Der G8-Gipfel und die Bekämpfung des Hungers

Brot für die Welt, aber gekauft wird’s hier

Die so genannte Ernährungssicherheit war ein zentrales Thema beim G8-Gipfel. Doch selbst bei der Nothilfe werden die wirtschaft­lichen Inter­essen nicht vergessen.

Alle reden über das Essen. Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte vor dem G8-Gipfel ein »umfassendes Maßnahmenpaket« an, das kurzfristig Nahrungskrisen bewältigen und langfristig den Hunger abschaffen soll. Das Bundeskabinett hat dafür vorsorglich eine halbe Million Euro bereitgestellt. Der britische Premierminister Gordon Brown sprach von einem »globalen Plan«, US-Prä­sident George W. Bush nahm sich ebenfalls des Themas an. Er lobte den Bill-Emerson-Trust, eine dem Landwirtschaftsministerium unterstellte Institution zur Verteilung von Lebensmitteln, die gerade ihre Lagerbestände aufgestockt hat. Einmal mehr betonte Bush die Führungsrolle der USA als größter Gebernation für Nahrungsmittelhilfe. Diese Rolle möchte ihm die EU aber nicht so einfach überlassen, ihr Entwicklungskommissar Louis Michel sagte bereits im April 117 Millionen Euro für die Bekämpfung des »humanitären Tsunami« zu – diese unschöne Redewendung hatte er vom Welternährungsprogramm (WFP) der Uno übernommen.
Ein im Juni veröffentlichter Bericht des WFP widersprach jedoch dem Bild einer »internationa­len Gemeinschaft«, die effizient und großzügig den Hunger bekämpft: »Der Rückgang bei den Hilfs­lieferungen von Nahrungsmitteln setzte sich 2007 fort, sie sanken auf das niedrigste Niveau seit 1961.« Im Jahr 1999 wurden weltweit 15 Millionen Tonnen Nahrungsmittel verteilt, 2007 waren es knapp sechs Millionen Tonnen.
Doch die zehn Milliarden Dollar, die die Staaten der G8 nach eigenen Angaben seit Jahresbeginn für »kurz-, mittel- und langfristige Zwecke zugesagt« haben, sollen genügen. Recht offen bekennen die Hüter der großen Kornkammern, dass sie vor allem wegen der Reaktionen besorgt sind. Die Ernährungskrise könne »Staaten destabilisieren und sich zu internationalen Sicherheitspro­blemen auswachsen«, warnte Merkel ihre Kollegen kurz vor dem Gipfel. Steigende Preise für Wei­zen, Reis und Mais führten jüngst in einer Reihe afrikanischer Staaten, aber auch in Haiti und Süd­ostasien, zu Protesten, Revolten und Streiks. Der Statistik des Welternährungsprogramms FAO zufolge leben 880 Millionen Menschen täglich mit dem Risiko, nicht genügend Nahrung zur Verfügung zu haben.

Die Sorge ist jedoch nicht so groß, als dass wirtschaftliche Interessen in Vergessenheit gerieten. Einig sind sich die Regierungen der G8 darin, dass ihre Politik nichts mit der Ernährungskrise zu tun hat. Die EU hat einen Schuldigen auf den Kapitalmärkten entdeckt. Sie kündigte an, die Tätigkeit von Spekulanten zu beobachten, die durch ein »virtuelles Horten« großer Mengen Lebensmittel die Preissteigerungen verstärkten. Der Bericht der Ressortarbeitsgruppe »Welternährungslage« an das Bundeskabinett von Mitte Juni führt als Ursache für die Ernährungskrise an erster Stelle das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum sowie die daraus resultierenden veränderten Ernährungsgewohnheiten insbesondere in Ent­wicklungsländern an.
Nun treiben die Warenterminbörsen tatsächlich die Preise in die Höhe, das hat Peter Krieg be­reits 1980 in seinem Film »Septemberweizen« gezeigt. Und auch Chinesen und Senegalesen haben schon mal Appetit auf Weißbrot und Fleisch statt Reis und Hirsebrei. Doch gerade mit der Nah­rungsmittelhilfe wird ein Verteilungskampf um den Zugang zu den Agrarmärkten in Regionen der Welt geführt, in denen häufig über die Hälfte der Bevölkerung von einer kleinbäuerlichen Land­wirtschaft lebt.
Noch immer wird rund 90 Prozent aller Nahrungsmittelhilfe in Naturalien geliefert, also nicht auf lokalen Märkten gekauft. Die Hilfslieferungen verschärfen daher die durch Agrarimporte ver­ursachten Probleme. Die Einfuhren, meist Erzeug­nisse der subventionierten Landwirtschaft der EU und der USA, sind oft so billig, dass die Bauern auf den eigenen Ernten sitzen bleiben. Ihre Produktionskosten sind meist viel höher als der Verkaufspreis importierter Nahrungsmittel. Im Folgejahr fehlt ihnen dann das Kapital, um erneut aus­säen zu können.
Von Reis oder Mais alleine kann zudem kein Mensch leben, häufig sind die Kleinbauern am härtesten von Hunger betroffen, wenn Billigimpor­te die Märkte überschwemmen. So verwundert es auch nicht, dass es oft gerade dort Hungertote gibt, wo eigentlich genügend Nahrung vorhanden ist, aber vielen Menschen die Mittel fehlen, sie zu erwerben. In den achtziger Jahren führte die Nahrungsmittelhilfe für Äthiopien dazu, dass die Bauern ihre Hirse nicht mehr verkaufen konnten und den Anbau aufgeben mussten – mit langfristigen Folgen für die Ernährungssituation. In Ghana war die Senkung der Importzölle für Getreide eine Bedingung für die Vergabe eines IWF-Kredits. Bald darauf ging der Reisanbau stark zurück, viele Bauern hungerten.
Die enorme Preissteigerung bei Nahrungsmitteln auf dem Weltmarkt verschärft die Lage. Um 54 Prozent sind die Preise im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, das belastet die Staatshaushalte der Länder, die jährlich zukaufen müssen. In den 36 Ländern, die unter dem internationalen Nahrungsmittelhilfegesetz als Berechtigte für Nothilfe geführt werden, sanken die Vorräte im vorigen Jahr um 13 Prozent, die Importe nahmen um sieben Prozent ab. Sie sind abhängiger denn je von den Hilfsprogrammen.
Das über die staatliche Entwicklungshilfeorganisation USAID abgewickelte Hilfsgeschäft verschiebt die von amerikanischen Farmern produzierten Überschüsse in die bedürftigen Länder. Zwar kündigte Bush an, 25 Prozent der Nahrungs­mittel für Hilfslieferungen sollten künftig außerhalb der USA eingekauft werden. Doch wieder­holte er, dass Handelsbarrieren wie Zölle und Subventionen abgebaut werden müssen, damit sich verbesserte Anbaumethoden weltweit verbrei­ten lassen, um »mehr Essen für mehr Menschen« produzieren zu können. Die anderen Regierungschefs der G8-Staaten teilen diese Ansicht, die auch in die Abschlusserklärung Eingang fand.
Die Not kann auch zur Vermarktung neuer, potenziell gefährlicher Produkte genutzt werden. So schickten die USA im Jahr 2002 das Schiff »Liberty Link« mit einer Ladung gentechnisch verunreinigtem Mais nach Mozambique. Die Empfängerländer im südlichen Afrika weigerten sich, die Hilfe anzunehmen, um zu vermeiden, dass der Mais ausgesät wird und dann durch Auskreu­zung die lokalen Sorten gefährden könnte. Allen voran lehnte Sambia das Hilfsangebot der USA in Höhe von 50 Millionen Dollar ab, das an die Bedingung geknüpft war, für den gleichen Betrag Mais aus den USA zu kaufen. Unterstützung in Form von gentechnikfreien Naturalien erhielt Sambia dann von der EU, die ihr Moratorium gegen gentechnisch verändertes Saatgut gegen­über der Welthandelsorganisation zu verteidigen hatte. Die EU teilt die amerikanische Begeisterung für die Gentechnologie in der Landwirtschaft nicht, doch auch ihre Hilfsstrategie dient den Interessen der Agrarkonzerne. So sollen auch »Saat­gut, Düngemittel, Ackergerät und andere landwirtschaftliche Betriebsmittel geliefert werden«, faktisch eine Subventionierung der Unternehmen, die in den Empfängerländern Abhän­gigkeiten schafft.

Das Exportmodell Agrarkapitalismus verbreitete sich in den sechziger Jahren, als internationale Hilfsprogramme die Ausfuhr von ertragreichem Saatgut, Dünger und Pestiziden ermöglichten. Doch wer verbessertes Saatgut erhielt, der brauch­te auch die Pestizide, Düngemittel und Maschinen. Einige Länder wie Brasilien und Indien schaff­ten es, von Importeuren zu Exporteuren von Nah­rungsmitteln zu werden. Doch gerade in diesen Ländern sind Hunger und Mangelernährung besonders weit verbreitet, denn die sozial Benachteiligten haben keinen Zugang zu der ausreichend vorhandenen Nahrung. Dass der Hunger zunahm, während die Getreidevorräte wuchsen, löste bald Debatten aus, die ökologischen und sozialen Folgen der modernen Agrartechnologie und der Exportorientierung brachten alternative Ansätze hervor. Ökologische Landwirtschaft und die Förderung von Kleinbauern waren jedoch höchstens in Begleitprogrammen zu finden und blieben lokal begrenzte kosmetische Korrekturen.
Mittlerweile sind die Getreidevorräte geschrumpft und die Preise gestiegen. Von der Ernährungskrise kann der Agrarkapitalismus nur profitieren, wenn er sich den veränderten Verhältnissen anpasst. So wurden die bislang vernachlässigten Kleinbauern nun zur neuen Zielgruppe. Die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (Agra), 2006 von der Rockefeller- und der Bill & Melinda-Gates-Stiftung gegründet, sagte im vorigen Jahr mehrere Millionen Dollar für den Aufbau von Vermarktungsstrukturen für Agrarhändler zu. Mit Krediten werden die Händ­ler befähigt, die Produkte der Agrarkonzerne flächendeckend zu vertreiben. Besonders engagiert investiert Agra in die Forschung, 1 000 neue Sorten für den Anbau sollen so schnell wie möglich gezüchtet werden, wobei gentechnische Methoden nicht explizit ausgeschlossen sind. Markt­informa­tionssysteme sind ein weiterer Schwerpunkt, Informationen über Nahrungsmittelerzeugung und -verkauf sollen noch aus den abgelegensten Winkeln des Kontinents gewonnen werden.

Sicher ist, dass die Agrarkonzerne aus diesem Wissen mehr Nutzen ziehen können als die hungernde Landbevölkerung. Auf einem Treffen Ende Juni in Nairobi betonte die Gates-Stiftung, wie wichtig das Programm für die Bekämpfung des Hungers sei. Der kenianische Landwirtschafts­minister William Ruto forderte als Gastgeber zur schnellen Realisierung der Programme auf. Die ganze Wertschöpfungskette vom Saatgut bis zum verpackten Lebensmittel hat das Agra-Programm im Blick, das von Kofi Annan, dem ehema­ligen Generalsekretär der Uno, unterstützt wird. Ähnliche Pläne hat die EU, deren Programm zur Ernährungssicherung für die Jahre 2007 bis 2010 vorsieht, 55 Millionen Euro in die Erforschung und Verbesserung von Vermarktungsstrukturen sowie in die Qualitätskontrolle von Nahrungsmitteln zu investieren.
Während beim G8-Gipfel über die Hilfe für Afrika palavert wurde, verabschiedete die Regierung in Kenia ein Gesetz, das ab Oktober Qualitäts­prüfungen für die Hersteller von Lebensmitteln vorschreibt. Auch lokale Erzeuger zahlen dann um­gerechnet 50 Euro. Wer sich die Gebühren nicht leisten kann, darf seine Produkte nicht vermarkten. Die Strafen bei Nichteinhaltung der Vorschrift, dafür ist Kenia bekannt, dürften hart ausfallen. Die neue Regelung wird den lokalen Handel mit den Produkten der Kleinbauern behindern, während die Agrarkonzerne keine Probleme haben, die Gebühr zu zahlen.