Der schwul-lesbische Verein Lambda in Istanbul soll geschlossen werden

Nicht türkisch, nicht moralisch

Der Istanbuler Verein Lambda kümmert sich seit 15 Jahren um Lesben, Schwule und Transsexuelle. Jetzt soll er geschlossen werden.

Eine Wohnung in einem Haus im Stadtteil Beyo­glu, durch die geöffneten Fenster weht eine leichte Brise. Es ist Sonntagnachmittag. Sedef Çakmak, Sophia Starmack und Öner Ceylan, Aktivisten und Aktivis­tinnen bei Lambda Istanbul, dem Verein für LGBTs (Lesben, Gays, Bi-und Transsexuelle), sitzen in einem Zimmer des Vereinsbüros zusammen. Trotz der erst ein paar Tage zurückliegenden Gerichtsentscheidung, Lambda wegen unmoralischer Vereinsziele zu schließen, herrscht keine Krisenstimmung. Bei Lambda ist man es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen.
1993, nachdem der Gouverneur von Istanbul den Christopher Street Day kurzfristig verboten hatte, wurde Lambda Istanbul gegründet. Zuerst eine informelle zivile Bewegung, beantragte man 2006 schließlich den Vereinsstatus. Die Organisation war der Obrigkeit von Anfang an ein Dorn im Auge. Kurz nachdem der Vereinsstatus beantragt worden war, strengte der Gouverneur von Istanbul, Muammer Güler, im Juli 2006 die Schließung an. Güler begründete seinen Antrag damit, dass der Verein weder mit der »allgemeinen Moral« noch mit »türkischen familiären Wer­ten« vereinbar sei. Zunächst lehnte der Staatsanwalt den Antrag ab, doch der Gouverneur legte Berufung ein, und Lambda musste vor Gericht. Sechs Mal war das Verfahren vertagt worden, doch jetzt, am 29. Mai 2008, entschied das Gericht, den Verein zu schließen. Nicht nur die Ziele des Vereins seien »unmoralisch«, auch sei der Name »Lambda« nicht türkisch und daher nicht mit dem türkischen Vereinsrecht vereinbar. Dass es in Istanbul auch einen Rotary Kulübü gibt, einen Lions Club und zahlreiche andere Vereine, deren Namen nicht türkisch ist, schien das Gericht nicht zu stören.
Sedef Çakmak, die seit vier Jahren bei Lambda aktiv ist, fasst die Stimmung im Verein zusammen. »Wir haben überhaupt nicht mit dieser Gerichtsentscheidung gerechnet, vor allem deshalb nicht, weil es keine juristische Grundlage dafür gibt.«
Tufan Ögüz, Professor für Zivilrecht und unabhängiger Experte im Verfahren gegen Lambda, hat dem Gericht ein Gutachten vorgelegt, in dem er die Behauptung, die Vereinsstatuten seien unmoralisch und der Verein illegal, klar widerlegen konnte. Zudem waren bereits in Ankara und Bursa Gerichtsverfahren gegen LGBT-Vereine eröffnet worden, die alle von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden waren.
»Wir müssen uns fragen, ob in Ankara ein anderes Zivilrecht gilt als in Istanbul. Hat man in Bursa andere juristische Standards als hier?« fragt Sedef schulterzuckend.
Als im Mai 2004 die türkische Verfassung im Zuge der Reformen für einen EU-Beitritt zum neunten Mal geändert wurde, wurde der Gleichberechtigungssatz zu Artikel 10, der die Gleichheit vor dem Gesetz regelt, hinzugefügt. Trotz Drängens verschiedener NGO fand die Klausel »Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und sexueller Identität« keinen Eingang in die Verfassung. Der damalige Justizminister Cemil Cicek begründete diese Entscheidung damit, dass die Klausel gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (cinsiyet) auch die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung (cinsel yönelim) abdecken würde. »LGBTs werden nicht benachteiligt, weil sie Männer oder Frauen sind, sondern weil sie homo-, bi- oder trans­sexuell sind«, kritisiert Belgin Çelik, die als juristische Beraterin bei Lambda arbeitet. Mit der Weigerung, die sexuelle Orientierung in den Gleichberechtigungssatz aufzunehmen, hat der Justizminister die Diskriminierung von LGBTs sozusagen offiziell legalisiert.
Obwohl Homosexualität in der Republik Türkei nie verboten war, gelten Verbrechen, die aus homo-und transphoben Motiven verübt werden, oft als Kavaliersdelikt. Auch hier wird gern die Moral bemüht, um Diskriminierung, Gewalt, sogar Mord zu entschuldigen. KAOS GL, ein LGBT-Verein in Ankara und neben Lambda Istanbul eine der wichtigsten Plattformen der Bewegung in der Türkei, hat für das Jahr 2007 einen 120seitigen Bericht zu Menschenrechtsverletzungen mit homophoben und transphoben Hintergründen herausgegeben. Ein großer Teil der Gewalttaten geht demnach von der Polizei aus und richtet sich vor allem gegen Trans­sexuelle. In diesen Fällen ist es für die Opfer nahezu unmöglich, Gerechtigkeit einzufordern. Verfahren werden oft verschleppt oder ganz eingestellt. Betroffene, die gegen Polizisten Klage erheben, müssen zudem mit Einschüchterung und Racheakten rechnen.
Sophia Starmack, die aus New York kommt und seit einem Jahr bei Lambda mitmacht, schätzt die Lage für Homosexuelle in der Türkei ein: »Obwohl Homosexualität in der Türkei nicht illegal ist, gibt es keinerlei juristischen Schutz für LGBTs, was sie sehr verletzbar gegenüber Diskriminierung und Gewalt macht. Obwohl in verschiedenen türkischen Städten Gruppen und Vereine gegründet wurden und obwohl es beson­ders in Istanbul eine lebendige Szene und ein queer-orientiertes Nachtleben gibt, sehen sich hier immer noch viele Leute sowohl in der Familie als auch auf Arbeit mit großen Problemen konfrontiert, wenn sie ihre sexuelle Orientierung öffentlich machen. Trotzdem haben wir das deut­liche Gefühl, dass sich etwas ändert und verbessert. Zum Beispiel haben wir bei Lambda erst vor kurzem eine Gruppe für Familien und Freunde von LGBTs ins Leben gerufen, und bis jetzt waren die Reaktionen sehr positiv.« Während es in ländlichen Gegenden der Türkei noch immer schwer bis unmöglich ist, offen Homosexualität zu leben, ist es in großen Städten wie Istanbul, zumindest in bekannten Ausgehvierteln wie Beyoglu, zunehmend möglich. Spätestens seit der Gay Pride Parade in Istanbul 2007, an der weit über 1 000 Leute teilnahmen, sind Homosexuelle ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Und anders als in Städten wie Moskau oder Buka­rest verliefen Gay Prides in Istanbul ausgesprochen friedlich. Dennoch kommt es immer wieder zu teilweise sehr aggressiven Razzien von Seiten der Polizei gegen die Szene.
Die Türkei ist das einzige Nato-Mitglieds­land, in dem sich das Militär immer noch auf das vom Amerikanischen Psychatrieverband herausgebene DSM (Diagnostic and Statis­tical Manual of Mental Disorders) II bezieht, das Homosexualität als Perversion und fortgeschrittene psychosexuelle Störung aufführte. Der internationale Standard ist jedoch bereits seit 1994 das fortschrittlichere Papier DSM IV. Homosexuelle Männer werden in der Türkei weiterhin als dienstuntauglich ausgemustert, sie erhalten den Status des cürük raporu, der sie vom Wehrdienst ausschließt. Çürük heißt soviel wie »verdorben, schlecht, vergammelt«. Homosexuelle Männer, die den Militärdienst nicht ableisten möchten, müssen sich oft erniedrigenden Untersuchungen bei Militärärzten und Psychiatern unterziehen.
Welche Rolle spielt die Religion für die Diskriminierung? »Die Situation von LGBTs in der Türkei nur an der Religion festzumachen, wäre viel zu einfach«, meint Öner Ceylan, der seit 11 Jahren bei Lambda ist. »Viele Dinge spielen zusammen, und es ist schwer, auf die Frage, wie es sei, in einem überwiegend muslimischen Land homosexuell zu sein, eine Antwort zu geben, die nicht in Orien­talismus abrutscht.«
Öner unterstreicht, wie wichtig der Verein für die Szene ist. »Lambda setzt sich für Homo-, Bi-, und Transsexuelle ein, schafft eine Plattform für juristischen Beistand, berät, hört zu, klärt auf. Wir haben eine Telefonberatung und das Büro ist jeden Tag geöffnet. Es finden Diskussionen, Seminare, kulturelle Aktivitäten statt.« Der Bedarf ist jedenfalls groß.
Es klingelt an der Tür. Zwei Sexarbeiterinnen betreten die Wohnung, sie möchten mit Belgin Çelik, die hier als juristische Beraterin arbeitet, sprechen. Freier haben die beiden Frauen mit einer Waffe bedroht, auf sie gezielt und schließlich ihren Hund erschossen, erzählen sie. Belgin lässt sich den Tathergang schildern und telefoniert mit Firat Söyle, einem der beiden Anwälte des Vereins. Vorkommnisse wie dieses seien häufig. Belgin schnaubt wütend. »Es ist immer wieder interessant zu sehen, wozu all diese moralisch einwandfreien Leute in der Lage sind. In diesem Land floriert Korruption, werden Frauen von der eigenen Familie misshandelt und umgebracht. Die Polizei darf Homo-und Transsexuelle schlagen und foltern. Familienväter gehen nach Tarlabasi, um mit Transsexuellen zu schlafen, die in den meisten Fällen keiner anderen Beschäftigung nachgehen können, weil sie niemand einstellen möchte. Aber unmoralisch sind nur wir.«
»Vor einem Monat«, erzählt Belgin, »ist die Sittenpolizei ins Vereinsbüro gekommen, hat Dokumente und Mitgliederinformationen, die unter Datenschutz stehen, beschlagnahmt, uns der Zuhälterei beschuldigt. Sogar nach unserem Dark Room haben sie gefragt. Dabei wissen sowohl der Gouverneur als auch Stadtverwaltung und Polizei, dass wir ein legal angemeldeter Verein sind.«
Aber einschüchtern lässt man sich nicht, da sind sich alle einig. Juristisch sind längst nicht alle Mittel erschöpft. »Wir werden den Fall natürlich vor das Berufungsgericht bringen. Sehr wahr­scheinlich wird man dort gegen eine Schließung von Lambda entscheiden.« Sedef ist zuversichtlich. »Es ist schwer vorstellbar, dass man ein Verfahren vor dem Europäischen Menschengerichtshof riskieren wird.« Die EU hat die Türkei wegen der Politik gegenüber Homo-und Transsexuellen bereits verwarnt. »Wir erwarten, dass das Verfahren zwischen einem und zwei Jahren in Anspruch nehmen wird. In dieser Zeit bleibt Lambda geöffnet und wir werden mit unseren Aktivitäten fortfahren.«
Im Juni ist eine Gay-Pride-Woche geplant, im September wird der Verein am European Social Forum in Malmö teilnehmen. Doch auch der Verfahrensverlauf wird die Aktivisten und Aktivistinnen bei Lambda beschäftigen. »Was uns beunruhigt, ist auch, dass versucht wird, von dem politischen Aspekt dieses Verfahrens abzulenken.« Öner nickt. »Geplant sind eine große Pressekonferenz und eine Demonstration. Medien und Öffentlichkeit sollen darüber aufgeklärt werden, dass Lambda nicht, wie das Gericht behauptet, wegen einfacher Verfahrensfehler geschlossen werden soll.«

www.lambdaistanbul.org