Die ehemalige Rotbrigadistin Marina Petrella soll nach Italien ausgeliefert werden

Sarkozys Pirouetten

Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat angekündigt, der Auslieferung der ehemaligen Rotbrigadistin Marina Petrella an Italien zuzustimmen. Zugleich fordert er Gnade für die schwerkranke Frau.

Man könnte es als einen Versuch zur sprichwörtlichen Quadratur des Kreises bezeichnen. Präsident Nicolas Sarkozy kündigt an, er werde das Dekret zur Auslieferung der ehemaligen Linksterroristin Marina Petrella an Italien unterzeichnen, aber gleichzeitig ein Gnadengesuch für sie an seinen Amtskollegen Giorgio Napolitano richten.

Durch das Gnadengesuch erkennt Sarkozy indirekt an, dass die frühere Rotbrigadistin Petrella ihre Auslieferung mutmaßlich nicht – oder nicht lange – überleben dürfte. Gleichzeitig müsse das Gesetz Gesetz bleiben, tönt Sarkozy. Und um »ein Recht auf Gnade, auf Vergebung« zu erlangen, müsse man »erst repentance üben«. Dieser Begriff bedeutet im Französischen so viel wie »Reue« und bezeichnet im Zusammenhang mit ehemaligen politischen, bewaffneten Aktivisten das öffentliche Abschwören. Der ehemalige Staatspräsident François Mitterrand hatte im November 1985 auf der 65. Tagung der altehrwürdigen links­liberalen Liga für Menschenrechte (LDH) versprochen, es werde keine Auslieferung von ehema­ligen italienischen Linksterroristen an Italien geben, sofern sie den bewaffneten Kampf eingestellt hätten. Über 15 Jahre lang haben die französischen Regierungen dieses Versprechen respektiert.
Seit dem Regierungswechsel im Frühjahr 2002 allerdings, der die Rechtskonservativen an die Macht brachte, hat die französische Regierung nun­mehr klar mit dieser Staatsdoktrin gebrochen. Im August 2002 ließ die damalige Regierung unter Jean-Pierre Raffarin den früheren Rotbrigadisten Paolo Persichetti völlig überraschend an Italien ausliefern. Dem war ein Auslieferungsbegehren voraus gegangen, das der damalige Justiz­minister Silvio Berlusconis, Roberto Castelli von der rechtspopulistischen Partei Lega Nord, an Frank­reich gerichtet hatte. Auch nach dem Regie­rungswechsel in Italien, als zeitweilig eine Mitte-Links-Regierung unter Romano Prodi die Staatsgeschäfte führte, hielt Italien an seinem Kurs fest, die Auslieferung von in Frankreich lebenden ehemaligen Terroristen und ehemaligen militanten Linken zu fordern. 2006 präsentierte die italienische der französischen Regierung offiziell eine Liste mit 14 Namen. Im selben Jahr sorgte die Affäre um Cesare Battisti für Aufsehen: Der Kriminalschriftsteller und frühere bewaffnete Aktivist wurde von der französischen Regierung zur Auslieferung bestimmt, die Justiz bestätigte den Auslieferungsbefehl – doch Battisti konnte sich der Inhaftierung durch Flucht an einen zunächst unbekannten Ort entziehen. Allerdings wur­de er im April vergangenen Jahres in Brasilien gefasst und dort festgenommen (Jungle World 13/07). Seitdem sitzt er in einer brasilianischen Gefängniszelle, während die Untersuchung des Auslieferungsgesuchs bislang noch nicht abgeschlossen ist.
Nun also trifft es Petrella. Die heute 53jährige war in den frühen achtziger Jahren ein Führungs­mitglied der Roten Brigaden (BR) im Raum Rom. Italien befand sich damals – seit Mitte der Siebziger – in einem »Bürgerkrieg niedriger Intensität«, wie es der Vorsitzende einer parlamentarischen Untersuchungskommission, Giovanni Pellegrino, später formulierte. Die Roten Brigaden werden für fast 15 000 Anschläge in den siebziger und acht­ziger Jahren verantwortlich gemacht. Mehr als 400 Menschen kamen in der Zeit bei Attentaten ums Leben. Auf der einen Seite stand der Staatsapparat, der in diesem »schleichenden Bürgerkrieg« oft in Verbindung mit Mafia, Geheimdienst und neofaschistischen Gruppen agierte. Auf der anderen Seite befand sich eine radikale Linke, die in ihren Hochzeiten über eine Million Sympathisanten hatte und aus der eine Reihe bewaffneter Gruppen und Grüppchen hervorgingen.
Um mit ihnen fertig zu werden, verabschiedete der Staat Sonder- und Ausnahmegesetze. Insgesamt 60 000 Personen wurden in jenen Jahren im Zusammenhang mit so genanntem Linksterrorismus angeklagt, 5 000 von ihnen wurden ver­urteilt.

Petrella wurde 1982 in Rom verhaftet. Ihr wurde vorgeworfen, an der Entführung des Richters Giovanni D’Urso beteiligt gewesen zu sein und aufgrund ihrer Führungsrolle in der Truppe die Mitverantwortung für fünf bewaffnete Angriffe zu tragen. So soll sie u.a. die Tötung eines Polizeikom­missars, dessen Fahrer dabei verletzt wurde, im Jahr 1981 mitorganisiert haben. Nach ihrer Festnahme blieb Petrella acht Jahre in Untersuchungs­haft, was damals die unter den Ausnahmegesetzen zulässige Höchstdauer war. Danach musste sie freigelassen werden und konnte so als freie Person, die aber unter Justizkontrolle stand und Meldeauflagen erhalten hatte, zu ihrem Prozess erscheinen. Als das Urteil im Mai 1993 fiel, hatte sie sich dem Zugriff des italienischen Staats ent­zogen.
Sie war kurz zuvor in Paris eingetroffen und hatte sich bei den dortigen Behörden gemeldet. Mit Dokumenten, die ihre Identität belegten, und einer Fotokopie von François Mitterrands Re­de aus dem Jahr 1985 erschien sie auf der Polizeipräfektur. In Frankreich gab man ihr zu verstehen, dass nichts gegen sie vorliege, und erteilte ihr eine Aufenthaltserlaubnis. Sie lebte also völlig legal, machte eine Lehre als Landschaftsgärtnerin, heiratete den algerischstämmigen Franzosen Ahmed Merakchi und arbeitete später als Sozialarbeiterin. In einem »Problemviertel« in der Pariser Vorstadt Argentueil, wo sie mit ihrem Ehemann lebte, war sie unablässig bemüht, die Jugendlichen davon zu überzeugen, dass das Anzünden von Autos keine sozialen Probleme löst.
Auch im Jahr 2002, als unmittelbar nach der Auslieferung von Persichetti plötzlich drei Zivilpolizisten vor ihrer Tür standen und Computerfestplatten sowie Handys untersuchten, wandte sie sich offiziell an die Behörden. Im Rathaus versicherte man ihr, dass nichts an ihrer rechtlichen Situation zu beanstanden sei. Aber im August 2007 war es soweit: Anlässlich einer Vorladung auf eine Polizeiwache wegen eines Problems mit dem Fahrzeugschein ihres Autos, das sie ein Jahr zuvor verkauft hatte, wurde sie befragt, ob sie »Waffen in der Wohnung« habe. Sie verneinte. Aber das Gespräch nahm schnell ei­ne ungute Wendung. Ihr wurden im Beisein von Mann und Tochter Handschellen angelegt. Seitdem sitzt sie in Haft.

Am 9. Juni unterzeichnete die Regierung von Ministerpräsident François Fillon dann das Auslieferungsdekret. Petrella interessierte das alles zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr: Sie sitzt seit Monaten teilnahmslos in der Zelle und stirbt langsam vor sich hin, so die Ärzte. Seit Beginn ihrer Inhaftierung hat sie über 20 Kilogramm ab­genommen. Gerade am vorletzten Wochenende befand ihr behandelnder Arzt, sie befinde sich nun in »akuter Lebensgefahr«. Ein medizinisches Gutachten des Gefängnisarztes von Fresnes vom 11. April spricht von »gravierender Depression, moralischem Schmerz, extrem präsenten Todesvorstellungen, psychosomatischen Angstzuständen, dem Gefühl einer definitiv verbauten Zukunft, einer offenen und beunruhigenden Selbstmordgefahr«. Die Regierung blieb jedoch da­bei: »Sofern ihre körperliche Verfassung es zulässt«, sagte Justizministerin Rachida Dati, müsse Petrella an Italien ausgeliefert werden.
Am Rande des G8-Gipfels im japanischen Toyako verkündete Sarkozy jedoch, er habe mit dem italienischen Regierungschef Berlusconi über den Fall Petrella gesprochen. Er werde ihn bitten, erklärte Sarkozy, sein Gesuch für eine möglichst rasche Begnadigung Petrellas an den italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano weiterzuleiten. Dieser allein kann eine solche Entscheidung treffen. Allerdings hat das italienische Präsidentenamt sich beeilt, seinerseits zu kommentieren, man sei »verärgert« über das Verhalten Sarkozys. Am 9. Mai dieses Jahres hatte Na­politano anlässlich des italienischen »Gedenktags für die Terrorismusopfer« vehement jene Terroristen kritisiert, »die manche öffentliche Büh­ne nutzen, um ihre Sicht der damaligen Ereignisse darzustellen«.
In den letzten Jahren zeichnete sich in Italien eine Praxis ab, wonach ehemalige Linksterroristen nur dann begnadigt werden, wenn sie zuvor bereits mindestens einen bedeutenden Teil ihrer Strafe abgebüßt haben. Napolitano hat in seiner Amtszeit nur einen ehemaligen bewaffneten Linken begnadigt, weil er schwer krank war: Ovidio Bompressi, dem zur Last gelegt wurde, 1972 den Polizeikommissar Luigi Calabresi getötet zu haben. Aber der Beschluss zu dieser Begnadigung war von Napolitanos Vorgänger getrof­fen worden, und der jetzige Staatspräsident hatte sich damit begnügt, die Urkunde des Gnadenakts zu unterschreiben.
Sarkozys Gnadengesuch könnte also vorläufig ignoriert werden. Es handelt sich ohnehin »nur um eine weitere Pirouette Sarkozys, um nicht als Henker dazustehen«, kommentiert Petrellas fran­zösische Anwältin Irène Terrel ihrerseits diese Episode.