten, zu Zielgruppen, zu Lätta-Frühstückern und damit zu Kasperlfiguren.
In den bilateralen Beziehungen zwischen Mensch und Fußballfan kann es nur Teilfriedens­abkommen geben. Denn wo Fußballfans »kommunizieren«, erstirbt jede Unterhaltung, jedes Gespräch. Da können sie noch so viele »Nationale Service- und Freundlichkeitskampagnen« ersinnen. Ihr Knochenmühlen-Surround-Sound hat sich erbarmungslos unter die eh schon lästigen neoliberalen Kakophonien gemogelt: Allerorten sitzen Manager, Politiker und Schlagzeuger auf der Auswechselbank, spielen Debile verschiedenster Ausprägung in unterschiedlichen Ligen, gehen Verhandlungen in die Verlängerung, wird der Ball flach gehalten, werden Mitbürger mit Migrationshintergrund ins Abseits geschoben, bleiben rüstige Jubilare in ihren Seniorenresidenzen ein abgenutztes Restleben lang am Ball, schießen Parteien Eigentore, sind Unternehmen optimal aufgestellt, spielen Solisten sich auf der Bühne Bälle zu, herrscht Teamgeist oder werden Steilvorlagen geliefert. Der letzte Containerdepp auf RTL2 punktet mit grenzenloser Beschränktheit. »Deutschland offensiv: Der Mittelstand greift an« (Lexware). Je lausiger Deutsche Fußball spielen und wirtschaften, desto hysterischer der Bohei vor ihrem scheinbar unvermeidlichen Event-Overkill. Ein einziges Gülleparadies. Leider ohne Geruchsverschluß.
Der Kapitalismus ist bekanntlich die Darstellungsform des Bürgertums, und dieses Bürgertum kann nicht anders existent sein als in der rigorosen Vereinnahmung der Werte und Zeichen anderer. Die bürgerliche Vereinbarung, Fußball zur Matrix der ganzen Gesellschaft aufzupusten, steht in bester Tradition: Auch der Trüffel, der Kaviar, der Champagner, der Lachs, die Auster mußten erst den ärmsten Schluckern vom Teller genommen und zur beinahe unerschwinglichen Delikatesse hochgesext werden, um schließlich, nachdem man ihrer weitest­gehend überdrüssig geworden ist, wieder als Ramschprodukte die Regale unserer unschönen Warenwelt zu füllen.
Und doch bleibt alles eigenartig ambivalent. Zuviel Nähe schadet auch. Also muß das verjauchte, am Selbstekel beinah erstickende Bürgertum samt seiner kleinbürgerlichen Bierholer gallonenweise Häme über die Klingeltongrammatik eines italienischstämmigen Trainers oder über die Tattoos einer fremdsprachschwachen Spielergattin auskübeln. Es lustig zu finden, daß sich weniger begabte Menschen öffentlich unbeholfen ausdrücken, ist billig und fällt auf die davon amüsierten Kraft-durch-Schadenfreude-Kretins zurück. Oder wie Karl Kraus sagt: »Witzig­keit ist manchmal Witz­armut, die ohne Hemmung sprudelt.«
König Fußball regiert die Welt? Meine nicht. Das nächste Spiel ist immer das schwerste? Dann sollen sie eben das übernächste oder überübernächste nehmen. Der Ball ist rund? Sollen sie ihn eckig machen. Das Runde muß ins Eckige? Warum nicht umgekehrt? Nach dem Spiel ist vor dem Spiel? So buchstabiert man Gummizelle. Ein Krieg dauert neunzig Minuten? Schön wär’s. Der Krieg hat den einzigen Vorteil, daß er eine erhebliche Anzahl der Schwachköpfe, die sich freudig und hurrapatriotisch in ihn hineinbegeben, verschlingt. Der Fußball tut das Gegenteil. Seine Jünger werden immer zahlreicher. Und sie sind gnadenlos missionarisch veranlagt. Die Beweise sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen Sie tagtäglich. Vielleicht hängt ihnen ja der Fußball nach ihrer albernen WM dermaßen aus dem Hals, daß wir auf ein paar Jahre Ruhe haben.
Aber was, wenn nicht? Beziehungsweise was tun?
Erst mal boykottieren. Kaufen Sie nicht beim Bäcker, der Ihnen WM-Brötchen andrehen möchte! Essen Sie keine Fußballklöße! Wenden Sie Ihr Antlitz beschämt ab, wenn Sie in die Nähe des als Fußball verkleideten Berliner Fernsehturms geraten! Kaufen Sie keine Fußballbücher! Hören Sie keine Fußballhörspiele! Besuchen Sie keine Schiedsrichterausstellungen! Schauen Sie kein Fußballtheater an! Gehen Sie pinkeln oder spazieren, wenn Ballack, Völler & Co. Werbung im TV machen! Sollen sie an ihren Kick it!-Würstchen, Fußball-Frikadellen, Biß-Kick-Joghurts oder unter ihren Fifa-World-Cup-Cocktail-Kissen ersticken! Helfen Sie Mitbürgern mit Fußballkontaktlinsen nicht über die Straße! Jagen Sie die öffentlich alimentierten »Ballkünstler-Künstlerball«-Willis ins nächste Gewerbegebiet! Verminen Sie sämtliche Public-Viewing-Plätze mit Hundewürsten! Schieben Sie Sportpfarrer in ein sicheres Zweitland ab! Pfeifen Sie auf den päpstlichen Segen! Von nun an wird nicht mehr zurückgeschossen – wir behalten die Bälle einfach. »Nicht mal ignorieren!« (F. W. Bernstein) – das trifft sie am meisten. Und es wäre ein klitzekleiner Beitrag zu einer schöneren Welt. Weglaufen geht ja nicht. Wohin denn?

Die hier publizierten Texte wurden zuerst in folgenden Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht: »Kowalski«, »Taz«, »Frankfurter Rundschau«, »Rolling Stone«. Ihr Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Oktober-Verlags. Dort ist soeben zum Gedenken an Michael Rudolf ein Buch erschienen, dem die in diesem Dossier abgedruckten Texte entnommen sind: Jürgen Roth (Hrsg.): Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern. Im Gedenken an Michael Rudolf. Weisser Stein im Oktober-Verlag. Münster 2008, 600 Seiten, 16 Euro.