Die ungewisse Zukunft der nord-irakischen Stadt Kirkuk

Status ungeklärt

Die nordirakische Stadt Kirkuk mit ihren Ölquellen ist zu einem der Hauptschauplätze der Auseinandersetzungen im Irak geworden. Die kurdischen Flüchtlinge, die in die Stadt zurückgekehrt sind, wollen per Volksabstimmung über den zukünftigen Status der Stadt entscheiden, die Araber, die über eine »Kurdisierung« der Stadt klagen, sind dagegen. Auch die Turkmenen haben ihre Vorstellungen von der Zukunft der Provinz.

Meder, Assyrer, Babylonier und Perser hinterließen ihre Spuren in der Geschichte von Kirkuk. Als die Araber die Stadt im 7. Jahrhundert nach Christi eroberten, lebten Perser, Juden und aramäischsprachige Christen hier, während die Umgebung bereits von kurdischen Nomaden durchstreift wurde. Diese nannten das Land Garmian, »das heiße Land«, im Gegensatz zu den kalten Hochtälern in den kurdischen Bergregionen. Mit der Einwanderung turksprachiger Stämme aus Zentralasien und der Angliederung der Region an das osmanische Reich wurde die Stadt schließ­lich zum Zentrum der Vorfahren jener Bevölkerungsgruppe, die heute im Irak als Turkmenen bekannt ist. Das Stadtzentrum wurde im Laufe der osmanischen Herrschaft zunehmend von Turk­menen dominiert. Aus der ländlichen Umgebung zogen jedoch auch vermehrt Kurden hinzu. Seit dem 17. Jahrhundert wanderten arabische Stämme und Großfamilien ein, die sich überwiegend im Stadtteil Hawija niederließen.
Als das Osmanische Reich in den Wirren des Ersten Weltkriegs zusammenbrach, konnte ohnehin fast jeder Kirkuki drei oder vier Sprachen. Arabisch, Turkmenisch und Kurdisch gehörten zum Standard. Christen und Juden sprachen zusätzlich noch verschiedene Dialekte des Aramäischen oder Armenisch. Die Provinz Kirkuk bildete damit wohl die multiethnischste Region im ohnehin von unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Gruppen geprägten neuen Staat Irak. Das Zusammenleben funktionierte jedoch, zumindest erinnern sich heute die meisten Kirku­kis mit Wehmut an diese Zeit, bevor die Stadt vom Ölrausch erfasst und damit zu einem der Haupt­konfliktpunkte zwischen der ba’athistischen Diktatur und dem Autonomiestreben der Kurden wurde. 1927 wurden hier die ersten Ölfelder für den Weltmarkt entdeckt. Die Hirten der Region wussten bereits seit Jahrhunderten von Stellen, an denen man nur das direkt an die Oberfläche strömende Gas anzünden musste, um damit zu kochen. Dass die Region geradezu auf einem Ölsee schwimmt, wurde jedoch erst in den dreißiger Jahren bekannt, als mit der industriellen Ausbeutung der Ölfelder begonnen wurde. Die Stadt erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein großes Bevölkerungswachstum. Allerdings wurde sie umso mehr politischen Begehrlichkeiten preisgegeben, die unter der Herr­schaft der arabisch-nationalistischen Ba’ath-Partei auf eine systematische Arabisierungspolitik hinausliefen. Die große jüdische Gemeinde war bereits 1950 und 1951 aus Kirkuk vertrieben worden. In den achtziger Jahren folgte die Vertreibung von Kurden, Christen und Turkmenen. Ganz besonders heftig traf es nach dem kurdischen Aufstand von 1991 die kurdischen Kirkukis. Nachdem die Stadt kurz in die Hand der Aufständischen gefallen war, eroberten Regierungstruppen Kirkuk und große Teile der Provinz wieder zurück und begannen mit systematischen Deportationen von Kurden. Sämtliche kurdischen Dörfer in den von der irakischen Armee er­oberten Gebieten der Provinz wurden zerstört. Viele flohen aus der Stadt und ließen sich schließ­lich in jenen Gebieten des Irak nieder, die als »sicherer Hafen« für die Kurden eingerichtet worden waren, um eine Massenflucht nach Europa zu verhindern. Den verbliebenen Kurden wurden in der Stadt der Erwerb und die Vererbung von Immobilien verboten. In den meisten Fällen wur­de sogar das Mieten von Wohnungen unmöglich gemacht. Stattdessen siedelte die Regierung bewusst arabische Familien in der Stadt an, viele von ihnen selbst aus dem Süden des Landes vertriebene Opfer des Regimes, aber auch regierungs­treue Mitglieder der Ba’ath-Partei.

Die geflüchteten kurdischen Kirkukis mussten bis 2003 unter widrigsten Umständen in Flüchtlingslagern im Autonomiegebiet ausharren. Erst mit dem Sturz Saddam Husseins gelang den meis­ten von ihnen die Rückkehr in die Stadt. In den Häusern, aus denen die Flüchtlinge nach 1991 ver­trieben worden waren, lebten jedoch andere. Die Stadtverwaltung betrieb deshalb freiwillige Rückkehrprogramme. Mit einer für irakische Verhältnisse sehr hohen Summe soll nun arabischen Zuwanderern, den Wafadin, eine Starthilfe in ihren alten Herkunftsgebieten geboten werden. Und tatsächlich bilden sich täglich lange Schlangen von Rückkehrwilligen vor der Behörde, die für die Auszahlungen zuständig ist. Die Menschen brauchen das Geld, und den meisten liegt ohnehin nichts am Verbleib in der von ethnischen Spannungen und Kämpfen heimgesuchten Stadt. »Ich will hier weg und wieder zurück zu meiner Familie nach Basra«, erzählt uns ein Mann aus der Menschentraube.
Babakir Sidiq, der Vorsitzende des Komitees zur Durchsetzung von Artikel 140 (der eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der Region zum kurdischen Autonomiegebiet vorsieht), erzählt, wie manche Wafadin – 90 Prozent davon sind Schiiten aus dem Südirak – sämtliche Beziehungen spielen lassen, um möglichst rasch an die 20 000 US-Dollar und das Grundstück zu gelangen, die sie erwarten. »Kurden und Turkmenen, die unter Saddam vertrieben wurden und nach Kirkuk zurückkommen wollen, stehen laut Beschluss der Kommission pro Familie 10 000 US-Dollar und ein 200 Quadratmeter großes Grundstück zu«, berichtet Sidiq. Und viele Araber gehen wohl lieber jetzt freiwillig und mit einer Entschädigung in der Tasche zurück in den Süden, als eventuell später vertrieben zu werden. Das Gerücht von einer »Kurdisierung« der Stadt geht seit 2003 unter den Arabern von Kirkuk um­her. Wer es in die Welt gesetzt hat, weiß niemand mehr. Dass das Gerücht jedoch auch auf politisch einschlägige Weise aufgegriffen wird, ist kaum zu übersehen.
Rakan Said Ali, der arabische Vizegouverneur der Provinz, beklagt sich bitter über die angebliche »Kurdisierung«. Unter Saddam seien die Vertreibungen der Kurden wenigstens »rechtsstaatlich« durchgeführt worden: »Die Kurden betreiben nun aber eine ganz andere Politik und kurdisieren die Stadt einfach wild darauf los.« Über die Vertreibungen der Kurden in den neunziger Jahren kommt ihm ebenso wenig ein schlechtes Wort über die Lippen wie über Saddam Hussein. Der Mann, der sich für den Verbleib Kirkuks bei der Zentralregierung und gegen eine Integration in das kurdische Autonomiegebiet ausspricht, hat nicht viel Verständnis für die zurückkehrenden kurdischen Flüchtlinge. Von der in der Verfassung festgeschriebenen Volksabstimmung über die Zukunft der Region hält Rakan Said Ali wenig: »Die Araber aus Kirkuk waren immer dagegen. Sie werden nicht zulassen, dass ein Referendum über den Status der Stadt abgehalten wird, und auch nicht, dass unsere Stadt zu Kurdistan kommt.« Auch meint er zu wissen, wer für die Terroranschläge in der Stadt verantwortlich ist: »Die Kurden haben die Stadt besetzt und sich durch die Verschleppung von unschuldigen Arabern in die Gefängnisse des kurdischen Autonomiegebiets Feinde gemacht. Deshalb wurden nicht nur die ausländischen Soldaten zum Ziel von Anschlägen, sondern auch die kurdischen Besatzer.«
Zu diesen »kurdischen Besatzern« gehört für Rakan Said Ali wohl auch Abdul Rahman Mustafa, der Gouverneur, dessen Stellvertreter er ist.
Seine Ansichten über Geschichte und Zukunft der Stadt stehen jenen seines Stellvertreters diametral entgegen: »Es macht mich traurig, wenn die Verfassung einfach nicht eingehalten wird.« Als sunnitischer Kurde, in Kirkuk geboren, bezeichnet er sich als »Produkt des Schmerzes« dieser Stadt: »Damals unter Saddam, als junger Rechtsanwalt, durfte ich als Kurde keine Kanzlei kaufen oder mieten. Es war ein arabischer Kollege, der ein Büro für mich anmietete.« Trotz der am eigenen Leib erlebten Diskriminierung und Verfolgung von Kurden in der Stadt, bemüht er sich um eine gute Zusammenarbeit mit seinem Stellvertreter und den Parteien der Araber und der anderen Bevölkerungsgruppen. Allerdings besteht er auf der lange verschobenen Durchsetzung des Artikels 140 der irakischen Verfassung. Die Vorwürfe einer »Kurdisierung« der Stadt hält er für arabische Propaganda: »Wie können wir die Stadt kurdisieren, wenn wir nicht einmal die nötigen Mittel haben, um die Rückkehrer in Häusern unterzubringen und die Enteigneten mit Entschädigungen zu unterstützen?«

Nicht nur kurdische und arabische Parteien stehen sich unversöhnlich gegenüber. Auch die turk­menischen Parteien haben ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft der Provinz, die im Wesentlichen auf einen Sonderstatus oder eine Autonomie hinauslaufen soll.
Der Abgeordnete Tahseen Kahya, ein schiitischer Turkmene, setzt sich für einen Sonderstatus für Kirkuk ein. Das kurdische sowie das arabische Modell lehnt er rundweg ab. »Diese Modelle sind gegen die irakische Verfassung, denn sie würden den Zentralismus stärken.« Doch eine Lösung sei trotzdem nur »durch Konsens« zu finden, fügt er hinzu. »Seit dem Wahlsieg der Kurden sind andere Bevölkerungsgruppen marginalisiert worden. Und das, obwohl die Turkmenen seit 1957 die größte Bevölkerungsgruppe in Kirkuk darstellen.« Sollte Kirkuk zur kurdischen Auto­nomie­region kommen, könne sich Ähnliches abspielen wie in Erbil, meint Kahya: »Dort sind die Turkmenen bereits verschwunden. Sie sind nicht mehr sichtbar. Wir fühlen uns auch in Kirkuk ungerecht behandelt und sind bitter enttäuscht von den Kurden.« Das einzige Gefühl, das die meisten in Kirkuk heute eint, formuliert er so: »Wir waren alle Opfer des Regimes, wir alle ga­ben Märtyrer.« Zur Rolle der Türkei und des ihr nachgesagten Einflusses auf die turkmenischen Parteien sagt er ohne Umschweife: »Seien wir doch ehrlich. Finanzielle und mediale Unterstützung erhalten die Schiiten aus dem Iran, die Kurden auch, und wir erhalten so einiges aus der Türkei.« Auch Hasan Toran, ein sunnitischer Turkmene, Abgeordneter und Mitglied der Irakisch-Turkmenischen Front. Er traut den kurdischen Parteien Puk und KDP »und ihrer Propaganda« nicht über den Weg. »Von 1991 bis 2003 hatten die beiden sogar bessere Kontakte zur türkischen Regierung als wir je zuvor!«
Lediglich der einzigen christlichen Vertreterin im Regionalparlament, Silvana Boya Nasir, einer von 13 Frauen im 41köpfigen Parlament, scheint der zukünftige Status der Provinz weitgehend egal zu sein: »Wir sind grundsätzlich für eine Volks­abstimmung, aber ihr Ergebnis spielt für uns keine Rolle.«
Die christliche Minderheit wurde in den vergan­genen Jahren zu stark dezimiert, um noch eigene Forderungen zu stellen. Wer sich nicht ins Ausland retten konnte, sucht in jener kleinen Region östlich von Mossul Zuflucht, in der die Christen die Mehrheit bilden und die von manchen christ­lichen Politikern schon als »sicherer Hafen« für die irakischen Christen gefordert wird. Davon will Boya Nasir nichts wissen: »Wir sind die älteste Bevölkerungsgruppe hier in der Stadt und gehören zu Kirkuk. Ich will hier um unsere Rechte kämpfen.« Bereits während des Ba’ath-Regimes hatten viele Christen das Land verlassen, denn »wir wurden nur als Araber toleriert, unsere christliche Identität musste unterdrückt werden«. Obwohl Saddam Husseins Außenminister, Tarek Aziz, selbst Christ war? »Er war nicht gut für uns Christen.«
Die von kurdischer und christlicher Seite geforderte Volksabstimmung konnte bislang jedoch nicht durchgeführt werden. Zu groß sind dabei die Probleme im Detail. Es gibt kein aktuelles Bevölkerungsregister von Stadt und Provinz. Zudem ist unklar, wer von jenen, die nach Kirkuk geflüchtet sind, und wer von jenen, die aus Kirkuk geflüchtet sind, abstimmen darf. Davon könnte der Ausgang der Abstimmung abhängen. Auch die Abstimmungsfrage ist keinesfalls eindeutig: Soll lediglich über einen Beitritt zum kurdischen Autonomiegebiet abgestimmt werden oder auch über andere Möglichkeiten, wie einen Sonderstatus oder eine Teilung der Region mit der Möglichkeit einer eigenen Turkmenenregion?

Dabei geht es jedoch nicht nur um Stadt und Land. Dass Kirkuk derart umkämpft ist, hat nicht zuletzt mit dem Ölreichtum der Region zu tun. Eigenmächtig von der kurdischen Regionalregierung vergebene Ölförderlizenzen, wie die an die österreichische OMV, werden von der Zentralregierung nicht anerkannt. In den Ölfeldern von Kir­kuk und bei Basra im Südirak werden derzeit täglich 2,5 Millionen Fass Rohöl gefördert, wovon 2 Millionen exportiert werden. 600 000 Fass kommen aus Kirkuk. Ölminister Hussein al-Sharistani erwartet in Zukunft eine Produktion von 4,5 Millionen Fass pro Tag, die mit Hilfe der erstmals seit der Verstaatlichung der Ölförderung in den Irak zurückkehrenden multinationalen Konzerne gefördert werden sollen. Ende Juni gab das Ölministerium den Abschluss von sechs Verträgen bekannt, mit Royal Dutch Shell, BHP Billiton, BP, Exxon Mobil, Chevron und Total. Wer solche Verträge für Kirkuk in Zukunft abschließen kann, wird auch von der Kontrolle über die Stadt abhängen.
Die Verzögerungen bei der Klärung des zukünf­tigen Status von Kirkuk haben jedenfalls bislang die Situation an Ort und Stelle nicht verbessert. Im Gegenteil. Kirkuk ist mittlerweile zu einer der Hauptkonfliktregionen des Irak mutiert. Die Zahl der Attentate und Kampfhandlungen in Kirkuk steht jener in Bagdad kaum mehr nach. Fast täglich kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Aber auch die soziale und ökonomische Situation verschlechtert sich wegen der Unsicherheit. Am schlimmsten sind davon wohl jene Kurden be­troffen, die nach 2003 zwar in die Stadt zurückkehren konnten, hier aber keinen Wohnraum erhielten. Das ehemalige Olympia-Stadion von Kirkuk dient bis heute 500 Familien als provisorisches Wohnquartier. Die Menschen leben dort unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Es fehlen Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder. Während die kurdischen Parteien dafür den ungeklärten Status der Stadt verantwortlich machen, beklagen sich die unmittelbar Betroffenen auch über das Verhalten der kurdischen Behörden. »Um uns kümmert sich keiner!« fasst ein Sprecher der in notdürftigen Hütten untergebrachten Familien die Situation zusammen. Lokale Vertreter kurdischer Parteien meinen hingegen, dass ihnen die Hände gebunden seien, solange die anderen Parteien kei­ne permanente Ansiedlung der kurdischen Flücht­linge wollen. Sie sind schließlich genau jene Kurden, die arabische Nationalisten wie Rakan Said Ali für die »Kurdisierung« der Stadt verantwortlich machen.