Zivile Opfer in Afghanistan

Afghanistan first: Kein Streit um zusätzliche Streitkräfte

Sowohl Barack Obama als auch John McCain befürworten eine Konzentration der US-Politik auf Afghanistan. Über zivile Opfer des Kriegs redet aber kaum jemand.

Die Zukunft Afghanistans hängt nach wie vor stark von der US-amerikanischen Politik ab, nicht allerdings davon, wer im kommenden Jahr die Wahlen gewinnt. Beide Präsidentschaftskandidaten haben sich auf die Fortsetzung der Kriegs­aktivitäten in Afghanistan auch für 2009 und da­rüber hinaus festgelegt. Der demokratische Kandidat, Barack Obama, hat schon zu Beginn des Vorwahlkampfs dafür plädiert, in Afghanistan konsequent zu sein. Er wirbt jetzt für die Verlegung von Kampfverbänden nach Afghanistan, die durch den von ihm befürworteten Rückzug aus dem Irak ermöglicht werden soll. Er macht sich für eine Konzentration der politischen, militärischen und diplomatischen Kräfte der USA auf die Auseinandersetzung in Afghanistan stark. Der republikanische Senator John McCain hingegen argumentierte bis vor kurzem noch für die Aufrechterhaltung des Status quo in Afghanistan, zumindest, was die Anzahl und Strategie der US- und Nato-Streitkräfte angeht. Die nötigen zusätzlichen Truppen sollten, so ­McCain, von den Koalitionsmitgliedern bereitgestellt werden.
Dieser Kurs entsprach bis vor kurzem auch der Politik des US-Präsidenten George W. Bush und des Pentagons. Doch nach den heftigen Kämpfen und Verlusten im Juni und Anfang Juli sind sowohl McCain als auch der Präsident selbst auf den Kurs Obamas eingeschwenkt. Nun ist mehr oder minder Konsens: Die etwa 66 000 Koali­tions­kräf­te sind zu wenig, und da mit einer maßgeblichen Aufstockung der Streitkräfte seitens der Nato-Bündnispartner nicht zu rechnen ist, müssten rund 10 000 weitere Soldaten für die US-Truppen bereitgestellt werden. Bevor er am vergangenen Wochenende Afghanistan besuchte, hatte Obama in Washington seine Strategie dargelegt: »Wir brauchen mehr Truppen, mehr Hubschrauber, bessere Geheimdienstinformationen und mehr zivile Unterstützung.« Dazu müsse die Pakistan-Politik der Regierung Bush geändert werden, insbesondere hinsichtlich der autonomen Gebiete östlich der afghanischen Grenze. Nach seinem Besuch in Afghanistan bekräftigte er seine Strategie der Konzentration auf den Afghanistan-Krieg.

Auch wenn sich Obama, McCain und der noch amtierende Präsident in der Zielsetzung einig zu sein scheinen, argumentieren sie doch unterschiedlich. Die Republikaner begründen ihre Pläne in Afghanistan mit einer voranschreitenden Befriedung im Irak in den vergangenen Monaten, weshalb die befürwortete Truppenverstärkung in Afghanistan mit einem Abzug von US-Truppen aus dem Irak einhergehen sollte. Auf diese Weise versuchen Bush und McCain, gerade auch den Irak-Krieg als Erfolg zu verbuchen. Obama hingegen bleibt bei seiner Analyse, dass die US-Regierung seit Beginn des Irak-Kriegs Afghanistan schlicht vernachlässigt habe, was man auch als Kritik am Irak-Krieg verstehen kann.
Dass man fast sieben Jahre nach dem Beginn des Krieges gegen die Taliban überhaupt über Truppenverstärkungen nachdenken müsse, ist Obama zufolge der Beweis für die Inkompetenz der Regierung Bush. Insbesondere der demokratische Senator und außenpolitische Experte Joe Biden, ein Verbündeter Obamas und möglicher Vizepräsidentschaftskandidat, ist in dieser Hinsicht ein vehementer Kritiker Bushs. Im Februar dieses Jahres nannte er die Situation in Afghanistan »den vergessenen Krieg«. Biden gehört neben den Senatoren Carl Levin aus Michigan und Bob Casey aus Pennsylvania zu den einflussreichsten demokratischen Politikern in Washington, die neben der Intensivierung der Kampfhand­lungen gleichzeitig eine Art »Marshallplan für Afghanistan« fordern. Auch in den Reihen der De­mokraten wird über eine Gesetzesvorlage zum Civilian Claims Act debattiert. Dieses Gesetz soll Hilfsprogramme für Opfer von US-Kampfhandlungen und deren Familien nicht nur zwingend machen, sondern auch entsprechend institutionell festschreiben. Allerdings ist es fraglich, ob die Gesetzesvorlage überhaupt in dieser Legislaturperiode behandelt wird.

Obwohl sich die Meinungen der Kandidaten zum Afghanistan-Krieg in den vergangenen Wochen angeglichen haben – normalerweise ein Zeichen dafür, dass ein Thema zu Wahlkampfzwecken nicht ausgeschlachtet werden wird –, hat der Krieg in der öffentlichen Debatte Konjunktur. Klare Mehrheiten wie beim Thema Irak, bei dem zwei Drittel der Bevölkerung den Krieg ablehnen und für den Abzug der US-Truppen sind, während nur eine Minderheit für die Fortsetzung des 2007 begonnenen »Surge« ist, gibt es hinsichtlich Afghanistans nicht. Die Zustimmung der US-Bevölkerung zum Afghanistan-Krieg sinkt zwar, doch einer Umfrage der Washington Post zufolge befürwortet immer noch knapp die Hälfte der Befragten das dortige Engagement. Über zivile Opfer allerdings wird außer von einigen NGO, einzelnen Demokraten in Washington und der linken Presse nach wie vor kaum geredet.
Doch fast jeden Tag gibt es in Afghanistan zivile Opfer des Kriegs zu beklagen. Anfang Juli sorgte ein Vorfall für besonderes Aufsehen, als bei einem Luftangriff eine Hochzeitsgesellschaft getroffen wurde und 47 Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, ums Leben kamen. Im ersten Halbjahr 2008 allein waren es über 700 Zivilisten, die durch die Bombardements und andere Kampf­handlungen der Nato-Streitkräfte sowie von den Taliban und ihren Verbündeten getötet wurden. Dazu kommen zahlreiche zerstörte Gemeinden, Familien und Existenzen. Angesichts dessen ist es für Sarah Holewinski, Direktorin der Campaign for Innocent Victims in Conflict (Civic), einer NGO, die sich für die Opfer von Kampfhandlungen weltweit engagiert, »nicht über­raschend, dass die Afghanen immer wütender werden, wenn sie und ihre Familien flüchten und mit lebensgefährlichen Verletzungen und dem Verlust von Angehörigen umgehen müssen«.

Um die Not der zivilen Opfer des Kriegs und deren Familien zu lindern, gibt es bereits seit 2003 das US-Hilfsprogramm ACAP. Jedoch sind für das Programm bislang nur 34 Millionen Dollar bewilligt worden. Die Isaf hat ein ähnliches Programm, den Post-Operations Humanitarian Relief Fund (POHRF). Doch nur wenige Nato-Mitglieder beteiligen sich finanziell daran. »Es ist wirklich an der Zeit, dass die internationalen Streit­kräfte die Unterstützung der zivilen Opfer des Krieges ernst nehmen. Jedes Land hat eine passende Ausrede dafür, dies nicht zu tun«, klagt Holewinski im Gespräch mit der Jungle Word. »Die Bundesrepublik Deutschland könnte und soll­te mehr für die zivilen Opfer in Afghanistan tun. Sie könnte Mittel für die Hilfsfonds zusagen«, so die Civic-Vorsitzende weiter. »Wir reden nicht über Unmengen von Geld. Polen hat für das POHRF neulich 50 000 Euro bereitgestellt.«
Unabhängig davon, wer nächstes Jahr US-Präsident wird, hat Holewinski für ihn diese Empfehlung parat: »Die Situation der zivilen Opfer muss von einem hochrangigen Beauftragten betreut werden. Auf den höchsten Ebenen der Regierung müssen Analysen der ›menschlichen Kosten‹ von Kriegshandlungen stattfinden – vor, während und nach jedem militärischen Engagement. Die Streitkräfte müssen neue Kampfmethoden entwickeln, die zivile Opfer vermeiden. Und wenn es zu zivilen Opfern kommt, dann müssen sie in einer koordinierten Weise entschädigt und unterstützt werden.« Dies scheint im Einklang mit der Politik der Demokraten zu sein: Der Krieg in Afghanistan soll auf jeden Fall fortgesetzt, die »Kosten« jedoch, welche die afghanische Bevölkerung zu tragen hat, sollen in den US-Etat und den Haushalten der Nato-Verbündeten internalisiert werden.